Mitten im kalten Winter...

Karl Schwill, Hillesheim

"Heute hat der Lehrer uns in der Schule eine •wahre Geschichte' erzählt«, empfing mich mein Sprößling am Nachmittag. »Von einem kleinen Jungen, der von zu Hause weggelaufen ist und an der Krippe gebetet hat.«

Einige Tage später begegnete ich dem Lehrer, und es fügte sich, dass er mir die »wahre Geschichte« selbst erzählte.

Wir saßen in der Ecke eines kleinen Caf6s, ungestört, und plauderten zunächst über belanglose Dinge, über die Kinder, über die Schule. Schließlich war mein Gegenüber beim Thema, das mich doch so sehr interessierte.

»Es war in den Kriegsweihnachtslagen 1941«, erzählte er. »Damals war der Winter sehr streng, mit Frost und viel Schnee, wie wir ihn heute selten haben. Vielleicht erinnern Sie sich. Für uns Kinder war das eine feine Sache. Aber unsere Soldaten in Russland mussten bis zu 52° C Kälte ertragen. Im Nordabschnitt wurden sogar 56" C Kälte gemessen.« Er schwieg eine Weile, und ich störte ihn nicht. »Eines Nachmittags in diesen Weihnachtstagen war der vierjährige Junge einer hm... Familie verschwunden. Ja, ich kannte diese Familie recht gut", ergänzte er auf meinen fragenden Blick. »Auch sie sorgte sich um den Vater, der in Russland war. Und nun diese neue Sorge, ausgerechnet an den Weihnachtstagen: Der Junge! Er war einfach nirgends zu finden. Seine Mutter und die beiden älteren Brüder waren in hellster Aufregung. Schon schimpfte die Mutter mit den beiden: »Warum passt ihr nicht besser auf ihn auf? Warum lasst ihr ihn allein? Bitte, geht ihn noch einmal suchen! Der Junge kann doch nicht einfach weg sein!« Große Angst hatte sie befallen.

Die Jungen kamen u n verrichtete r Dinge wieder zurück. Sie ließen die Köpfe hängen: »Wir haben ihn nicht gefunden. Wir wissen nicht, wo wir noch suchen sollen. Ob wir mal zur Polizei gehen?« - »Die Polizei! Die Polizei-! rief die Mutter verzweifelt. »Es ist doch gleich vier Uhr, und es wird schon dunkel!« Sie lief in der Wohnung hin und her. »Wenn ich doch nur wüsste, was ich machen soll«, jammerte sie. »Lieber Gott, was soll ich nur machen« rang sich ein Stoßgebet von ihren Lippen. »Wo mag der Junge nur sein?« Sie griff zum Mantel. Da klingelte es. Einer der Jungen öffnete. "Mensch, komm du bloß rein«, wurde der Kleine ungnädig begrüßt. Da stand er nun mit rotgefrorenem Naschen und mit rotblauen Bäckchen. Die Hände in den Taschen des Mäntelchens vergraben. Der Mutter fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. Doch fragte sie streng - und man hörte noch die Angst aus ihren Worten: »Wo warst du? Wo kommst du jetzt her?« Und der Kleine schaute seine Mutter aus seinen blanken Augen an, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Ich war in der Kirche, an der Krippe. Ich habe doch beim Christkind für Papa gebetet, dass er aus Russland wieder nach Hause kommt!« Und die Mutter - weinend umarmte sie ihren kleinen Jungen und küsste und herzte ihn. »Nun wird der Vater bestimmt wiederkommen", schluchzte sie. "Warum weinst du denn jetzt?« fragte der Kleine seine Mutter. »Ach, nur so-, sagte die Mutter. »Manchmal weint man auch aus Freude.« Und sie wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht.

Und später erfuhr die Mutter von Nachbarn, dass diese dem kleinen Jungen bei der Kirche begegnet seien. Sie hatten ihm die schwere Tür geöffnet, und der Kleine hat wirklich eine volle Stunde in der kalten Kirche an der Krippe gekniet. Dann haben andere Frauen ihn aus der Kirche wieder herausgelassen.

Nach einer stillen Weile fragte ich: »Und was ist aus dem Vater geworden?« - »Der Vater ist bald darauf von Russland in den Westen gekommen. Er hat den Krieg heil überlebt. Ja, er lebt heute noch, während ich Ihnen das erzähle.«

»Sagen Sie«, fragte ich, neugierig geworden,

»Sie erzählen die Geschichte mit soviel warmer Anteilnahme und so genauen Einzelheiten - wie sind Sie dazu gekommen?« Er schwieg eine Weile; ich störte ihn nicht. Denn während er vor sich auf den Tisch schaute, fühlte ich, dass sein innerer Blick weit zurück in die Vergangenheit ging. Schließlich ermunterte ich ihn: »Und die Familie?« Dann schaute er auf, und, während sein Blick aus weiter Ferne zurückzukommen schien, sagte er leise und noch ein wenig versonnen: »Ja, ich war dabei. Ich selbst habe ihn gesucht. Unseren kleinen, frommen Beter vor der Krippe. Er ist mein jüngster Bruder.«