Steinreich

Hildegard Kohnen, Brühl

Das Kind lebte auf dem großelterlichen Bauernhof. Es war mit der Mutter in deren Heimat, eine ländliche Idylle geflüchtet. Fern von Ängsten und schlaflosen Nächten. Fern von Sirenengeheul und Bombenalarm, denn es war Krieg.

Auf dem Land war die Welt noch fast in Ordnung und man spürte wenig vom drohenden Unheil. Das Landleben, für die Mutter ungewohnt geworden, war für das Kind ein wahres Paradies. Mit Kühen und Pferden, Hühnern und Schweinen, mit Fit dem Kater und Wie du dem Hund gedieh es zu einem prächtigen Landkind. Nur an der Sprache erkannte man die ehemalige kleine Städterin, da es sich nicht an den Dialekt gewöhnen konnte. Auf dem Hof lebte ein alter Mann, den es zärtlich Großvater nannte.

Es mochte ihn sehr, obwohl er nicht der Großvater, sondern der Bruder der Großmutter und ein wunderbarer Geschichten-Erzähler war. Er war voll von Geschichten. Ob sie alle wahr waren, wer wusste das? Er erzählte so spannend, dass das Kind mit glänzenden Augen und vor Aufregung roten Wangen aufmerksam und andächtig an seinen Lippen hing. Nach jeder Geschichte überschüttete es ihn mit Fragen, und er wurde nie müde oder überdrüssig sie geduldig zu beantworten.

Der alte Mann und das Kind lebten durch die Geschichten für unvergessene Stunden in einer anderen Welt. Es war ein wissbegieriges, ein eigensinniges Kind, das sich seine Geschichte erbat, erschmeichelte, durch kleine Verrichtungen verdiente und manchmal auch einfach einforderte.

Der Großvater konnte seinen Wünschen selten widerstehen. Draußen unter dem Nussbaum, auf der alten Bank, saßen sie oft, und er nannte es meist »Fräulein Nimmersatt«.

Eines Tages fand er das Kind, wie schon öfter vorher, im Hof mit Steinen spielend. Steine gehörten zu seinem bevorzugtem Spielzeug. Langeweile kannte es nicht. Manchmal diente so ein Steinchen auch als Wurfgeschoss, um Pit den Kater zu verscheuchen, wenn er sich wieder seinem Leibgericht, den Küken bedrohlich näherte. »Was machst du nur mit all den Steinen, die du da angehäuft hast«, fragt der Großvater das Kind. Die Antwort kam kurz und bündig: »Ich sammele sie für eine Burg. Dann baue ich uns ein Geschichtenzimmer, nur für dich und mich«, und es umkränzte die Bank unter dem Nussbaum großzügig mit Steinen. Großvater lächelte und begann zu erzählen: »Weißt du, Fräulein Nimmersatt«, es war einmal ein Bauer mit einem großen Hof im Osten Deutschlands. Er galt als Einsiedler und verschroben. In dieser Gegend war der Boden sehr steinig, und die Bauern, die ihn bebauten, schimpften und fluchten über die vielen unnützen Steine. Nur einer nicht, der kauzige Einsiedler. Er sammelte sie auf, fuhr sie nach Hause und schichtete sie um seinen Hof. Die anderen Leute schüttelten die Köpfe und fragten ihn, warum er das tue. Das Ganze mache doch keinen Sinn.

Da lächelte verschmitzt der Bauer und sagte zu ihnen: »Bringt mir ruhig alle Steine von euren Feldern. Ihr seid sie los, und ich kann sie gut gebrauchen.« Bald wuchsen um seinen Bauernhofriesige Steinhalden. Die Bauern aus der ganzen Gegend karrten die ihnen lästigen Steine herbei, lästerten und sagten: »Jetzt bist du bald steinreich«! Der Mann antwortete, nicht ohne Unterton in der Stimme: »Ich hoffe es«! In dieser Zeit plante man nämlich im Osten, die Eisenbahn bis in die ländlichsten Gegenden auszubauen. Der Bauer, also ein ganz schlauer, hatte davon gehört und geschwiegen. Und eines Tages kamen Herren von der Eisenbahnverwaltung, besahen sich die großen Steinhalden, wurden mit dem Bauern handelseinig und bezahlten viel Geld, denn sie brauchten die Steine als Schotter für Gleise und Schienen.

So wurde unser Bauer steinreich, reich durch Steine. Für das Kind war die Geschichte ein Märchen. Der Großvater lächelte rätselhaft und ließ es in dem Glauben. Jahrzehnte später saßen ein Ehepaar mit ihrem alten Freund aus Hamburg zusammen. Der alte Herr war ein großartiger Geschichten-Erzähler. Und irgendwann einmal fragte er: »Wisst ihr eigentlich, woher das Wort >steinreich< kommt?« Allgemeines Kopfschütteln und Schulterzucken.

Dann begann er zu erzählen und bei der Frau, die einmal das Kind auf dem Bauernhof war, tauchte plötzlich in Gedanken ein Großvater auf, der kein Großvater, aber ein wunderbarer Geschichtenerzähler war, und sie wusste jetzt, dass die Geschichte von den Steinen kein Märchen war.