Burg Lissingen - Geschichte einer Wirtschaftsburg im 20, Jahrhundert

Gerald Grommes, Trier

Auf einer Landspitze zwischen Kyll und einmündendem Oosbach erhebt sich aus der Landschaft eindrucksvoll die Baugruppe der Burg Lissingen, welche zugleich den Eingang des gleichnamigen Dorfes bildet. Bei dieser etwa zwei Kilometer vom Zentrum der Eifelstadt Gerolstein entfernt liegenden Talburg handelt es sich um den in dieser Region recht seltenen Typ einer ehemaligen Wasserburg: »Die Burg stellt eine in alten Grund und Boden hinein gebaute Wirtschaftsburg dar, die erst aus einem kleinen Burghaus mit Turm, dann immer aus zwei Burghäusern mit gemeinsamem starken Wehrturm und gemeinsamer Umwehrung bestand, mit nur einem Außentor in der Hauptfront, wie eine Wasserburg auf drei Seiten ehemals von Gräben und der Kyll auf der vierten Seite umgeben.«1 Die Geschichte der Besiedelung dieses günstig gelegenen Standortes reicht bis in römische Zeit zurück, wie aus jener Zeit stammendes und auf dem Burggelände gefundenes Baumaterial vermuten lässt. Die erste urkundliche Erwähnung vormaliger Besitzer erfolgte im Jahre 1212. Es handelt sich hierbei um die Ritter Smeych von Lissingen. Ur-

Burg Lissingen, Hoflereich.

sprünglich war die Anlage aus fränkischem Königsgut an die Abtei Prüm (Prümer Hof Büdesheim) gelangt. Mit der Burg und dem dazugehörigen Gelände wurden Ritter und Adlige belehnt, denen die Aufgabe zukam, das Territorium gegen Übergriffe anderer Territorialherren, zum Beispiel des in Gerolstein residierenden Grafen, zu sichern.

Zu Verteidigungszwecken besaß die Burganlage einen schützenden Graben, Wehrmauern und -gange sowie Schießscharten. Um auch längeren Belagerungen standhalten zu können, waren Brunnen und Zisternen vorhanden. Bei gemeinsamer Wehranlage war die Burg im Inneren bereits im Jahre 1559 in Ober- und Unterburg unterteilt worden, auch um Streitigkeiten unter Erben zu vermeiden. Man kann also bei Burg Lissingen von einer Ganerbenburg sprechen. Damals wurde eine Scheidemauer von Ringmauer zu Ringmauer durch den Gebäudekomplex gezogen. Der Teilungsvertrag zwischen den Brüdern Hugo und Gerlach von Zandt ist überliefert und lässt noch die beiden Burghäuser im heutigen Zustand erkennen: »Zum ersten ist der oberst neu buwe mit dem obersten thurm, mit dem obersten hoeff, dem porthuiß, porten und steel, weß ime obersten hof steet Hugen Tzandten zugefallen...«. Dieser Teil entspricht der heutigen Oberburg. Die ältere Unterburg wurde im Teilungsvertrag als geringwertig eingeschätzt, weshalb Hugo von Zand 400 Gulden als Ausgleich an Gerlach zahlen musste. Lissingen wurde mit der Unterstellung der Abtei Prüm unter das Kurfürstentum Trier zum trierischen Lehen und diente später als Sitz einer kleinen Herrschaft. Unter den kurtrierischen Ministerialen und späteren Freiherren Zandt von Merl wurde Burg Lissingen in die bis heute erhaltene Form gebracht. Die Burgherren hatten sich bis zum Ende der Feudalzeit im 18. Jahrhundert als Lehensträger zahlreiche Rechte und Einnahmequellen gesichert. Außerdem hatten sie durch Anschluss an die Reichsritterschaft eine gewisse Selbständigkeit erreicht. Dennoch verblieb ihnen nach dem Ende der Feudalzeit nur ein beschränkter Eigenbesitz zur Bewirtschaftung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich die Burg in wechselndem bürgerlichen Besitz. Am 30. 12. 1913 vereinigte Peter Albert Maas aus Gillenfeld (Gut Oberwinkel) erstmals nach der Aufteilung im Jahre 1559 wieder Ober- und Unterburg und legte damit den Grundstein für einen landwirtschaftlichen Großbetrieb, der in der Region um Gerolstein neue Maßstäbe setzen sollte. Schon vor Anfang dieses Jahrhunderts befand sich die Unterburg im Besitz von Verwandten. Diese hatten die Unterburg 1857 für 34.000 Taler erworben, wobei die Mühle der Burg in diesem Preis nicht inbegriffen war. Nach seiner Heirat 1899 mit Katharina Adam, der einzigen Tochter eines Weingutsbesitzers aus Kinheim an der Mosel, übernahm P. A. Maas im selben Jahr zunächst die Unterburg und begann damit, den landwirtschaftlichen Betrieb aufzubauen. Nach Angaben von Aenne Mergelsberg-Maas, einer Tochter von P. A. Maas, fiel diesem der größte Teil des Geldes für den Kauf der Oberburg durch einen »glücklichen Umstand« in die Hände; bei Umbauarbeiten in der Unterburg fanden Arbeiter in der Wand des Kapellenzimmers eine eingemauerte Geldkatze mit etwa 500 Louisdor, die vermutlich von Philip von Zandt stammten. Anfänglich war der Betrieb auf Schweine- und Rinderzucht ausgerichtet. P. A. Maas war darüber hinaus einer der Mitbegründer der Molkereigenossenschaft Trier. Der Abmelk- und Zuchtstall für Rinder auf Burg Lissingen war ausgelegt für etwa dreißig Tiere; an das Gebäude der Mühle wurde damals ein zusätzlicher Kälberstall angebaut. Die frische Milch wurde täglich um 7.00 Uhr mit dem Zug von der kleinen Haltestelle »Lissingen« nach Trier zur Weiterverarbeitung gebracht. Die Haltestelle selbst war 1903 von der Bahngesellschaft gebaut worden, nachdem P. A. Maas ein Grundstück zur Verfügung gestellt hatte. Bis 1922 wurde außerdem Schafzucht betrieben: Auf unfruchtbaren Äckern und Weiden grasten in den besten Jahren fast 350 Schafe. Im Winter wurden die Schafe in einen Laufstall auf dem Gutshof gebracht. Zum Gutsbetrieb gehörten zu diesem Zeitpunkt neben der Landwirtschaft auch eine angepachtete Fischerei, sowie

