Pättchen ist tot

Stefan Schneider, Beinhausen

Es war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Auf dem Nachhauseweg von der Schule hatten wir mal wieder so viel zu erzählen, zu rangeln, zu raufen, zu zanken und zu tun gehabt. Das hatte gedauert! Nun hatten wir uns gehörig verspätet. Zu Hause würde es einmal mehr ein kräftiges Donnerwetter geben, wie schon so oft. Doch dann kam alles anders. Mutter empfing mich an der Haustür. Sie schaute gar nicht aufgebracht und streng, wie ich es erwartet hatte. Traurig sagte sie, während sie den Arm um meine Schulter legte: »Pättchen ist tot!« Da wurde mir ganz schwer ums Herz. Pättchen, der Großvater, den ich so liebte, sollte nun nicht mehr sein? Gewiss, er war schon alt und auch etwas gebrechlich gewesen in letzter Zeit. Aber Zuwendung geben und Geschichten erzählen, das hatte er immer noch gekonnt wie eh und je, spannende Geschichten, wenn er im Ohrensessel neben dem Herd saß, da, wo es schön warm war. Und oft hatte er uns vor der Tracht Prügel bewahrt, die wir gewisslich verdient hatten, die meist schmerzhaft war, wenn Vater sie verabreichte. Noch heute habe ich seinen Ausspruch im Ohr, den er unserem Vater, seinem jüngsten Sohn, bei derartigen Gelegenheiten mit strenger Miene vorhielt: »De Kooh soll net verjääße, dat se och ees Kallew woar!« (Die Kuh sollte nicht vergessen, dass sie auch einmal ein Kalb war!). Den wirklichen Sinn dieses Ausspruches habe ich erst viel später begriffen. Und nun sollte Pättchen tot sein? Das tat weh, war ein herber Verlust. Dass es um seine Gesundheit in den letzten Wochen nicht so gut gestanden, hatte ich schon gemerkt und vor allem gespürt. An manchen Tagen war er gar nicht mehr aus dem Bett aufgestanden. Ich hatte ihn zwar seine Mahlzeiten gern ans Bett gebracht, war auch zwischendurch immer wieder einmal zu ihm in seine Kammer geschlüpft. Aber dann lag er meistens mit geschlossenen Augen da und ich war leise wieder hinausgegangen. »Pättchen ist alt - er wird wohl bald an Altersschwäche sterben,« hatte ich kürzlich Onkel Philipp zu meinen Eltern sagen hören. Jetzt war es also passiert.

An der Hand führte mich Mutter in Pättchens Kammer. Da lag mein Pättchen, unser Pättchen, unser Großvater in seinem Bett. Ganz bleich sah er aus, die Augen geschlossen als schliefe er, aber die Wangen waren ganz eingefallen, sein Kinn mit einem weißen Tuch hochgebunden; das missfiel mir sehr. »Warum habt Ihr ihm das Tuch umgebunden?« fragte ich leise, als könnte Pättchens Todesschlaf gestört werden. »Das tut man«, antwortete Mutter ebenso leise, »damit der Mund geschlossen bleibt, wenn einer gestorben ist. Und Du willst doch nicht, dass Pättchen mit offenem Mund ins Grab gelegt wird.« Ich antwortete nicht. Mutter hatte ja recht. Inzwischen waren auch meine drei jüngeren Brüder an Pättchens Totenbett gekommen. »Kommt, lasst uns ein Gesätz vom Rosenkranz für Pättchen beten, damit er bald in den Himmel kommt«, forderte Mutter uns auf. »Wo ist Vater?«, fragte ich. Es war mir unbegreiflich, dass Vater ausgerechnet jetzt nicht da sein sollte. »Der ist nach Kelberg, den Doktor rufen. Der Doktor muss ja den Totenschein ausstellen«, klärte Mutter uns auf. Und während wir andächtig den Rosenkranz beteten hätte man meinen können, Pättchen bete mit. Er lag da so friedlich mit gefalteten Händen, um die ein Rosenkranz geschlungen war. Auf dem Nachttisch stand noch das Sterbekreuz und ein Glas mit Weihwasser und einem Palmzweig darin. Andächtig nahm ich den Palmzweig in die Hand und sprengte Weihwasser in Form des Kreuzzeichens über Pättchen, darauf achtend, dass sein Gesicht nichts abbekam. Ich wusste doch, wie unangenehm es war, wenn einem jemand Wasser ins Gesicht spritzte!

