Wiedersehen mit der Eifel

Hans-Joachim Golly, Daun

Es war 1938, ich befand mich im Arbeitsdienst, den man vor dem Wehrdienst ableisten musste. Eines Tages kam der Befehl, dass unsere Abteilung in die Eifel abkommandiert würde. Wir waren entsetzt, viele von uns waren Großstadtkinder und nun in diese Einsamkeit.

Der Name »Eifel« bedeutete damals Armenhaus Deutschlands, Klein-Sibirien, viel Steine und wenig Brot. Der bestehende Westwall wurde noch damit in Verbindung gebracht, dessen Aufbau wir helfen sollten, zu beendigen. Der Westwall war das Gegenstück zur französischen Maginot-Linie.

Zunächst ging unsere Fahrt bis Köln. Dann erreichten wir Gerolstein, hier hatte der Zug einen längeren Aufenthalt. Auf der rechten Seite bot sich uns ein eindrucksvoller Anblick, nämlich riesige Felsen, wie wir sie vorher noch nie gesehen hatten. Der Ausdruck »mehr Steine als Brot« schien sich zu bewahrheiten, wir waren in der Eifel. Unser Zielort hieß Leidenborn; allein der Name versprach nichts Gutes. Und tatsächlich fanden wir ein armes und bescheidenes Dorf vor. Auf einer riesigen Wiese stand das leere Barackenlager. Dies war nun unser neues Zuhause. Es sollte die Übergangsunterkunft für einen baldigen Abruf an den Westwall sein. Nach Dienstschluss wollte ich mal allein die Umgebung kennen lernen. Dabei erblickte ich einen einsamen Landwirt, der sein Feld bestellte. Den Pflug zogen zwei Kühe. Jetzt machte der Mann eine Pause, die Zügel um den Hals gelegt, stopfte er sein Pfeifchen. Ich näherte mich ihm, vielleicht reicht es für ein Schwätzchen. Aber wie ihn begrüßen? Grüß Gott, Heil Hitler oder Guten Tag? Letzteres schien mir angebracht. Freundlich grüßte er zurück und fragte, ob ich mich für die Landwirtschaft interessieren würde. Ja, log ich, mein Onkel hat auch einen Bauernhof.

So begann unser Gespräch, nur war es schwer für mich, den Eifeler Dialekt zu verstehen. Er hatte wenig Zeit und bat mich, am Abend zu ihm nach Hause zu kommen. Nachdem er mir noch seine Adresse nannte, verabschiedeten wir uns.

Pünktlich betätigte ich den eisernen Klopfer an der Haustür. Ein Mädchen von vielleicht 18 Jahren mit rotblonden Haaren öffnete. »Ja, kommen Sie bitte weiter, ich weiß Bescheid.« In der Bauernstube lud man mich sofort zum Essen ein. In einer großen Tonschüssel gab es Kartoffelbrei mit deftiger Speckwürfel-Zulage. In der anderen Schüssel Sauermilch, in der dicke Butterstücke schwammen. Vorher wurde gebetet, dann ging es abwechselnd mit dem Löffel in den Brei und die Sauermilch. Derartiges kannte ich nicht, aber ich aß tapfer mit. Dann wurde erzählt, fast nur über die Landwirtschaft. Dabei beobachtete mich die Tochter von der einen Seite, ich sie von der anderen. Noch zweimal war ich dort, aber dann wurden mir weitere Besuche unbehaglich. Der Bauer erzählte, er hätte nur die einzige Tochter, die den Hof eines Tages erben würde, es fehle nur der richtige Mann für sie. Das Mädchen wurde rot, wich meinen Blicken aus. Der Bauer zeigte mir eine wundervolle Holztruhe, inliegend die Aussteuer für seine Tochter. Der Krieg wird auch mal beendet sein, meinte er.

Ich wusste, was die Glocke geschlagen hatte, es musste mein letzter Besuch sein. Die Wache am Tor war informiert, für jeden Frager war ich in vierzehntägigem Urlaub, nach 10 Tagen kam die Einberufung zur Kriegsmarine, ich war »gerettet«.

Nach Krieg und Gefangenschaft kam ich mit meiner Familie erst 1958 in die Bundesrepublik, nach Ahrweiler. Zufällig stieß ich durch einen Bekannten auf das Jugendherbergswerk. Nach einer Umschulung sollten meine Frau und ich die neuerbaute Jugendherberge in Daun übernehmen. Wie es der Zufall will, ich war wieder in der Eifel, sollte ich später selbst treuer Eifelaner werden. Manchmal fuhr ich zu Bekannten nach Niederstadtfeld. Auf der Straße zwischen Daun und dem Ort befand sich viele Jahre auf der rechten Anhöhe ein gesprengter Bunker aus dem Krieg. Vor einiger Zeit wurden die Trümmer weggeräumt. Dabei kam mir der Gedanke, einmal Leidenborn zu besuchen, wo sich damals unser Arbeitsdienst-Lager befand. So war das Ausflugsziel gesteckt. Von weitem erkannte ich schon die dortige Kirche. Aber wie hatte sich das armselige Dorf gemausert, ein moderner, gepflegter Ort war aus Leidenborn geworden. Wo stand das damalige Lager? Und wo wohnte der Bauer, der mich als Schwiegersohn haben wollte? Ich erinnerte mich, das Haus stand in der Nähe der Kirche. Es hatte einen frischen Anstrich, neue Fenster und neuen Dachstuhl. An der Holztür war aber noch der schöne Eisenklopfer, den ich dann betätigte. Eine Frau, ungefähr in meinem Alter, öffnete. »Guten Tag, Sie wünschen?« »Ich wollte das ältere Ehepaar sprechen, das früher mal hier wohnte«. »Ja, es waren meine Eltern, die sind schon vor längerer Zeit verstorben.« Dann fragte ich, ob sie sich noch an das damalige Arbeitsdienstlager erinnern würde und an den jungen Mann, der die Eltern besuchte. »Ja natürlich«, und die Frau lachte laut, umarmte mich und schrie: »Paule, komm mal schnell, ich möchte dir meinen ehemaligen Verehrer vorstellen, der mich bald geheiratet hät.

Ich sagte dazu kein Wort, dann kam Paule. Natürlich wurden bei Kaffee und Kuchen die alten Erinnerungen ausgetauscht. Aber dann wollte ich die Stelle vom damaligen Lager sehen. Wir fuhren hin, leider bemerkte ich nur eine große Koppel, aber der Blick zur Kirche konnte stimmen.

»Jetzt passen Sie mal auf«, sagte meine >nicht gewordene Ehefrau<. Dann scharrte sie mit dem Fuß an verschiedenen Stellen im Gras und einzelne Steinstufen konnte man plötzlich sehen. Ich stellte mich auf eine Stufe, schloss die Augen, weit weg war ich mit den Gedanken, meine Begleiterin störte mich dabei nicht.

Wo war wohl die Schlafbaracke, wo die anderen Baracken, deren Stufen ich einstmals betreten hatte? Wo sind die alten Kameraden von damals geblieben? Wenn sie wüssten, wie schön die arme Eifel von einst geworden ist! Nach einem Spaziergang durch Leidenborn, das man eigentlich jetzt »Schönborn« nennen müsste, verabschiedeten wir uns lachend. Dieser ereignisreiche Tag sollte noch einen denkwürdigen Abschluss haben. Auf der Rückfahrt besuchte ich auf dem Dauner Friedhof die Gräber der gefallenen Kameraden und die der Opfer des damaligen Bombenangriffs auf Daun.

Die Gegenwart ist ohne das Gestern nicht denkbar.