 

 

Rechnung des burgeigenen Elektrizitätswerkes von 1932.

ein eigener Jagdbezirk von 3 20 Morgen Wald. Schon vor dem Jahre 1903 stand auf dem Gut Lissingen selbsterzeugter Strom für den Eigenbedarf zur Verfügung und nach dem Bau einer separaten Turbinenkammer wurden ab 1906 zusätzlich ganz Lissingen (damals etwa 50 Häuser) sowie die kleine Bahnstation »Lissingen« mit Strom versorgt. Die notwendigen technischen Einrichtungen wie Leitungen, Verteilerkästen und Stromzähler gehörten ausnahmslos zum Elektrizitätswerk der Burg. Seit dem Beginn der Elektrifizierung wurde das Getreide über einen Elektroantrieb gemahlen - eine Neuerung, die das große Mahlwerk mit seinen steinernen Mühlrädern größtenteils überflüssig machte. Gespeist wurde die Turbine des E-Werks vom angestauten Oosbach, der direkt vor dem Gutshof in die Kyll mündete. 1907 war vom Gemeinderat ihn Gerolstein sogar der Vorschlag eingebracht worden, eine Talsperre im Kylltal zu errichten. Nachdem Winterhochwasser die technische Ausstattung des E-Werks einige Male ruiniert hatten, entschloss man sich 1921 zur Umrüstung mit einem wasserunabhängigen Deutz-Naphta-linmotor, damit die Stromversorgung der Burg und des Dorfes auch bei ungünstigen Witterungsverhältnissen gesichert werden konnte. Die Stromversorgung des Dorfes durch das burgeigene E-Werk erfolgte noch bis zum 1. April 1936. Von diesem Tag an übernahm das heutige RWE die Stromversorgung für den gesamten Kreis Daun. Die Mühle bot die Möglichkeit, nahezu das gesamte Getreide der umliegenden Felder und damit auch die Erträge der meisten Kleinbauern des Dorfes zu verarbeiten. Zum Bereich der Mühle gehörte auch die im Keller gelegene Backstube, die mit einem großen »Königswinterer Backofen« ausgestattet war. Gefeuert wurde dieser aber selbst in der Zeit nach der Elektrifizierung der Burg noch mit Holz. In der wirtschaftlichen Blütezeit des frühen Gutsbetriebes wurden dort regelmäßig bis zu 50 Brote pro Woche gebacken. So konnten auch die Arbeiterfamilien auf dem Gut versorgt werden, die vielfach in Naturalien ausgezahlt wurden. Der Mühlenbetrieb wurde nach Ende des 2. Weltkrieges eingestellt. Ein besonders schwerer Abschnitt in der Geschichte des Gutsbetriebes war zweifellos die Zeit des l. Weltkrieges. Obwohl die Kriegsschauplätze weit entfernt lagen, wurde der Krieg in wirtschaftlicher Hinsicht zu einer großen Belastung für P. A. Maas, da außer der Verpflichtung zu Lebensmittelabgaben erschwerend hinzukam, dass der größte Teil der Knechte zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Ab 1916 arbeitete eine kleinere Anzahl russischer Kriegsgefangener auf Burg Lissingen, mit deren Arbeitskraft der Gutsbetrieb aufrecht erhalten werden konnte. Nach dem Kriegsende 1918 geriet die Burganlage unter französische Besatzung.

