Birkenwasser

Thekla Heinzen, Feusdorf

»Mit echtem Birkenwasser!« So stand es auf der luxuriösen Designerflasche, die mir in der Kosmetikabteilung eines Warenhauses in die Hände fiel. »Birkenwasser«, dieses Wort weckte sofort die Erinnerung an ein Erlebnis aus meiner Kindheit. Heute noch denke ich mit Schmunzeln daran zurück. Es war in den mageren Nachkriegsjahren, und man musste sich schon etwas einfallen lassen, um auf anständige Weise den schmalen Geldbeutel etwas aufzufüllen. Eines Tages kam unser Vater nach Hause mit der Nachricht, in der Apotheke oder Drogerie könne man frisches Birkenwasser zu einem guten Preis verkaufen. Nun, an Birken fehlte es uns nicht. Heute noch stehen mehrere dieser prächtigen Bäume hinter unserem Haus in der Wiese am Bach. In einige dieser seidigweißen Stämme wurde bis ins Herz hinein ein Loch gebohrt und ein Messingröhrchen eingesetzt. Eine Flasche wurde darunter am Baum festgebunden, die sich nun langsam Tropfen für Tropfen mit dem blass-gelben Birkenwasser füllte. Die Flaschen wurden dann in einer alten Kammer abgestellt. Im Moment hatte niemand Zeit, sie abzuliefern. Die Arbeit in Haus, Stall und Feld war wichtiger. So standen sie also da, schon halb vergessen, den Sommer und Herbst hindurch bis zum Winter. Es wurde bitter kalt. Eine Heizung war damals für uns noch ein Fremdwort und purer Luxus. So konnte sich die Winterkälte in dem alten Haus mit seinen dicken Mauern richtig einnisten. Wir wurden während mehrerer Tage und auch in der Nacht des öfteren von einem kurzen, scharfen Knall aufgeschreckt. Auf der Suche nach der Ursache kamen wir auch in besagte alte Kammer und fanden dort des Rätsels Lösung. Das so sorgfältig gehortete Birkenwasser war gefroren und hatte die Flaschen bersten lassen. Nun stand es da auf dem kleinen Regal, stand da im wahrsten Sinne des Wortes! Es ist uns damals auch ohne den erhofften kleinen Nebenverdienst nicht schlechter ergangen. Aus dem eiskalten, wunderbar klaren Wasser des Baches, an dem unsere Birken so trefflich wuchsen, wurde damals auch unsere erste Limonade hergestellt. Zu diesem Zweck kam in einen Krug mit diesem Quellwasser etwas Zucker, falls vorhanden; sorgfältig aufgelöst. Man gab noch ein paar Spritzer Essig-Essenz und eine Messerspitze Natron hinzu und fertig war ein herrlich sprudelndes, erfrischendes Getränk. Im Lauf der Jahre habe ich öfter versucht, dieses Rezept zu erneuern, aber es schmeckt mir nicht mehr so gut. Vielleicht liegt es daran, dass das Wasser weniger klar und sauber ist. Vielleicht ist aber auch mein Durst ein anderer geworden. Was den oft so knappen Zucker zu Hause anging: Noch heute habe ich die Klage unserer Mutter im Ohr: »Wo ist denn nur wieder der ganze Zucker geblieben? Ich habe doch erst vor ein paar Tagen ein halbes Pfund gekauft!« Nun, wir hätten es ihr sagen können, hatten aber natürlich von nichts eine Ahnung. Ich muss noch einmal auf jene alte Kammer zurück kommen, in der unser kleiner Traum von ein paar Mark Taschengeld in Scherben ging. Für uns Kinder war sie ein »El Dorado«, denn dort wurde alles abgestellt und aufbewahrt, was sich nicht wehrte. Beim Herumstöbern fand sich immer etwas Unerwartetes und Interessantes, und gebrauchen konnte man ja alles. Heutzutage gibt es wohl nur noch wenige Kinder, die in einer alten Kammer auf Schatzsuche gehen können. Dafür haben sie aber auch den Vorteil, dass eine Heizung für sie kein Fremdwort mehr ist.