Auf Nimmerwiedersehen

Franz Josef Ferber, Daun

In ihrem langen Leben hatte sie nicht viel Glück gehabt, mit ihren beiden Lebensgefährten nicht und auch nicht mit all ihren Kindern. Sie hatte so ziemlich alles verloren, was ein Mensch verlieren kann. Das meiste hatte ihr dieser teuflische Krieg genommen, ihre Heimat und ihren ersten Ehemann, den sie liebte und nie vergessen konnte. Erzählt wird aus der Lebensgeschichte der Genovefa Seidl. Im Jahre 1903 kam Genovefa Bonkovska in Dorna, in der Bukowina/Rumänien, zur Welt. Dorthin waren einst ihre Vorfahren aus Deutschland eingewandert. In die Schule konnte sie nicht gehen. Daran, so erzählte sie, sei hauptsächlich der Erste Weltkrieg schuld gewesen. Kaum dass sie das ABC ein bißchen begriffen habe, sei die Schule geschlossen worden. Besonders in späteren Jahren, als sie allein stand, litt sie darunter, dass sie nicht lesen und nicht schreiben konnte.

Genovefa war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie den Maurer Josef Kubik heiratete. Ihre Ehe bekam den Segen der römisch-katholischen Kirche. Die junge Frau hatte ihrem Mann zwei Kinder geboren, die beide im Kindesalter starben. Der Junge, vierzehn Jahre alt, überstand eine Lungenentzündung nicht. Das zweite Kind, ein Mädchen, wurde nur zwei ein halb Jahre alt. Keuchhusten war die Todesursache. Von ihm schwärmte die Mutter noch im hohen Alter. Es sei ein Kind gewesen so schön wie ein Püppchen, mit blauen Augen und blonden, gelockten Haaren. Dann fühlte sich die leidgeprüfte Frau vom Glück verlassen. Sie wollte keine Kinder mehr bekommen. Trotzdem schenkte sie einem gesunden Jungen, dem Eugen, das Leben. Er sollte ihr ein und alles werden. Das war im Jahre 1936. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Josef Kubik in den Krieg geschickt. Er geriet in russische Gefangenschaft, 1950 kam er heim, war todkrank, sah aus wie viele Russlandheimkehrer; der ganze Körper vom Wasser aufgedunsen, so dass man überall Beulen ins Fleisch eindrücken konnte. Nach sechs Wochen ist er gestorben.

Schon in den ersten Kriegsjahren musste die Familie Kubik ihre Heimat, die Bukowina, verlassen. Sie wurde nach Österreich geschafft. Das geschah auf Anordnung der Nationalsozialisten. »Heim ins Reich« nannten sie diese Zwangsumsiedlungsaktion. Auch hier hatten die ihrer Heimat Beraubten keine dauernde Bleibe. Später ging es weiter, nach Oberschlesien. An diesem Zufluchtsort fühlte Frau Kubik sich nicht sicher. Im Januar 1945 machte sie sich vor den anrückenden russischen Soldaten aus dem Staub, in Richtung Österreich. Mit ihrem Jungen, dem Eugen, schloss sie sich einem Treck an, warf ihre zwei Koffer auf einen Bauernwagen, nahm das Kind an der Hand und ging hinterher. Es wurde eine abenteuerliche Reise, gekennzeichnet von Hunger, Kälte, Läusebefall und Übernachtungen in Ställen. Zwei ein halb Monate hatte sie gedauert.

In Österreich fanden die beiden nicht ihr Glück. Dort heiratete Witwe Genovefa Kubik ihren Landsmann, einen Witwer, den Leo Seidl. Sie wollte, dass ihr geliebter Sohn wieder einen Vater bekomme. 1952 wurden die drei aus Österreich nach Deutschland ausgesiedelt. Der Kreis Daun war zu ihrem künftigen Aufenthaltsort bestimmt worden. Zuerst wohnten sie in Meisburg in einer armseligen Wohnung, hernach in Daun. Aus dem Verhältnis des

Genovefa Seidl (rechts) als Gast bei einem Ausflug der Altenheimbewohner im Kreis Daun 1979 Foto: Chronik des Kreisaltersheimes Mehren