Für die Unterbringung des höheren Militärs mussten jetzt die Zimmer, die bis dahin von Familie Maas und deren Angestellten bewohnt worden waren, geräumt werden. Auch die Eisenbahnverbindung blieb nun den Besatzern vorbehalten, so dass die frische Milch in dieser Zeit täglich mit dem Pferdewagen nach Trier gebracht werden musste. Der Widerstand der Lissinger Bürger gegen die Besatzungsmacht äußerte sich u. a. darin, dass der Bürgermeister von Gerolstein über drei Monate lang auf der Burg vor den französischen Soldaten versteckt wurde und somit einer Verhaftung entging. Er verbrachte diese Zeit in einem Zimmer im sogenannten »Taubenschlag«, dessen eigentlicher Zugang zugemauert worden war. 1925 übernahm der Sohn von P. A. Maas die Bewirtschaftung des Gutes Lissingen und führte sie fünf Jahre lang weiter. Während dieser Zeit der »Goldenen Zwanziger«, geprägt von rapider technischer Entwicklung und erneutem wirtschaftlichen Aufschwung, wurde (zusätzlich zur bisherigen Viehhaltung) mit dem Erwerb eines Zuchthengstes noch eine Pferdezucht begonnen. Auch der übrige Tierbestand konnte teilweise erweitert werden. Wegen des weltweiten wirtschaftlichen Aufschwunges und einem gesteigerten Volkseinkommen wurden Anzeichen einer erneuten Krise übersehen, die mit dem Sturz der Kurse an der New Yorker Börse am 24. 10. 1929 auch tatsächlich eintrat. Die folgende Weltwirtschaftskrise, deren Auswirkungen auch das Gut Lissingen hart trafen, führte schließlich sogar zur Aufgabe und zum Verkauf des landwirtschaftlichen Betriebes. Frau Maas schildert die wirtschaftliche Notlage: »Wir hatten gerade zweihundert Morgen Land als Weideland urbar gemacht und dreißig Jungtiere aus Ostpreußen gekauft, das war im Frühjahr 1929. Mit einer Verschlechtung der wirtschaftlichen Lage haben wir damals nicht gerechnet. Im Herbst bekamen wir noch nicht einmal den Kaufpreis der Tiere zurück, obwohl sie ein dreiviertel Jahr draußen auf der Weide gestanden und gut an Gewicht zugenommen hatten«.

Nach mehr als dreißigjähriger Bewirtschaftung des Gutes durch P. A. Maas erwarb am 1. Juli 1932 der befreundete Heinrich Greven, Inhaber der Bergischen Löwenbrauerei, den Besitz. Unmittelbar nach der Übernahme des Gutsbetriebes durch Heinrich Greven begannen Ausbau- und Renovierungsarbeiten an den Gebäuden der Burg. Diese Arbeiten zogen sich über etwa drei bis vier Jahre hin. Im Jahr 1936 wurde ein neuer größerer Kuhstall errichtet, der bereits eine moderne Milchküche mit Melkvorrichtungen enthielt. Hinzu kamen ein Kühlhaus, sowie eine Abfüllanlage für Flaschenmilch. Das Hauptinteresse Heinrich Grevens lag auf Viehzucht und Milchwirtschaft. So betrug der Viehbestand in den besten Zeiten der »Ära Greven« an die 75 Stück Großvieh. Gleichwohl wurde auch die Schweinezucht, bei der schon P. A. Maas Maßstäbe gesetzt hatte, nicht vernachlässigt. Eine Größe und Effizienz wie unter dem Vorbesitzer wurde dabei jedoch nicht mehr erreicht.

