Gerolstein ist fast ganz vernichtet

Briefe von der »Heimatfront« aus dem Jahre 1945

Stefan Gerhard Morbach, Gerolstein

Von Heiligabend 1944 bis zum 22. Januar 1945 wurde die Stadt Gerolstein infolge alliierter Bombenangriffe, im Rahmen der zum Scheitern verurteilten deutschen Ardennenoffensive, dem Erdboden nahezu gleichgemacht. Was dieses Inferno für die damals lebende Gerolsteiner Bevölkerung bedeutete, lässt sich heute noch anhand der Feldpost jener Tage nachfühlen, welche die beunruhigten Frontsoldaten aus ihrer umkämpften Heimat erreichte. Die beiden folgenden, auszugsweise abgedruckten Briefe erhielt mein Großvater von seiner Ehefrau, als über Gerolstein und seiner vierköpfigen Familie die schlimmsten Angriffe hernieder gingen. Sie zeigen in der einfachen, schnörkellosen, im Telegrammstil gehaltenen Sprache meiner verstorbenen Großmutter sehr lebhaft die Grausamkeit jener Tage, als es für alle in fast ganz Europa nur um das nackte Überleben ging. Spürbar entsetzt berichtet die besorgte Mutter von einer unwirtlichen Welt des Todes und der Zerstörung. Die beinahe zum Schmunzeln verleitende Beschreibung der Beerdigungszeremonie für die verstorbene Tante belegt zudem die Absurdität des an die Nähe des Todes gewöhnten Kriegsalltags.

Mein lieber Gerhard!

Gerolstein, 06.01.1945 Nach langer sehr schwerer Zeit sollst Du noch mal ein Lebenszeichen von uns hören. Es geht uns bis auf Erkältungen noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Habe bis heute noch kein Lebenszeichen von Dir gehört; aber es geht ja auch nichts mehr durch.

Seit hl. Abend sind wir jetzt jeden Tag von sieben Uhr morgens bis abends im Bunker. Hier im Flecken kann sich tagsüber niemand aufhalten. In zehn Tagen hatten wir zwölf Angriffe, es ist furchtbar gewesen, und nachts schießen sie mit Bordwaffen. Es ist nicht mehr zum aushallen. Im ganzen Ort ist kein Haus mehr, was nicht beschädigt ist. In Rüssels Garten ist ein Volltreffer gegangen und wir haben kein Dach und keine Fenster mehr im Haus. (...) In die neue und alte Schule sind Volltreffer gegangen.

Sehr viele Tote sind es: Ewen, Erasmi, Poster, Blums Annchen, Villa Schmilz, Schreiner Wirtz, Gerhards Elis, Wingwinger, Bonjean, Gerhards auf der Treppe sind alle verschwunden. Von Duppichs Hanni haben sie den Kopf gefunden. Eifels, Vögens, Eis sind alle tot. Begas, alle tot. Wimmer Lisa, Beles, haben alles verloren. Kossmann in den Wiesen, alles verloren und zum Teil tot. Krahes Haus ganz kaputt, Minchen Thelen verschwunden, Lehnens neben euch - alles kaputt. Apotheke - alle tot, auch Frau Fisch. Esch Waller von Gees tot. Pauls vom Sprudel - die Frau

tot. Böffgens Suschen alles verloren - unser Stall fort. Böffgens Josef ist totgefahren worden. Rektor Michels ist auch tot. Dann fast der halbe Flecken ausgebrannt. Gerolstein ist fast ganz vernichtet. Van der Osten sein Haus ist auch fort. Krämer Christ seines auch und er und Frau tot. Regneris Karl sein Haus fort, Krings, Heck, Heyer, Arnoldis, Grafs, Kaisers - alles ausgebrannt, auch Hotel Heck und Post ausgebrannt.

Du kannst Dir gar kein Bild machen, wie schrecklich es hier ist, Brot ist fast nicht zu bekommen, dafür muss man Schlange stehen, von 5 Uhr ab morgens. Herr Pastor geht überall auf die Dörfer Brot sammeln. Ich gehe auch schon und bekomme von ihnen ebenso etwas Speck. Die Partei sowie alles was dran hängt hat völlig versagt.

