Altweibersommer

Theodor Weißenborn, Landscheid

Es ist nichts zu tun. Ich habe die Hände in den Schoß gelegt, sitze, in eine Decke gehüllt, am offenen Fenster und schaue hinaus in die Welt. Es ist die Stunde der leuchtenden Farben vor Sonnenuntergang, da die Hausgiebel aufflammen wie Berggipfel, im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne, die noch spürbar wärmt, wenn auch mild, während ein kühles Lüftchen ums Haus streicht, das sein Spiel treibt mit den schwingenden Ranken des Efeus. Es ist der Abend, der eine, bestimmte, im Herbst 75. Wir haben das Ferienhaus gekauft, und ich erkunde die Landschaft, gehe auf dem besonnten verwilderten Steig oberhalb der Fahrstraße hinunter ins Tal, am Steilhang des Raskoper Bergs entlang, stolpere über Steine, die versteckt unter Grasbüscheln liegen, stapfe hinweg über schon faulenden Farn, trete Dornenranken nieder und wische mir die Spinnenfäden vom Gesicht, die im kühlen Wind herüberwehn von den Ginsterbüschen am Hang. Im Tal drunten liegt der Raskoper Hammer, wo zwei Bäche zusammenfließen, ein größerer, gemächlich fließender, der schon eher ein Flüsschen ist, die Lieser, und ein kleinerer, die Sülz, der mit starkem Gefalle in einem Seitental herabkommt. Dieser hat den Hammer getrieben, noch vor hundert Jahren, und der Hammer hat Silber geschmiedet, damit ist es nun aus.

Oberhalb der Brücke an der Landstraße, die sich an einer Felswand dahinwindet und am Hammer vorbei nach Hederich führt, steht eine Zeile alter Wohnhäuschen. Die Häuschen stehen in Trauf Stellung, und man denkl erst, dies ist ein langer Stall gewesen für Pferde. Aber Menschen haben hier gewohnt, denn wenn du vom schmalen Gehsteig der Straße aus durch eine der noch u n zerbrochene n Fensterscheiben ins Innere hineinblickst - du musst dich bücken dabei, denn die Straße ist höhergestiegen seit dem Bau der Häuser, und die Häuser sind, wenn auch nur scheinbar, ins Erdreich gesunken -, so siehst du in einen langen Flur, der sich von Haus zu Haus längs der Straße dahinzieht und von dem zahlreiche Türen in winzige Zimmerchen führen, deren Fenster auf der Rückseite der Hausreihe auf einen Hof hinausgehn.

Die Zimmer sind leer bis auf ein wenig Gerumpel -. Eine Waschmuschel steht am Boden, sie ist mit Blumen bemalt, du siehst das Ende eines eisernen Bettgestells und einen Kleiderhaken, an dem etwas hängt, das aussieht wie eine Lederschürze.