Mutter beauftragte mich, in jedem Haus des Dorfes die Zeiten für die Totenwache bekannt zu geben. Ich tat es mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits wollte ich, dass möglichst viele Leute für die Seelenruhe Pättchens beten sollten, andererseits wäre es mir viel lieber gewesen, Pättchen wäre noch am Leben. Aber ich wusste auch, dass alle Menschen spätestens im Alter sterben mussten, und Pättchen war alt gewesen. So tat ich denn meine Pflicht. Als ich zu Schreinerkloas kam, war der gerade dabei, den Sarg für Pättchen zu zimmern. So etwas hatte der Dorfschreiner nie vorrätig. »Woher weißt Du denn, dass wir einen Sarg für Pättchen brauchen?«, fragte ich verwundert. »Dein Vater hat ihn schon heute morgen bestellt«, bekam ich zur Antwort. Sicher hatte Vater die Bestellung aufgegeben, als er sich auf den Weg nach Kelberg zum Doktor gemacht hatte.

Die Schulkinder des Dorfes gingen die »Sieben Kreuze« beten. Wir versammelten uns in unserem Hof, denn es war ja »unser« Pättchen, der gestorben war. Wir zogen in einer kleinen Prozession, den Rosenkranz für den Verstorbenen betend, den Kirchweg - manche nannten ihn auch Messweg - hinauf nach Hilgerath. An diesem Weg standen in ziemlich gleichmäßigen Abständen sieben Holzkreuze. An jedem der Kreuze wurde kurzer Halt gemacht, das Rosenkranzgesätz abgeschlossen, auch wenn noch nicht alle zehn Ave Maria gebetet waren, und beim Weitergehen wurde ein neues Gesätz begonnen. Die Kirche schließlich musste dreimal betend umrundet werden. Dann ging es ohne Beten auf schnellstem Weg zurück zum Sterbehaus, denn dort erhielten wir von den Angehörigen des Verstorbenen stets ein Paar Bonbons oder einige Stücke Würfelzucker. Diesmal war es unsere Mutter, die die Süßigkeiten verteilte, und sie hat auch mich und meine Brüder nicht ausgenommen.

