Es geschah vor 60 Jahren,

Angela Dingels, Salm

Das war für mich ein unvergessliches und ergreifendes Erlebnis, ich hab's aus meiner Kinderzeit noch deutlich in Erinnerung - die Kriegserklärung.

Damals wurden alle Mitteilungen für die Dorfbewohner mit der »Schelle« bekannt gemacht. Am Nachmittag des 3. September 1939 war von Mobilmachung die Rede. Da Krich äs ausjebrach - die Krieg ist ausgebrochen! Voller Aufregung kamen die Leute aus den Häusern und sprachen bestürzt über die traurige Neuigkeit. Am Sonntag gegen vier Uhr läuteten die Kirchenglocken zum Hinweis auf den Kriegsbeginn und in unserem sonst so stillen Eifeldorf machte sich Unruhe breit. Die älteren Bürger hatten den Ersten Weltkrieg erlebt und den Verlust vieler junger Menschen aus dem Ort, die nicht mehr heimgekehrt waren.

Nach einigen Wochen wurde bekannt gemacht. .. »es kommen Soldaten, die in den einzelnen Familien untergebracht werden«. Meine Mutter meinte, da bleiben wir mit unserem kleinen Haus gewiss verschont. Sie hatte sich geirrt, es wurde »Quartier gemacht« und wir mussten zwei Soldaten aufnehmen. Dabei hatten wir nur eine offene Küche und eine kleine Stube und - wir waren vier Kinder im Haus. Unvorstellbar, wie wir uns behelfen sollten. Die Soldaten kamen, in der Scheune wurden die Strohsäcke gefüllt, am Abend für die Nacht in die Stube geholt, am Morgen kamen sie wieder in die Scheune. Nach einigen Wochen war die Einquartierung vorbei und wir alle herzlich froh, die Stube wieder für uns zu haben. Das blieb nicht lange so. Es kam bald ein größerer Trupp Militär in unser Dorf und Mutter dachte mit Schrecken daran, dass wir auch wieder Leute aufnehmen mussten. Auf enge Wohnverhältnisse wurde keine Rücksicht genommen, diesmal bekamen wir vier Soldaten zugeteilt. Es war Ende November und damals brachten die Winter in der Eifel viel Kälte und Schnee, auch wir waren auf die warme Stube angewiesen. Die Soldaten kamen mit Feldrucksäcken und persönlichen Gegenständen - alles musste in dem kleinen Raum unterbracht werden, dazu am Abend die vier Strohsäcke und Wolldecken. Aber schon bei der ersten Begegnung baute sich schnell ein gutes Verhältnis auf, die Soldaten waren freundlich und aufgeschlossen. Sie kamen aus Ostpreußen und Gerhard Kaiser war aus Königsberg, er hatte sofort Freundschaft mit meinen drei älteren Brüdern geschlossen. Im Zivilberuf war er Lehrer und es machte ihm Spaß - wenn es seine Zeit erlaubte - mit den Jungen am Abend eine »Schulstunde« abzuhalten. Doch davon waren die Burschen nicht sehr begeistert und versuchten oft, sich durch spätes Nachhausekommen davor zu drücken. Viel mehr Freude machte es, wenn sie bei den Soldaten in der Stube sitzen durften und vom Kommissbrot und den zugeteilten Tagesrationen etwas bekamen. Als Ersatz kochte dann meine Mutter Milchsuppe für die Soldaten, die ihnen gut schmeckte und sie freuten sich über Mutters Fürsorge. Ab und zu durfte einer der Jungen in der Stube mit auf dem Strohsack schlafen - das war für sie ein kleines Erlebnis.

Gerhard Kaiser war ein besonders freundlicher Mensch. Einmal ging er zu Mutter in

 

den Stall, sie hatte gerade frisch gemolken und er fragte, ob er wohl von der Milch trinken dürfte? Selbstverständlich holte Mutter eine Tasse. Und weil die Milch so gut schmeckte, wurde der Verzehr zur täglichen Gewohnheit. Das machte meine Mutter nachdenklich, denn unser Einkommen war sehr gering, die Familie auf jede Mark angewiesen. »Das wird sich bestimmt beim Auszahlen des Milchgeldes bemerkbar machen«, meinte die Hausfrau; aber es blieb beim »Ausschank« und das alle Tage wieder.

Es wurde Weihnachten, wir Kinder bekamen jedes einen bunt gefüllten Teller und das war damals etwas ganz Besonderes. Auf dem Tisch stand ein Wecker, dabei ein Zettel für meine Eltern . . .; meine Mutter war sehr glücklich. Schon lange wollte sie sich einen kaufen, immer fehlte das Geld. Zu unserer großen Überraschung kam noch ein Päckchen von der Familie Kaiser aus Königsberg. Mutter erhielt als Dank für die so geschätzte frische Milch eine wertvolle, handgestickte Leinendecke. Das war für uns etwas ganz Wertvolles und wir freuten uns sehr, so ein schönes Stück zu besitzen. Eine kleine Kastenform mit selbstgebackenem Kuchen war auch im Päckchen aus Königsberg und alle Gaben sind bis heute erhalten. Ich benutze die Form noch immer und denke an die für uns Kinder schöne Zeit mit den Soldaten. Wie man damals auf so engem Raum friedlich miteinander leben konnte? Nur durch Rücksichtnahme und die Bereitschaft, den Gast anzunehmen, ob nun eingeladen oder zugewiesen - Gastfreundlichkeit ist mehr als eine Eigenschaft, sie ist Lebensart. Übrigens - der Soldat Gerhard Kaiser ist im Krieg gefallen, wir erhielten eine Todesanzeige aus Königsberg. Das alles ist so lange her, mir aber immer noch nah und unvergesslich. Ich denke gern an die »engen Tage« zurück.