Post-Antons Haus

Wilma Herzog. Gerolstein

Die Kindheit hätten wir Geschwister nirgendwo schöner verbringen können, als in jenem alten Haus in Gerolstein. Es liegt an der Hauptstraße, sein gerundeter Vordergiebel trägt die Hausnummer 61. Eine breite Treppe führt zu ihm hinab. Wie das Gebäude anfangs aussah, wissen wir nicht, dessen Jahreszahl 1747 noch im Sturz über der ehemaligen Haustür, jetzt einem Fenster, im roten Sandslein zu sehen ist. Man darf davon ausgehen, dass die schweren Bruchsteine des Mauerwerkes von der Löwenburg und ihren Befestigungsanlagen stammen, deren Schutt damals eine gebräuchliche Quelle für Baumaterial war. Durch späteren An- oder Umbau erhielt das Haus einen anderen Eingang, der noch heute genutzt wird. Über dieser Tür stehen die Initialen des damaligen Umbauers: J A und die Jahreszahl 1822, dazwischen ein geteiltes Herz. 1863 erwähnen Urkunden erstmals als Postillion den dreiundzwanzig-jährigen Juden Balthasar Antonius, der zunächst als Knecht bei einer Gerolsteiner Familie beschäftigt ist. Er wohnt in diesem Haus und als er sich drei Jahre später taufen lässt, nimmt er offiziell den Namen Anton als Familiennamen an. Von diesem Mann leitet sich der Hausname: »Postanton" ab. Mag sein, dass Dr. Viktor Baur aus Daun ihm die folgende Ballade widmete:

Der Anton war lange schon bei Jahren, da wurde er pensioniert, er hat viel Jahrzehnte gefahren, was an Eifelposten kursiert. Gestrafft saß er hoch auf dem Bock, die Zügel fest in der Hand, fuhr er mit Peitschenknalle Strassfort von des Amtes Haus, bei hellautem Posthornschalle trabt er zum Städtchen hinaus. Und kam er des Abends dann wieder zurück mit heiterem Sinn, dann klang durch die Täler hernieder seines Posthorns Weise dahin. Nun trugen sie ihn zu Grabe, hoch neunzig Jahr ward er alt, da klang ihm als letzte Gabe ein Hornlied, das jämmerlich schallt. Es konnte ja keiner mehr blasen die Weise so schön und hehr, wie er. der unter dem Rasen hinlag und hörte nichts mehr. Ein Amtsrat sprach lobende Worte dem letzten Postillion im Zylinder mit Trauerborte von der Oberpostdirektion. Dahinten aus blankestem Gusse heilpfeifend ein Züglein hinzieht, und ratternde Eifelbusse, sie hupen das Sterbelied.

»Postantons-Haus» lag zu dessen Lebzeit noch näher an der Hauptstraße. Als aber in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Chaussee von Lissingen durch den Flecken gebaut wurde, erhielt es seine jetzige, tiefere Lage.

Anfang der 30er Jahre kam das Gebäude in schadhaftem Zustand in den Besitz meiner Eltern, die mit Hilfe von Christian Schwarz eine gründliche Renovierung vornahmen. Es gab zwar schon fließendes Wasser im Flur des Hauses, auch einen funktionsfähigen Backofen fanden meine Eltern vor, im Bereich rechts hinter der älteren Haustür. Er reichte aus für ein Dutzend große Brotlaibe. Da aber Wohnraum wichtiger war, wurde er entfernt und ein kleines Zimmer entstand an seiner Stelle. Trotz vieler Umänderungen blieben in den Zimmern die Nischen mit Türchen unter den Fensterbänken vorerst erhalten, weil sie immer noch praktisch waren. In zwei deckenhohen Wandschränken gab es jeweils eine Klappe in der Mitte. Alte Nachbarn erkärten uns, dass man früher aus Platzmangel darin Säuglingen die Bettchen richtete.

Wir ließen die von vielen Farbschichten unansehnlich gewordenen Wandschränke entfernen und nutzten ihre Nischen zur Einrichtung von Wasch- und Spülbecken. An den entgegengesetzten Lagen der unterschiedlich breiten Bodendielen und Deckenbalken waren damals die Umrisse der früheren winzigen Zimmer noch genau zu erkennen, ehe aus zweien eins wurde.

