Spreewasser jesuff

Wie preußischer Drill in Eifeler Kuhställen Einzug hielt

Stefan Gerhard Morbach, Gerolstein

Im »Gerolsteiner Schmunzelbüchlein« ist unter dem Titel »Die Umstellung« folgende Erzählung des verstorbenen Gerolsteiner Heimatdichters Peter Morsch sen. nachzulesen:

Als »Mechel« seine Dienstzeit bei der Garde in Berlin beendet hatte, kehrte er als Gefreiter der Reserve in seine Heimat zurück.

Er nahm wieder seine frühere Tätigkeit im bäuerlichen Betrieb seiner Eltern auf, nicht ohne das militärische System auch in den bäuerlichen Betrieb zu übertragen. Seine Heimatsprache hatte er anscheinend vollkommen verlernt. Er sprach ein flottes Hochdeutsch, das mit etwas Berlinerisch vermischt war. Die beim Vieh und beim Gespann herkömmlichen Befehlsformen wurden in mi-

litärische Kommandos umgewandelt. Im Stall fing es morgens an mit: »Raustreten zum Dienst!« Das bisher angewandte »haarjo«, »hü«, »haar«, »hotz« wurde abgeändert in »Ochsen mit Wagen: Marsch!« oder »Halt!«. Dass die Tiere auf diese Neuerungen schlecht reagierten, dürfte verständlich sein. Dadurch geriet er oft in Rage. Eines Tages trat er eines der Tiere mit genagelten Schuhen gegen die Schnauze, dass ihm die Zähne bluteten. Der Ochse streckte den Kopf in die Luft und rümpfte die Nase. Da schrie Mechel: »Was, der Kerl grinst auch noch!« Ein anderen Mal lief ihm auf dem Hof die Henne mit den Küken in den Weg, und eines der Tierchen fand dabei den Tod unter seinem harten Tritt. Seine Mutter, der das nicht entgangen war und die Mitleid mit dem Tierchen zeigte, maßregelte ihn deswegen. Da entgegnete Mechel: »Ich kann doch wegen dem blöden Hinkel keinen Trittwechsel machen!« Die Mutter grämte sich auch darüber, dass Mechel seine Heimatsprache so gänzlich verloren haben sollte. Eines Tages sagte sie im Anschluss an das Tischgebet: »No-u lohte mr noch e Vatterunse bedde, dat oos Mechel de Moter sproch noch ees kret!« Ob das Gebet erhört wurde, wird nicht berichtet1. Das Gebet wurde leider nicht erhört! »Mechel« blieb bis zu seinem Lebensende den in Berlin erlernten Verhaltensmustern und Manieren treu verbunden. Hinter dem von Peter Horsch sen. verwendeten Decknamen »Mechel« verbirgt sich mein Lissinger Ururgroßvater Heinrich D. (1851-1914). Die Berichte meiner verstorbenen Großmutter und ihrer Geschwister decken sich fast einhellig mit Horschs Erzählung, auch wenn in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden muss, dass es ein weiteres Gerolsteiner Original mit ähnlichen Anwandlungen gegeben hat, dessen Biographie mit der meines Ahnherrn oftmals vermischt wurde. Jedenfalls gehen die »Hühner« - und die »Ochsengeschichte« erwiesenermaßen tatsächlich auf meinen Lissinger Vorfahren zurück.

Mit Hilfe des Standesamtes Gerolstein und mündlicher Berichte seiner Enkelkinder lässt sich das Leben Heinrichs ziemlich genau nachzeichnen. Demnach wurde Heinrich am 25. Mai 1851 als Sohn des Ackerers Johann D. und seiner Ehefrau Maria Magdalena Weber in Lissingen geboren. Seine Mutter starb bei der Geburt, der Vater heiratete aber schon bald darauf erneut, so dass Heinrich von einer fremden Mutter großgezogen wurde. Aufgrund dieser Tatsache hielt sich später in der Familie das hartnäckige Gerücht, dass Heinrich von seinen Eltern adoptiert wurde, was aber durch die Eintragungen des Standesamtes Gerolstein zu widerlegen ist.

Im Jahre 1876 heiratete Heinrich die Lissinger Bauerntochter Eleonora Hermes. Aus dieser Ehe gingen drei Töchter und ein Sohn hervor. Durch seine Heirat und kluge Geschäftigkeit konnte mein Ururgroßvater den geerbten Hof ausbauen und avancierte zu einem der Honoratioren des Dorfes.

Als langjähriger Abgeordneter des preußischen Provinziallandtages vertrat der einflussreiche Lissinger Bauer zudem die politischen Interessen der hiesigen Region. Am 18. Januar 1914 verstarb Heinrich als sogenannter »dickster« (reichster) Bauer von Lissingen und vielfacher Großvater.