Nun musste die Stube zur Totenwache hergerichtet werden. Totenwache wurde immer am Abend abgehalten, wenn alle Tagesarbeit in Feld und Haus und Stall erledigt war. Da es im Dorf weder Kapelle noch Gemeindehaus gab, wo man die Totenwache hätte halten können, fand sie jeweils im Sterbehaus statt. Die Anzahl der Teilnehmer konnte man recht genau ausrechnen, also mussten entsprechend viele Sitzgelegenheiten geschaffen werden. Über so viele Bänke und Stühle, wie benötigt wurden, verfügte kein Haushalt. Man behalf sich, indem man Bohlen und Bretter über die vorhandenen Stühle legte. So hatte zwar nicht jeder Sitz eine Rückenlehne, aber die Sitzgelegenheiten reichten aus. Zwei Rosenkränze wurden gebetet; nach dem ersten durften die teilnehmenden Kinder nach Hause gehen. Es hatte Zeiten gegeben, da zweimal zwei Rosenkränze an einem Abend gebetet wurden! Nach Beendigung der Rosenkranzgebete ließ es sich keiner der Erwachsenen nehmen, dem Verstorbenen noch einmal einen persönlichen Abschiedsbesuch am Totenbett zu machen, jeder wollte ihn noch einmal sehen. Wer an dem einen Abend verhindert war, machte seinen Totenbesuch am nächsten oder übernächsten, denn Totenwache wurde für gewöhnlich an drei aufeinanderfolgenden Abenden abgehalten. Der Tote blieb im Bett aufgebahrt, bis er, meist am vierten Tag nach seinem Hinscheiden, beerdigt wurde. Dann erst wurde er eingesargt. Das war Sache von Schreinerkloas, wobei ihm meist einer der unmittelbaren Nachbarn zu Hand ging. Der Doktor war da gewesen und hatte nach kurzer Untersuchung den Totenschein ausgestellt. Altersschwäche war als Todesursache angegeben. Demnach hatte Onkel Philipp recht gehabt. Schon vor der Totenwache gestern abend war Vater beim Pastor, gemeinsam hatten sie den Termin für die Beerdigung festgelegt, den der Geistliche am morgen in der Werktagsmesse allen Gottesdienstbesuchern verkündet hatte. Damals war es noch so, dass aus jedem Haus der Pfarrei zumindest ein Familienmitglied die Werktagsmesse besuchte. So konnte man sicher sein, dass der Beerdigungstermin jedem Pfarrangehörigen bekannt wurde. Heute morgen, während wir in der Schule saßen, war Vater zu Fuß nach Daun gepilgert; zwei Stunden Fußmarsch! In Daun musste er auf dem Standesamt den Totenschein vorlegen und Pättchen gegen Erhalt einer Sterbeurkunde »abmelden«. Die Sterbeurkunde war dem Pastor auszuhändigen, damit dieser die Beerdigung vornehmen durfte und Pättchens Tod in die Kirchenbücher eintragen konnte. Und noch einen wichtigen Auftrag hatte Vater in Daun zu erledigen: Bei der Druckerei Werner bestellte er Totenzettel, die nach dem Sterbeamt von den Messdienern an alle Begräbnisteilnehmer zum Gedenken an den Verstorbenen verteilt werden sollten. Am Tag vor Pättchens Beerdigung musste dann ich den langen Fußmarsch nach Daun machen, um sie abzuholen. Bezahlt waren sie schon, das hatte Vater bereits bei der Bestellung erledigt. Mutter hatte den entfernter lebenden Angehörigen und Bekannten Pättchens Tod und Beerdigungstermin auf Postkarten mitgeteilt. Es war üblich, dass zwei bis drei junge, meist unverheiratete Männer aus der Nachbarschaft des Verstorbenen das Grab aushoben und nach erfolgter Beerdigung auch wieder schlössen. Aber diese Männer wollten gefragt sein, auch wenn nie einer sich der Aufgabe entzogen hat. Noch gestern nachmittag hatte Vater die »Schraawmächer« (Grabmacher) bestellt. Der Lohn für ihre Arbeit war immer eine Flasche Schnaps. Die Mädchen und jungen Frauen aus der Nachbarschaft waren da nicht so pingelig. Sie banden ohne Aufforderung oder Bestellung Kränze aus Tannengrün, im Sommer und Herbst mit Blumen aus den Hausgärten besteckt, im Winter mit selbstgebastelten Rosen aus Kreppapier. Sie trugen die Kränze auch selbst hinter dem Sarg her zur Grabstätte und drapierten sie nach der Totenmesse auf das zugeschüttete Grab und erhielten keinen besonderen Lohn. Eine Knochenarbeit erwartete die Sargträger, vier bis sechs kräftige Männer, ebenfalls aus der Nachbarschaft. Auch sie wollten »bestellt« sein, genau wie die »Schraawmächer«. Im Gegensatz zu diesen verrichteten sie ihre Arbeit allerdings ebenfalls ohne Entgelt; irgendwann würden andere auch ihnen diesen Dienst tun müssen.