Von der Mühlenstraße aus gelangte man zum Stall, dem untersten Teil des Hauses, wo sicherlich auch der Postillion die Pferde hielt. Gegenüber der Straße lag die alte Scheune aus Lehmfachwerk, sie wurde bei den Bombenangriffen 1944 völlig zerstört. Unser Haus verfügte bis dahin noch über eine Rarität, eine zweigeteilte eichene Haustür mit handgeschmiede-

tem Schloss, sie war recht niedrig gewesen. Beim Wiederaufbau des Giebels wurde die Türöffnung vergrößert und mit einem Oberlicht versehen. Von der Behörde war das Haus 1944 aufgrund erheblicher Bombenschäden zur Abrissruine erklärt worden. Das amtliche Dokument, an die Ruine genagelt, verbot jegliches Betreten. Dadurch ließ meine Mutter sich nicht entmutigen, sie wollte uns das eigene Dach über dem Kopf erhalten, denn die damaligen Umstände ließen erkennen, dass wir ohne die Rettung von »Postantons«-Haus nie zu einem anderen, eigenen Haus kommen würden. Allein dieser richtigen Einschätzung der Lage, Mutters Mut und zähem Ringen ist zu verdanken, dass das Haus heute noch steht. Dabei standen ihr außer etwas an Barem hauptsächlich Ziegenmilch und -butter nebst Gemüse und Obst aus dem Garten als Zahlungsmittel zur Verfügung. Der einzige Mensch, der meiner ratsuchenden Mutter Hoffnung machte, war ein entfernter Verwandter, Jakob Hens, aus Wallenborn, der dort seine kleine Sägerei betrieb. Er sagte ihr, wie sie den Wiederaufbau anpacken sollte und versprach, das Bauholz zu liefern. Er gab ihr den Tip, einmal in Weidenbach anzufragen, vielleicht wäre dort noch genug Blech zur Dacheindeckung zu bekommen. In jener Zeit gab es statt Baumärkte, Bus- und Telefonverbindungen jede Menge Erfindungsgeist, Improvisationstalente, viel persönlichen Einsatz und Hilfsbereitschaft. Also machte meine Mutter sich hoffnungsvoll zu Fuß auf den Weg nach Weidenbach. Im Netz trug sie eine Kostbarkeit, eine Art Überzeugungshilfe, den letzten aus unserer Räucherkammer geretteten Schinken. In Weidenbach hatte sie Glück, denn sie traf den Geschäftsmann tatsächlich an. Er saß beim zweiten Frühstück. Aber als Mutter den prächtigen Schinken sah, von dem er sich dicke Scheiben schnitt, sank ihre Hoffnung ins pure Nichts; sie schickte ein dringendes Stoßgebet zum Himmel. Welches ihrer Mittel schließlich wirkte, blieb bis heute ungeklärt. Sie ging den langen Weg heim mit der festen Zusage für eine ausreichend große Lieferung Blech. Mit dem Weidenbacher Blech und Wallenborner Holz bekam unser Haus wieder ein stabiles Dach. Genau wie Jakob Hens es vorausgesagt hatte, mit dem Dach war »Postantons-Haus« außer Gefahr, gerettet, kurz vor seinem 200. Geburtstag. Danach war noch manche Hürde auf recht abenteuerliche Weise zu überwinden. Als Maurer stellten sich Männer zur Verfügung, die vorher noch nie einen Stein auf den anderen gesetzt hatten; als Geschäftsleute hatten sie das nicht nötig. Aber kurz nach dem Krieg war alles möglich. Franz Tücks und sein Vater wollten uns als Nachbarn weiterhelfen. Hilfsbereitschaft war ihr Meisterbrief, der zählte und so wurden sie Maurer. Sie waren geschickt, improvisierten und schafften so gut, dass bald Schreinermeister Wirtz die Fenster herstellen und einsetzen konnte. Zwar waren die Scheiben undurchsichtige Kriegsware, aber die Zimmer wurden hell. Als die Wände verputzt waren, gab es nirgends Tapeten, doch in Gerolstein brannte Christian Schwartz oberhalb der Kirche Kalk. Der genügte zum Kalken der Zimmer. Malermeister Gierden rollte den weißen Untergrund mit einem zartgrün oder gelb getönten Blütenmuster und schloss es zur Decke mit einer gemalten Bordüre ab. Wir konnten nicht erwarten, bis Mutter den Umzugswagen organisiert hatte. Auf dem offenen LKW mit den wenigen geretteten Habseligkeiten fuhren wir wie Sieger vom Dorf zurück nach Gerolstein, unter »Postantons» Dach. Als wir am ersten Abend die Dampflok auf dem Gerolsteiner Bahnhof hörten, war es das endgültige Signal, endlich heimgekommen zu sein. Es gab kein zuversichtlicheres Geräusch, als das Rattern der Bahn, es war die Musik zur Rückkehr in die Normalität. Die undurchsichtigen Fensterscheiben wurden irgendwann mit je einer Raute normalem Glas pro Fenster ersetzt und wir waren sehr zufrieden, an dieser Stelle wieder hinaussehen zu können. Alles ging damals nur mit winzigen Schriltchen voran. Irgendwann waren alle Rauten aus echtem durchsichtigem Glas. Von niemand erwarteten wir Hilfe, stellten keinen Anspruch an andere auf Verbesserung unserer Lage. Nicht auf den großen Mangel an Notwendigem richtete sich damals der meisten Menschen Blick, sondern mit Freude und Stolz auf jeden kleinen, selbst erkämpften Fortschritt, der das Gefühl der Zuversicht gab, irgendwann, irgendwie der schrecklichen Kriegszerstörungen Herr zu werden.