Am Boden neben einer der Türen lehnt eine hinter Glas gerahmte Urkunde. Das Glas ist zersprungen, vielleicht ist das Dokument von der Wand gefallen, weil der Nagel durchgerostet war, der es hielt, und jemand hat es aufgehoben, gelesen und dort hingestellt, wo es nun steht. Und im Licht der tiefstehenden Sonne, die seitlich meiner Schulter ins dämmrige Innere des Flurs scheint, lese ich den Text der Urkunde, der von Weinlaub umkränzt ist und lautet: »Dem Winzergehülfen Johann Christoph Adams, geboren den 8. Junius 1816, wird hiermit zum Dank für 50 Jahre auf dem von Heegmannschen Weingute treu geleistete Dienste verliehen: Eine silberne Uhr mit Kette. Cochem, den 17. September 1886.« Da reißt mich die Erinnerung von hier weg und fort nach Gunterode, und ich sehe den hüstelnden, kahlköpfigen, ledigen, über dem Kuhstall schlafenden Knecht Anders, den ich als Kind besuche in seiner gekalkten Kammer, wo ein Herz-Jesu-Bild und die Totenzettel seiner Eltern an der Wand über seinem Bett hängen, und ein halbes Jahr später wird der Anders zu Grabe getragen, denn man hat festgestellt, dass der Viehbestand mit TB verseucht war, und der Anders war der Infektionsherd, so wurde seine Krankheit entdeckt, aber da war es zu spät. Und wieder am Hammer, setze ich meinen Weg fort längs der Zeile der Wohnhäuser, umgehe einen verwilderten Gemüsegarten, in dem lange nichts mehr gepflanzt und geerntet worden ist, gelange ohne Mühe durch ein offenstehendes Tor ins Innere eines Hofs, der im Schatten der Häuser und riesiger Walnussbäume liegt. Da ist eine Brandstelle neben einem umgestürzten Stapel von Dachziegeln, Asche hat den Boden geschwärzt, wurde verweht, und die Reste halb verbrannter, angesengter Papiere kleben ringsum am Boden, oder sie sind, mit dem Wind segelnd, geflüchtet in ein Brennesselfeld, das sich ausgebreitet hat am Fuß der Hauswand.

Ich bücke mich und hebe ein zerknittertes Blatt auf, in dessen Rand das Muster eines Spitzentüchleins gestanzt ist. Auf dem Blatt steht, mit verblasster Tinte und ungelenk, offenbar von Kinderhand geschrieben: "Glückselig sei das Neue Jahr 1843." Und wie ich das Blatt wende, sehe ich, dort hat das Kind mit seiner schönsten Schrift ein Gedicht aufgeschrieben, das lautet:

»Zum neuen Jahr ich singe Ein klein und traulich Lied, Und still mein Herz ich bringe, Drin Liebe hoch erglüht.

Nur das allein ich habe, Bin sonst ein armes Kind! O, nehmt die kleine Gabe Zum frohen Angebind.

Und schenkt dafür mir Liebe, Macht reich mein kleines Herz, Dass nie ich Euch betrübe, Dass nie ich bring Euch Schmerz.

O, lieber Vater droben, O, mach mich fromm und gut, Wie will ich dann Dich loben Mit kindlich frohem Muth.«

Der untere Teil des Blattes, etwa ein Drittel des Ganzen, ist verbrannt. Das Kind, das diese Strophen mit sperriger Stahlfeder, die sich bald da, bald dort verhakte, geschrieben hat, um seinen Eltern zur Jahreswende 1842/43 eine Freude zu machen, lebt schon lange nicht mehr. Es ruht bei denen, die es erfreut hat und die ihm vorausgegangen sind und jenen nachgefolgt sind, die sie selbst erfreut halten in ihrer Kindheit. Sie sind tot und haben nichts hinterlassen, das sichtbar wäre, außer diesem Blatt Papier, aus dem sich schließen lässt, dass sie gelebt haben, dass sie auf Erden waren, dass es sie gab, denn die Grabkreuze auf dem Friedhof in Herterich. da bin ich sicher, stehen schon lange nicht mehr. Sie sind jüngeren Kreuzen und Steinen gewichen, und auch die werden vergehen wie Amboss und Hammer und was dazwischengeriet, was geschmiedet wurde für eine vermeintliche Ewigkeit und doch gerostet ist und verschwunden wie ein Nagel in der Wand. Unter meinen Füßen höre ich ein Rauschen. Wasser tost hinter einem einzeln dastehenden verfallenen Fachwerkbau in die Tiefe - dies war wohl ein Holzschuppen -, und wie ich dem Rauschen nachgehe, führt es mich von der Ebene des Hofs eine Steintreppe hinab, die in einer Mauernische zu einem Rasenplatz hinuntergeht, seitlich eines Wasserfalls, der unter dem Hofplatz her aus einem finstren Gewölbe schießt. Das ist der Mühlbach, dessen Wasser in dem alten Gemäuer kaum Platz, kaum Durchlass finden, so ungestüm brechen sie hervor aus dem dunklen Schlund, und ihr Tosen hallt wider von der Felswand jenseits der Lieser, über die ein an Ketten hängender Steg führt, der im Wind leise schwingt, hin und her, und dem ich nicht traue. Ich bin wieder hier, in meinem Sessel am Fenster, und ich halte das Blatt mit dem Glückwunsch zum neuen Jahr 1843 in der Linken, das ich im Herbst 1975 am Raskoper Hammer vom Boden aufgehoben und seitdem in meiner Brieftasche verwahrt habe. Dieses Blatt habe ich der Asche, der Fäulnis und dem Grab entrissen - es ist wie ein Stückchen Unsterblichkeit.