Der Tag von Pättchens »Beschreefnis« (Begräbnis) war da. Schreinerkloas hatte seine Arbeit getan, und vier »Träger« hatten den Sarg (»de Löadd«) mit Pättchens Leichnam darin im Hof neben der Haustür auf zwei Stühlen aufgestellt. Die Kranzbinderinnen hatten die Kränze auf und um den Sarg gelegt, alle verharrten zunächst schweigend davor. Hinter dem Sarg lehnte an der Hauswand das Grabkreuz mit dem Krautwisch, der beim vergangenen Fest Maria Himmelfahrt in der Kirche gesegnet worden war. Ein Schuljunge aus der Nachbarschaft würde das Kreuz auf dem Weg zum Kirchhof hinter dem Sarg tragen und den Krautwisch auf den Sarg im Grab hinunterwerfen. Ganz allmählich trafen alle die Leute ein, die Pättchen das letzte Geleit geben wollten. Sie traten einzeln an das Fußende des Sarges heran, entnahmen dem Glas mit dem Weihwasser, das auf dem Sargdeckel stand, den Palmzweig und segneten Pättchen. Dann traten sie schweigend zurück in die Reihe der Wartenden. Als dann jemand mit dem Beten des Rosenkranzes begann, stimmten alle mit kräftiger Stimme ein. Bald drängten sich auf unserem Hof lauter andächtig betende schwarzgekleidete Menschen. Pättchen würde ein großes »Beschreefnis« haben! Bei aller Trauer um seinen Tod war ich in diesem Augenblick richtig stolz. Langsam wurde es Zeit, den Weg nach Hilgerath anzutreten. Die Mädchen nahmen die Kränze vom Sarg, der Nachbarsjunge das Kreuz mit dem Krautwisch auf. Die sechs Träger ergriffen die Tragegriffe des Sarges und Pättchen wurde aus dem Hof getragen. Da rollten mir die Tränen über die Wangen, obwohl ich doch nicht hatte weinen wollen. Hinter Pättchens Sarg formierte sich eine ansehnliche Prozession, die Männer auf der rechten Seite, die Frauen auf der linken, wie das üblich war. Die Männer beteten den Rosenkranz »vor«, die Frauen »holten ab«. Bei jedem der sieben Kreuze am Messweg stellten die Träger den Sarg ab, und die Prozession verharrte ebenfalls; es war nicht anders als beim Siebenkreuzebeten der Kinder. Die Träger wechselten bei jedem Halt von der einen auf die andere Seite; so wurden ihre Muskeln gleichmäßiger belastet. Heute waren sie froh, dass der Himmel bedeckt war, da brauchten sie nicht so zu schwitzen. Auch im Winter war das Sargtragen oft eine Quälerei. Nicht selten lag derart viel Schnee, dass die »Gemeinde« zum Schneeschaufeln ausrücken musste. Wie oft war es vorgekommen, dass der Leichenzug dennoch durch tiefen Schnee stapfen musste, weil kurz vorher der Weg wieder zugeweht worden war. Das artete dann für die Sargträger häufig zu einer richtigen Schinderei aus. Nicht nur einmal hatte dabei einer der Träger schlapp gemacht und jemand aus dem Trauerzug musste für ihn einspringen. Ob Pättchen das bedacht und um eine günstige Jahreszeit für sein Begräbnis gebetet hatte?

Oben, vor der Kirche, wartete eine zumindest ebenso große Menschenschar, wie sie den Berg hinauf hinter Pättchens Sarg dem Kirchhof zustrebte. Und wieder erfasste mich ein besonderes Gefühl von Stolz: Pättchen würde wirklich »e schruuß Beschreefnis« haben. Dann erinnere ich mich nur noch an den Augenblick, als der Sarg an einer Pflugleine ins Grab hinabgelassen wurde. Jetzt war nur noch Trauer in mir, und so viele Tränen kullerten mir übers Gesicht, dass ich sie kaum noch bändigen konnte. Pättchen hatte uns endgültig verlassen. Aber eines wusste ich mit Sicherheit, Pättchen war im Himmel. Und da ging es ihm besser als hier unten auf der Erde.

Als zum Ende des Totenamtes an der Tumba noch einmal für seine Seelenruhe gebetet wurde, waren meine Gebete besonders inbrünstig. Und bei der Kaffeetafel zu Hause, die die Nachbarsfrauen in unserer Stube und Kammer für die Trauergäste hergerichtet hatten, schmeckte mir der Kuchen wieder wie bei der Kirmes. Ich aß von jeder Sorte ein Stück, von dem mit dem Apfelkompott und dem mit den Apfelstücken, von dem mit Streusel und Pudding und dem mit Griesbrei und Rosinen, und vom »Bunnes« sogar zwei Stücke. Dabei stellte ich mir vor, ich würde für Pättchen mitessen, der doch auch so gern »Süßes« gehabt hatte und nun nicht mehr dabei sein konnte, obwohl wir diesen »Kaffee« allein ihm zu verdanken hatten. Ich war auch gar nicht neidisch, als von unseren nächsten Verwandten noch jeder ein »Knepperchen« mit nach Hause nahm, Kuchenstücke in einem großen geblümten Taschentuch, das an den vier Zipfeln zusammengeknüpft als Tragetasche diente. Wie oft war Pättchen auch mit so einem »Knepperchen« nach Hause gekommen, und wie hatten wir uns jedes mal über dessen Inhalt hergemacht!

Wenn ich einmal sterbe, werden meine Angehörigen es einfacher haben. Sie werden ein Bestattungsunternehmen mit der Wahrnehmung aller Notwendigkeiten beauftragen und den »Kaffee« im Gemeindehaus oder in einer Gaststätte ausrichten. Mein »Beschreefnis« wird für sie viel einfacher sein, aber auch um etliches teurer!