Eine Neuerung stellte die Bewirtschaftung des Gutes durch einen eingesetzten Verwalter dar. Bisher war der Gutsbesitzer stets auch derjenige gewesen, der den Landwirtschaftsbetrieb geleitet hatte. Die Bewirtschaftung des Gutes wurde in dieser neu organisierten Verwaltungsform bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges fortgeführt. Im Gegensatz zu Freunden und Jagdgästen, die in den Jahren zuvor die Burg besucht hatten, waren es nun deutsche Soldaten ständig wechselnder Regimenter, die Lissingen bevölkerten. Militärische Bedeutung erlangte Burg Lissingen dadurch, dass sich in ehemaligen Wirtschaftsgebäuden gegen Ende des Krieges ein provisorisches Gefängnis für hohe Militärs, sowie eine Befehlsstelle des deutschen Generalstabes befanden. Diese musste jedoch nach der Invasion amerikanischer Truppen dem schnellen Vordringen der US-Soldaten weichen. Nachdem Burg Lissingen einige Tage im Niemandsland lag, drang am 1. März 1945 der erste amerikanische Stoßtrupp mit schussbereiten Karabinern und Maschinenpistolen in den Burghof ein. Am 8. Juni 1945 kehrte Heinrich Greven nach Lissingen zurück und wagte einen Neubeginn. Die Burggebäude hatten zwar die Wirren des 2. Weltkrieges unbeschädigt überstanden, der Gutsbetrieb war jedoch zum Erliegen gekommen: Der Bestand an Rindern war ebenso wie die Schweinezucht bis auf ein Minimum zurückgegangen. Eine Wiederaufnahme des landwirtschaftlichen Betriebes setzte daher Neuanschaffungen voraus, was finanzielle Probleme mit sich brachte. Aus diesem Grund verpachtete Heinrich Greven 1947 das Gelände der Unterburg mit den dazugehörigen Ländereien. Die nun folgende Bewirtschaftung des Gutes brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg, so dass der Pachtvertrag in beiderseitigem Einverständnis wieder gelöst wurde.

Von diesem Zeitpunkt an übernahm der Sohn Heinrich Grevens, Dr. Heinrich Greven jun., den landwirtschaftlichen Betrieb und stellte ihn schließlich wieder auf Milchwirtschaft und Viehzucht um. Nach dieser »Rückbesinnung« auf die unter P. A. Maas begründete Tradition des auf Viehzucht und Milchwirtschaft spezialisierten modernen Großbetriebes wurde das Gut Lissingen unter wechselnden Pächtern bis 1977 weiter bewirtschaftet. Am 31. 1. 1974 verstarb Dr. Heinrich Greven jun., worauf das Gut mit allen dazugehörigen Ländereien an seine Frau gelangte. Zu diesem Zeitpunkt war das Gut noch immer verpachtet. Gegen Ende der 70er Jahre setzte eine Ent-

 

Eröffnung des ersten europäischen Kunstprojektes im Burghof Lissingen.

Wicklung ein, die von schwindender Ertragskraft in der Landwirtschaft sowie der Aufgabe vieler landwirtschaftlicher Betriebe gekennzeichnet war. Auch das Gut Lissingen blieb von dieser Entwicklung nicht verschont. Es stand von Jahr zu Jahr weniger Geld für notwendige Neuerungen und Reparaturen zur Verfügung, so dass der Maschinenpark und die Wirtschaftsgebäude immer mehr vernachlässigt wurden. Im Jahre 1977 schließlich wurde die Landwirtschaft auf Burg Lissingen aufgegeben. 1987 erwarb Dr. Karl Grommes aus Koblenz die Unterburg, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits viele Jahre leergestanden hatte, um sie wieder instand zusetzen und einer neuen Bestimmung zuzuführen; Burg Lissingen sollte mit ihrem mittelalterlichen Flair nun Ort kultureller Veranstaltungen werden. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde mit der »Sommerakademie Burg Lissingen« getan. Inzwischen fanden bereits Symposien namhafter europäischer Künstler statt, die für ihre Rauminstallationen das gewaltige Platzangebot nutzen konnten. Der kulturelle Aspekt soll aber nicht allein auf die bildenden Künste beschränkt bleiben, es sind auch Kleinkunst-, Theater- und Musikveranstaltungen sowie Marktveranstaltungen geplant. Ein Kutschenmuseum befindet sich im Aufbau. Und schon heute erwartet den Besucher eine einladende Gastronomie in der alten Burgmühle.

1 Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Zwölfter Band: Die Kunstdenkmäler des Kreises Daun, bearbeitet von Ernst Wackenroder, Druck und Verlag von L. Schwan, Düsseldorf