Übereinstimmend mit Peter Horsch sen. berichtete auch meine Großmutter mit den Worten: »Minge Schrußvatter hätt Spreewasser jesuff«, dass ihr Großvater zu Berlin gedient und auf diese Weise Spreewasser getrunken habe. Sie war fest davon überzeugt, dass dessen Behauptungen, als Mitglied des Garderegimentes direkt vor den Privatgemächern der kaiserlichen Familie Wache geschoben zu haben, der Wahrheit entsprachen.

In jedem Falle muss die Zeit in Berlin Heinrich außerordentlich geprägt haben. Aus dem jungen Hinterwäldler aus »Preußens Sibirien« wurde in den damals üblichen zwei Jahren Wehrdienst offensichtlich ein vollkommen neuer Mensch geschaffen. Geht man davon aus, dass die Rekruten im Kaiserreich gewöhnlich im Alter von zwanzig Jahren eingezogen wurden, so begann sein neues Leben 1871 und endete mit dem Tod im Jahre 1914. Diese beiden Jahreszahlen sind nicht ganz zufällig Eckdaten einer ganzen Epoche und ihrer dazugehörigen Gesellschaft. Die Biographie Heinrichs karikiert, parodiert und entlarvt wohl eher ungewollt das Wilhelminische Zeitalter und seine militarisierte Gesellschaft. Denn nicht ohne Grund gab Heinrich seine alte Identität auf, verlernte seine Muttersprache und übertrug die in Berlin gelernten Verhaltensmuster und Manieren in solch grotesker Weise auf das bäuerliche Leben. Heinrich verließ Berlin als Gefreiter der Reserve des Garderegimentes, wobei ihm wohl die geflügelten Worte jener Zeit noch in den Ohren klangen: »Nach unten treten, nach oben einen Buckel machen!«. Wieder im tiefsten, ärmlichen Hinterland angekommen musste er fortan unter vielen Menschen leben, die gesellschaftlich-militärisch aus Berliner Sicht weit unter ihm standen. Um dem gerecht zu werden, sprach er weiterhin Hochdeutsch und trug die Nase um einige Grade höher als ein gewöhnlicher Eifeler Ackerer.

Folgerichtig ging er mit seinen eigenen »Untertanen«, dem Vieh, um. Er behandelte es mit der gleichen Härte und dem gleichen Drill, mit dem ein preußischer Unteroffizier seine Rekruten zu quälen pflegte. Und eben diese Härte hatte vermutlich wohl auch Heinrich als Rekrut einer Eliteeinheit auf eigener Haut qualvoll spüren müssen. Die Unsinnigkeit und Absurdität jener Kommandos, durch die beim traditionellen preußischen Exerzieren Menschen schikaniert, geschunden und gequält wurden, wird in dem Moment, in dem diese Befehlsformen auf Tiere übertragen werden, erst wirklich deutlich. Man kann heute nur erahnen, was der Lissinger Ackerer in seiner Berliner Rekrutenzeit wirklich erleiden musste. Bis zu seinem Lebensende genoss der wieder heimgekehrte Heinrich jedenfalls äußerlich großen Respekt unter seinen Mitmenschen. Doch das lag wohl nicht etwa daran, dass der unwirsche, für seine Sturheit bekannte Heinrich besondere Sympathien als Mensch hatte, sondern an der Tatsache, dass er als »dickster Bauer« von Lissingen die Bewohner und die Gemeinde Lissingen mit Geldern belieh. Seinen erlangten Reichtum genoss Heinrich in vollen Zügen. So soll er jeden Sonntag nach dem Hochamt den Knecht angewiesen haben, ihm Münze für Münze, seine »Goldfüchschen« (20 - Goldmark -Stücke), vor Heinrichs glänzenden Augen, auf dem Küchentisch vorzuzählen. Hinter vorgehaltener Hand schüttelten die Leute aus dem Dorf den Kopf und taten den rothaarigen Gefreiten der Reserve, der an Kaisers Geburtstag in seinem besten Anzug durch das Dorf stolzierte, als unverbesserlichen Spinner ab. Auch in seiner Familie lachte man später über die Geschichten von dem merkwürdigen Großvater und seinem grotesken bäuerlichen Militarismus. Dabei handelte es sich bei diesem Menschen zum einem um eine höchst interessante Person, die ihr Leben lang fest durch den historischen Hintergrund geprägt worden war und die bei näherer Betrachtung das Wilhelminische Zeitalter und dessen Gesellschaft Wiederaufleben lässt, zum anderen um ein »echtes Eifeler Original«, welches auch nach seinem Tode in vielerlei »Eifeler Schdeckelcher« weiterleben konnte.