Stiefvaters zu dem Jungen ist nicht viel geworden, und die zweite Ehe war nicht glücklich. Frau Seidl beklagte es, dass Leo den Eugen nicht mochte. Sie litt sehr darunter. Der Junge erlernte ein ordentliches Handwerk in einer fernen Stadt, wo er später auch arbeitete. Dort wohnte er in einem Lehrlingswohnheim. Hin und wieder kam er nach Hause, seiner Mutter zuliebe. Sein Verhältnis zum Stiefvater blieb gespannt. Die beiden kamen nicht miteinander zurecht. Eines Tages war Eugen es leid und machte Nägel mit Köpfen. Er wollte seinen Stiefvater nicht mehr sehen, ging ihm endgültig aus dem Wege. Am Morgen des zweiten Weihnachtstages 1962 bat er seine Mutter, ihm Kaffee zu kochen. Den wolle er noch trinken. Danach werde er fortgehen und nicht mehr wiederkommen, solange sie mit »ihm«, dem Stiefvater, zusammen sei, sagte er. Es war keine leere Drohung, was Eugen seiner Mutter zu sagen hatte.

Er trank seinen Kaffee, nahm sein Bündel, sagte der Mutter Lebewohl und ging seiner Wege. Was nun folgte, war für die geplagte Frau eine Art Kreuzweg. Sie wurde ihres Lebens nicht mehr froh, verzehrte sich in Sehnsucht nach ihrem über alles geliebten Sohn. Tage und Nächte hoffte sie auf seine Wiederkehr oder wenigstens auf ein Lebenszeichen. Das bekam sie nur ein einziges Mal; im Frühjahr 1963 schrieb Eugen eine Grußkarte aus Köln. Seitdem suchte und suchte die alte Mutter. Dabei waren ihr viele Menschen und Dienststellen behilflich. Zuvorderst ist die Kreissozialamtschefin Helene zu nennen, die die einsame Frau bis zum Ende ihrer Tage persönlich betreute. An dieser Stelle lässt sich nicht annähernd beschreiben, was im einzelnen alles getan wurde, um die leidgeprüfte Frau wieder glücklich zu machen. Jahrelang wurden unzählige Anfragen gehalten, bei Privatpersonen, Einwohnermeldeämtern, Landes-

Eugen Kubik (vorne rechts) im Kreise seiner Kameraden. Foto: Akten der Kreisverwaltung Daun

Versicherungsanstalten, Auswanderungsämtern, beim Suchdienst des Roten Kreuzes und bei etlichen anderen Stellen. Auch die Medien (Zeitschriften und Radiostationen) kümmerten sich um das Schicksal der Frau Seidl. Verzweifelt wurde sogar eine Hellseherin bemüht. Es war eine außergewöhnliche Suchaktion. Jedoch, alle Mühe war umsonst. Das Bibelwort »Suchet, so werdet ihr rinden« ist in diesem Fall - dem Himmel sei's geklagt - nicht in Erfüllung gegangen. Zu keiner Zeit ist es gelungen, auch nur das geringste Lebenszeichen von dem Gesuchten zu bekommen.

Mittlerweile, im Jahre 1967, war der Stiefvater gestorben. Frau Seidl schöpfte erneut Hoffnung, Eugen werde nun wieder heimkommen. Aber er kam nicht zurück, nie mehr, weshalb, das weiß man nicht. Hatte er denn vom Tod seines ungeliebten Stiefvaters erfahren können? War er vielleicht in ein fernes fremdes Land ausgewandert? Oder war Eugen selbst nicht mehr unter den Lebenden? Keine einzige dieser Fragen konnte jemals beantwortet werden.

Mit zunehmendem Alter wurde Frau Seidl körperlich und geistig hinfälliger. Seit März 1981 wohnte sie im Altersheim »St. Martin« in Mehren und hernach im Seniorenhaus Regina Protmann in Daun. Am 14. März 1988 war der Herrgott dieser armen, unglücklichen, christgläubigen Frau gnädig. Er erlöste sie von allen ihren irdischen Leiden.