Heideröslein am Fließband

Ingeborg Freisinger, Bad Reichenhall

Wieder einmal zu Besuch in der Eifel nutze ich die Möglichkeit, die neuen Anlagen im Gerolsteiner Sprudel zu besichtigen. Mit Macht überfällt mich der Lärm, den die Maschinen und das Klirren der Flaschen auf dem Fließband verursachen, als ich die Füllhalle betrete. Nur wenn man nah bei dem Betreuer steht, kann man seinen Ausführungen folgen. Ich bin zu weit entfernt, um ihn zu verstehen. Doch das macht mir nichts aus, denn nun werden Erinnerungen wach an die Zeit, als ich selbst ein Fabrikmädchen »opp dem Spruddel« war. Wie hat sich doch die Atmosphäre der Füllhalle geändert! Wo sind hier in dieser Riesenhalle die Menschen? Da und dort kann ich einen entdecken. Ganz verloren sehen sie aus, wie sie hier und da einen Handgriff tun, Transportbänder und Maschinen beobachten, eine Maschine »bedienen« oder umgefallene Flaschen aufheben. Das war zu meiner Zeit (57/58) anders. Allein durch den Abfüllbetrieb einer einzigen Anlage konnten schon viele Personen beschäftigt werden. Zu zweit legten wir an der Spülmaschine das schmutzige Leergut auf, vier bis sechs Leute [je nach Geschwindigkeit der Füllmaschine) standen am Fließband und verschlossen per Hand die damals gebräuchlichen Hebelverschlüsse an den Flaschen, die die Füllmaschine ausspuckte..

Und an der Rollbahn, an der die gefüllten und etikettierten Flaschen in Kästen gehoben wurden, arbeiteten wir auch zu zweit oder zu viert. Außerdem stand bei jeder Maschine der entsprechende Maschinist, der ja heute auch noch gebraucht wird. Auch das Zubringen des Leergutes und das Wegbringen der gefüllten Kästen zum Lager wurde von Menschenhand geleistet. Heute geht alles vollautomatisch. Es scheint so, dass der Mensch nur noch ein Diener der Maschine ist. Es kommt mir vor, als stammten meine Erinnerungen aus einer anderen Welt. Hier, in dieser weiträumigen Halle, geht alles so schnell. Man kommt im wahrsten Sinne des Wortes »mit dem Schauen nicht mehr mit«. Wie viel weniger könnten Menschenhände bei dieser Geschwindigkeit mithalten!

Und doch mussten wir auch damals schon flink sein beim Einlegen, Verschließen und Einsetzen der Flaschen. Aber man stand nicht allein an seinem Platz. Man konnte miteinander sprechen. Und was mir heute noch im Ohr klingt: Wir sangen des öfteren aus voller Kehle. Ein- oder mehrstimmig erklangen am Fließband Lieder wie »Nun ade, du mein lieb Heimatland«, »0 Heideröslein« und was uns sonst gerade einfiel. Natürlich konnten wir nicht bei jeder Tätigkeit singen. Zum Beispiel strengte das Einstellen der vollen Flaschen in Kästen zu sehr an. Vor allem, wenn Limonade abgefüllt wurde. Denn da mussten die Flaschen erst noch gekippt werden, bevor sie in die Kästen kamen. Bei dieser Arbeit war singen kaum möglich. Außerdem mussten auch die Arbeitskameraden sangesfreudig sein, sonst konnte die »Singstunde« nicht stattfinden.

Ich sehe gerade, dass es den »Leuchter« auch noch gibt. Es sitzt jemand vor diesem erleuchteten Bildschirm und sortiert -wie früher - aus den vorbeizie-

henden gespülten Flaschen diejenigen aus, die beschädigt oder nicht ganz sauber sind, bevor sie mit dem Fließband in die Füllmaschine geschleust werden. Eine Einrichtung von damals jedoch ist ganz verschwunden; das »Stoppe«-Sortieren. »Stoppe« waren Schraubverschlüsse, die, mit einer Gummidichtung versehen, in den Flaschenhals hineingeschraubt wurden. Die beschädigten Stoppe oder Dichtungen mussten ausgemustert werden. Gewöhnlich saß »Stoppekätt« inmitten der Körbe voll Stoppe. Manchmal war ich zu ihrer Hilfe abgeordnet. -

Inzwischen sind die Erklärungen des Brunnenangestellten zu Ende und ich werde mit meiner Gruppe weitergeschleust zum nächsten Haltepunkt.

Ich staune über die Ausmaße, die der Betrieb angenommen hat. Immer schneller und immer mehr wird produziert. Und es gibt, nicht nur hier, kaum noch Menschen, die bei der Arbeit singen. Erstens ist es selten möglich und zweitens hat man doch heute mit einem Knopf im Ohr die Möglichkeit, andere singen (oder schreien) zu lassen... »o Heideröslein, nimm dich in acht!«