Worpelzeit - Waldbeerenzeit

Gisela Bender, Deudesfeld

Aus den Erzählungen der Vorfahren wissen wir, dass vor Generationen die Menschen in der Eifel besonders arm waren. Alte Leute berichten, dass in ihrer Kindheit von dem gelebt wurde, was man selbst erzeugte und was hier wuchs.

Einen hohen Wert hatten dabei die heimischen »Wildfrüchte«, und die Eifeler entwickelten vielerlei Verwendungsformen für diese Produkte. Die Wirtschaftswunderzeit, und der damit verbundene Wohlstand, haben diese Naturprodukte fast in Vergessenheit geraten lassen. In Notzeiten war das anders, dann erinnerte man sich schnell dieser Möglichkeit, an etwas Essbares heranzukommen.

In den Jahren nach Kriegsende bis Mitte der 50cr war die Waldbeere in unserem Dorf ein Wirtschaftsfaktor. Bis heute ist diese Ära als die »Worpelszeit« in der Erinnerung der Deudesfelder haften geblieben.

Zwischen Pittisch-Daach (Peter und Paul) bis etwa Ende Juli gab es ganze Familien aus dem Dorf, die während dieser Zeit nicht mehr aus dem »Worpelsbesch« herauskamen. Frühmorgens, zwischen fünf und sechs Uhr schlichen sie klammheimlich zum Dorf hinaus in den Wald, möglichst bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Es galt, als Erster an einer Stelle zu sein, wo man tags zuvor viele Waldbeeren entdeckt hatte. Um lästige Konkurrenten auszuschalten, wurden die Plätze äußerst geheimgehalten.

Den ganzen Tag wurde gepflückt und gepflückt, kein Wetter war ein Hindernis. Um den Bauch hatte man ein Seil gebunden, daran hing die Beerendose an einem aus Draht gemachten Henkel. So hatte man beide Hände frei zum Pflücken. Wenn die Dose voll war, schüttete man sie in den mitgebrachten Eimer aus. Der wurde immer an einem sicheren Ort abgestellt, wo er nicht umgestoßen oder gestohlen werden konnte; auch das soll schon mal vorgekommen sein. Es konnte auch passieren, dass man ihn abstellte und den Platz hinterher selbst nicht mehr zu finden wusste. Das war äußerst ärgerlich, die aufgewendete Zeit zum Suchen beeinträchtigte das Pflückergebnis. Jedenfalls war der Gang, um die eingesammelten Beeren in den mitgebrachten Eimer auszuschütten, die einzige Möglichkeit, den Rücken mal für ein paar Minuten aufzurichten. Bei dieser Gelegenheit wurde dann hin und wieder in das mitgebrachte Butterbrot gebissen und ein Schluck getrunken; Essigwasser mit Zucker und etwas Natron, das schmeckte. Die »Schmeer« (Butterbrot) hatte weniger Geschmack, sie lag stundenlang in Zeitungspapier eingewickelt auf dem Eimer; dann war die Butter geschmolzen und das Brot klaffte auseinander.

Trotz des Essiglappens, der über dem Kopf hing, war man mittags schon von den Mücken zerstochen.

Am Abend auf dem Nachhauseweg wurde spürbar, wie lahm der Rücken war und Hunger und Durst machten sich bemerkbar. Ehe man nach Hause ging, wurden die Waldbeeren in eine der beiden Annahmestellen im Dorf abgeliefert. Beide Lebensmittelgeschäfte hielten zur Worpelszeit einen Kellerraum oder die Waschküche als Annahmeraum bereit. Die Hände so blau wie die eines Färbers und auch das Gesicht hatte vom ständigen Wegwischen der Mücken blaue Flecken, so stand man in der langen Schlange, Frauen und Kinder warteten geduldig, bis ihre Waldbeeren gewogen wurden. Vorher hatte man gegenseitig geschätzt, heute sind es 15 Pfund oder mehr, manchmal gab's eine Enttäuschung.

Die einen nahmen Bargeld in Empfang, andere Lebensmittel für die mitgebrachten Beeren. Je nachdem, wie reichlich die Waldbeeren waren, richtete sich der Auszahlungspreis. Er pendelte einige Jahre zwischen 18 und 25 Pfennigen pro Pfund.

In einem Jahr wurden in der Annahmestelle Bill an einem Tag 13 Zentner Waldbeeren angeliefert! Alle Sonderanschaffungen in den Haushalten wurden damals vom »Worpelsgeld« getätigt. Sogar die ersten fahrbaren Untersätze, Fahrräder, waren auf diese Weise finanziert.

Die ersten Waldbeeren, die ich als Kind gepflückt habe, brachte ich nicht in eine der beiden Annahmestellen, sie wurden in einem Blecheimer per Post zur Tante nach Dortmund geschickt. Als Gegenleistung schickte sie mir einen Kleiderstoff. Die Schneiderin im Dorf nähte mir daraus das erste neue Kleid.

Die oberen Klassen der Dorfschule haben ein paar Jahre Waldbeeren-gepflückt und mit dem Geld ihre ersten Schulausflüge bezahlt. Welche Bedeutung kam der Wildfrucht vor Jahrzehnten zu! Und heute? Es gibt noch Waldbeerenpflücker, ihre Namen sind fast Geheimtips, der Preis für die Beere aus dem Wald ist unglaublich gestiegen. Trotzdem, die WORPELSZEIT ist ein wenig in Vergessenheit geraten und die Wildfrucht hat sich von der schlichten Waldbeere zur Delikatesse gemausert; die Mühe beim Pflücken ist allerdings geblieben.