Das Blechdach bewährte sich, es hielt durch mehrmaliges Sireichen bis 1970, dann ließ es meine Mutter durch Kunstschiefer ersetzen. Viele notwendige Maßnahmen der Nachkriegszeit wischten zwangsläufig alte Spuren aus. Die Deckenbretter, die breiten eichenen Fußbodendielen waren fort, auch die sehr alten schwarz- bei gen Fliesen im Flur, an denen man sah, dass dieser Raum einst als offene Küche diente. Die ungeflieste Ecke gab früher deutlich die Lage der offenen Herdstelle zu erkennen. Mächtige, rauhbehauene Eichenbalken trugen die Decken der oberen Räume. Die zerborstenen Innentüren waren durch neue und höhere ersetzt. Doch die Außentür zum Keller blieb niedrig. Man musste sich schon tief bücken, dass man durch kam, dann gings direkt ein paar Stufen tiefer. Selbst im heißesten Sommer war es hier so kühl, dass wir nie einen Kühlschrank entbehrten. Ein solch altes Haus besitzt etwas, das man in neuen vergeblich sucht. Es barg Generationen von Menschen in seinen Herzkammern und gab ihnen Heimat. Daher ist ein altes Haus lebenserfahren und weise, es kennt leere Brotschränke so gut wie Kinderlachen und heimlich geweinte Tränen; es kennt das Leben und Sterben von Generationen. Es weiß um Kriegsnot, schmerzvolle Trennungen und manchmal auch um eine glückliche Wiederkehr. An den Spuren früherer Bewohner lehrt ein altes Haus die neuen mit eindringlicher Deutlichkeit, dass auch ihr Verbleib nur eine gewisse Zeitspanne dauern wird, bis andere sie ablösen. Als Kind fragte ich meine Mutter, wer wohl die Leute waren, die die Treppe nach oben so ausgetreten hatten. Wir Kinder rätselten, ob andere Kinder vor uns in der Treppennische der Gottesmutter auch Maialtärchen gemacht hatten. Als ich in diesem alten Hause Kind war, wünschte ich mir sehnlichst, einen Holzpfropfen in einem der Eichenträger zu entdecken, dahinter ein Pergament mit eigentümlicher Schrift hervorzuziehen, das mir vom Schicksal eines früheren Bewohners berichtete. Wurde vor der Zerstörung 1944 neu tapeziert, untersuchte ich die dicken Lagen altertümlicher Tapeten vergeblich und hoffte, auf unteren Färb an st riehen eine Zeichnung, vielleicht sogar ein paar Worte, irgend etwas, was ein Kind, das in diesen Zimmern einst lebte, aufgemalt hatte, zu finden. Aber unser Haus blieb stumm. Bis es eines Tages die alte Öllampe aus dem festgestampften Lehmboden des niedriggewölbten Kellers freigab. Irgenwann wurde sie fortgeworfen. So reihten sich Tage zu Jahren und Jahre zu Jahrzehnten. Meine Eltern starben, wir Geschwister zogen fort. Aber »Postantons-Haus« blieb, 1997 beging es seinen 250. Geburtstag. Mögen seine heutigen und zukünftigen Bewohner in Frieden darin leben.