Wie es weiter geht weiß niemand - fort können wir nicht mehr, denn nachts beschießen sie alle Autos mit Bordwaffen. Wir können nur beten, dass wir die Zeit überstehen - aber ich glaube bald nicht mehr daran. Jetzt haben wir schon drei Wochen kein Licht mehr und seit hl. Abend kein Wasser mehr. Das schleppen wir von der Eselsbrück rauf. Da ist ja eine Quelle, wo Sprudel raus kommt. Wir sehen ganz verwildert aus. Jede Einzelheit kann ich Dir nicht schreiben - es würde zu weit führen. Es ist so kalt in der Wohnung, weil es überall so zieht. Wir liegen immer mit den Kleidern im Bett. (...) Diesen Brief will ich versuchen mit zu geben. Das Licht geht zur Neige. Mit herzlichen Grüßen, (...) Deine Christine und Kinder

Mein lieber guter Gerhard!

Gerolstein, 20.01.1945 Heute erhielt ich endlich mal die erste Post von Dir, von hl. Abend war ein Brief und der andere von Silvester.

Ja, lieber Gerhard so schön wie Du es hl. Abend und Silvester hattest, so schön hatten wir es nicht. Hl. Abend haben wir den ganzen Tag im Keller gesessen und von da ab jeden Tag bis abends im Bunker. Niemand hat sich Neujahr gewünscht. Weil so viele Tote unter den Trümmern lagen, hätte man es für Hohn gehalten. 195 Tote sind es bis jetzt. Alle sind bis heute noch nicht geborgen. Wenn man durch den Ort geht, dann schaudert es einen. Gestern haben sie einen Soldaten gefunden, den man schon einige Wochen suchte. (...); durch den Schnee finden sie sie nicht gut, bis auf einmal eine Hand raus kam. An Weihnachten habe ich kein Plätzchen gegessen, vor lauter Schreck und Aufregung lag einem an nichts mehr was. Vergangene Woche ist Onkel Nikla gestorben, und als er beerdigt wurde, ist in der Nacht Tante Malchen gestorben, im Krankenhaus. Weil sie nicht mehr so gut mit in den Bunker laufen konnte, hatten wir sie ins Krankenhaus getan. Sechs Tage war sie da und dann starb sie. Nun muss ich Dir mal die Beerdigung schildern, damit Du mal ein kleines Bild bekommst über die Zustände, wie es hier aussieht.

Also Nürnberger Grethchen sein Sohn und Herr Kaplan haben sie mit einem Schlitten auf den Friedhof gefahren. Als sie ankamen, war das Grab nicht fertig. Da haben sie sie bei Maake Lin ins Haus gestellt, bis am anderen Abend um halb sechs Uhr. Als sie wieder mit ihr unterwegs waren, ist sie noch dreimal umgekippt und fast unter die Autos gekommen.

Herr Peters ist auch beim Angriff umgekommen. Vorgestern abend und Nacht war furchtbares Wetter. Das Wasser kam die Treppe heruntergelaufen und im Schlafzimmer kam überall die Decke herunter gefallen. In der Küche fing es auch schon an zu tropfen. (...) - es war ein Tag furchtbares Schneegestöber. Wir sind dann nicht in den Bunker gegangen. Ja und nun sitze ich jetzt hier bei einer Kerze. Wir haben schon seit 14 Tagen vor Weihnachten kein Wasser mehr, und was das heißt, kannst Du Dir vielleicht denken. Heute abend habe ich die Kinder noch mal gebadet. Also wir verkommen direkt. Ich bekomme nichts mehr gestrickt, im Bunker ist es zu dunkel, eine Handarbeit zu machen. Seit vor Weihnachten war ich in keiner Messe mehr, weil wir bei Zeiten uns auf die Socken machen müssen. Nachts kommen die Biester auch noch und leuchten die Straßen ab, schießen mit Bordwaffen und werfen Bomben. Denk Dir nur mal, auf die letzte (Lebensmittel-) Karte ist mir das Fleisch kaputt gegangen, mehr als vier Pfund, weil ich keines bekam und jetzt sind sie verfallen. Dann habt Ihr auch kein Licht mehr, also ich brenne jetzt Gerdi seine Taufkerze ab. Wir wissen sonst nicht mehr, was wir abbrennen sollen. (...) Viel schreiben hat keinen Zweck, weil wir nicht wissen, wie wir die Post fort bekommen. Abends um fünf Uhr wird jetzt die Post verteilt, beim Schornsteinfeger in der Ramm. (...) Also Liebster für heute recht herzliche Grüße und Küsse, Deine Christine und Kinder

P. S.: Es wird gerade wieder geschossen, ob die Front näher ist? Wir hören kein Radio und haben keine Zeitung, wissen oft nicht, ob Sonntag oder Werktag ist. Bete Du also für uns, damit wir das Schlimme glücklich überstehen.

 

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