Und wie ich die Augen schließe, jetzt und hier, sehe ich mich wieder an jenem späten Nachmittag im Herbst 75 unter den Walnussbäumen am alten Hammer stehn, in der Stunde des flammenden Lichts, in dem die orangefarben gestrichene Front der alten Wohnhäuser erstrahlt in einem satten, scheinbar aus dem Innern der Mauern strömenden Glanz - so vorzüglich gelang dem Maler die weiße Grundierung -, und in dem die tropfnassen Moose seitlich des Wasserfalls immerfort gewaschen werden und das Gewölbe über dem stürzenden Wasser schwarz dunkell - so scharf sind die Konturen der Licht- und der Schatten flächen. Und wie jetzt unter den blitzenden Strahlen der über dem Fels niedersinkenden Sonne Kühlung aufsprüht vom abfließenden Wasser unterm Fall und der Rasenplatz dunkelt unter den Bäumen - jäh trifft es dich da, das Gefühl: hier bin ich gewesen, vor sechzig Jahren und mehr, hier war's, wo ich gespielt habe als Kind, mit Siegbert und Roland und anderen Kindern, hier habe ich, allein zurückbleibend in der Dämmerung, mit Stöcken und Steinen nach den Nüssen geworfen, dass sie ins Gras purzelten, hier habe ich sie zwischen zwei Steinen geknackt und gegessen, hier bot das Tosen des stürzenden Wassers die Ausrede, die Stimme zu überhören, die mich ins Haus rief, hier war's, hier, hier war alles, was je gewesen ist und je sein wird, hier war aller Kinder Spielplatz, die je an dämmernden Abenden den Heimweg versäumten, durch die dunkelnden Gärten tollten und sich spät noch versteckten unter flüsternden Zweigen an murmelnden, raunenden Bachläufen, sich verloren, verliefen und wiederfanden zur Nacht.

Und es trägt mich hinfort durch Räume und Zeiten, Abenddämmerungen, Flußauen, Wälder, an Flüssen dahin, über neblige Weiden, durchs Unterholz, durchs Gesträuch und durch Gärten, die voneinander getrennt sind durch eine Fachwerkmauer - aber aus einem der Fächer ist die Füllung herausgebrochen, das lehmbeworfene Skelett aus eingeklemmten Stöcken, da steige ich aus Schreiner Hillmanns Garten gleich in den Gemüsegarten des Schlosses, laufe am Schafstall entlang, durchs Kamillenfeld, und nun über die Brücke und bin schon im Innenhof, an der Schießschartenmauer, wo ich dem Diener Reinhold zusehe, der die Jagdflinten putzt und an diesem Tag eine grüne Livree trägt, denn Djelleborg, der Superintendent, weilt zu Gast, da muss er bei den Mahlzeiten servieren.

Wenn ich's nicht immer gewusst, nicht geahnt hätte von Anbeginn an, so wüsste ich's jetzt, denn nun ist es gewiss; im Maße ich mich versenke in anderes Dasein, strömt das meine mir zu- im Maße der Wind mich entführt, kehreich heim, dorthin, wo mein Ich sich entgrenzt. An diesem liegt wenig, fast nichts - doch alles am Sein überhaupt. Darauf lass dich ein-und alles wird dir gegeben.