Der Kreishandelsschule zum 50. Geburtstag

Ein Schüler erinnert sich

Franz Josef Ferber, Daun

Inzwischen hat sie einen anderen, zeitgemäßeren Namen bekommen, und sie ist heute ein unentbehrlicher Teil des mittlerweile außergewöhnlich vielfältigen Angebotsspektrums der Berufsbildenden Schule des Landkreises Daun. Ihre Entstehung war damals ein wichtiges schulpolitisches Ereignis. Die Rede ist von der Handelsschule Daun und Gerolstein, ihre heutige Bezeichnung: Berufsfachschule Wirtschaft.

Es begann damit, dass der damalige Gemeinderat von Gerolstein am 13. 9. 1949 beim Landratsamt in Daun beantragte, der Kreisberufsschule eine Handelsschule (in Gerolstein) anzugliedern. Das Thema stand unter Punkt 11 auf der Tagesordnung des zuständigen politischen Entscheidungsgremiums, des Dauner Kreistages. In der Sitzung am 2. Dezember 1949 wurde hierüber ausführlich diskutiert. Und am Ende ist ein Beschluss gefasst worden; er lautete: ».. .beschließt der Kreistag einstimmig die Errichtung einer Handelsschule in Gerolstein ab 1.4. 1950. Die Handelsschule ist der gewerblichen Berufsschule anzugliedern. Der Kreis übernimmt die Trägerschaft.«

Damit war es natürlich nicht genug. Prompt meldeten sich auch die Dauner zu Wort.

Amtsbürgermeister Druckes war es persönlich, der am 23. Januar 1950 an Landrat Feldges schrieb: »Der Gemeinderat von Daun hat in seiner Sitzung vom 20. 12. 1949 die Errichtung einer Handelsschule für den Ort Daun beschlossen ...« Aus der Begründung: »Seit Bestehen der Handelsschule in Mayen wird diese ständig von Schülern der Gemeinde Daun und Umgebung besucht. Gleichzeitig werden die Handelsschulen der Stadt Trier und Koblenz von Schülern des Ortes Daun in Anspruch genommen. Hierdurch entstehen den Schülern bzw. den Eltern außer den Fahrtkosten auch ständig hohe Aufwendungen für die Unterbringung der Kinder. Die Schüler selbst leiden in den Entwicklungsjahren durch täglich 3-4stündige Bahnfahrten sowie dadurch, dass sie an geregelten Mahlzeiten in der Familie nicht teilnehmen können, ständig. Der Frühzug, der morgens benutzt werden muss, verlässt den Bahnhof Daun gegen 6 Uhr und die früheste Rückkehr ist erst gegen 15 Uhr möglich. Zur Erledigung der umfangreichen Schularbeiten verbleibt den Schülern kaum die notwendige Zeit. Auch in Ortschaften, die keine Gelegenheit zur Fahrbenutzung haben, liegt das Bedürfnis vor, Kindern die Möglichkeit zum Besuch der Handelsschule zu geben...« Wie ernst es dem Herrn Bürgermeister war, ist daran zu erkennen, dass er gleichzeitig das »gemeindeeigene Gebäude, in welchem z. Zt. die Apotheke untergebracht ist«, als Schulhaus anbot. Es handelt sich um das Gebäude gegenüber dem Burgaufgang, in dem später das Arbeitsamt untergebracht war.

Dieser Antrag wurde dem Kreisausschuss zur Entscheidung vorgelegt. Er stimmte der Errichtung einer zweiten Handelsschulklasse (in Daun) zu unter der Voraussetzung, dass sich genügend Schüler meldeten. »Im übrigen«, so ist in dem Beschluss vom 11.2. 1950 zu lesen, »müssen sich die Handelsschulklassen sowohl in Gerolstein als auch in Daun, abgesehen von den Kosten der ersten Einrichtung, durch das Schulgeld selbst tragen.«

Zuvor war noch die Hohe Alliierte Kommission zu fragen. Am 3. 1. 1950 schrieb der französische Kreisdelegierte Roussel dem Landrat: »Ich habe die Freude, Ihnen mitzuteilen, dass ich keine Bedenken gegen die Einrichtung einer Handelsschule in Gerolstein habe.«

Nun ging alles ziemlich zügig voran. Fachlehrer wurden engagiert, Schulräume und Inventar bereitgestellt, Lehr- und Lernmittel angeschafft. An Schülern mangelte es nicht; für die Klasse in Gerolstein meldeten sich 55 und für die in Daun 37, aufgenommen wurden 42 bzw. 30 Schülerinnen und Schüler. Der Unterricht begann in Gerolstein am 18. April und in Daun am 2. Mai 1950. Die Unterrichtsfächer waren anfangs: Betriebswirtschaftslehre, Buchführung, Deutsch, Erdkunde, Französisch, Kurzschrift, Maschinenschreiben, Rechnen, Religion, Schriftverkehr, Sport (kaum nennenswert) und Staatskunde. Später kam Englisch als eine Art Wahlpflichtfach (alternativ zu Französisch) hinzu. 1951 wurden in Daun und Gerolstein zweite Handelsschulklassen eingerichtet. Die Errichtung einer Handelsschule war damals finanziell nicht unproblematisch. In der Festschrift »Berufsbildende Schule Gerolstein 1937-1987« ist hierüber zu lesen: »Ein nicht unwesentlicher Faktor für den Auftrieb des heimischen Gewerbes und für die Verbesserung der Allgemeinbildung des Kreises war die Errichtung der Handelsschule in dem Schuljahr 1950/51 an den Standorten Daun und Gerolstein. Für den Besuch musste eine Aufnahmeprüfung absolviert und ein Schulgeld von 20,- DM monatlich bezahlt werden. Verzug war in dieser Zeit nicht selten festzustellen. Trotz dieser Hürden waren die Klassen gut besucht. Große Schwierigkeiten bereitete dem Kreis die Beschaffung der für den Unterricht nötigen Schreibmaschinen. Eine den damaligen Bedürfnissen entsprechende Schreibmaschine kostete 500 bis 700 DM. Der Direktor der Schule verdiente monatlich 900 DM. Es war daher verständlich, wenn auch gebrauchte Maschinen erworben wurden... Wesentlich haben die Dipl.-Handelslehrerin Frau Dr. Grommes, der Dipl.-Handelslehrer Heinrichs und Frau Offermann als Lehrerin für die schreibtechnischen Fächer die Handelsschule geprägt...«

Für die Ersteinrichtung der Dauner Handelsschulklasse hatte die Gemeinde gesorgt. Die Schreibmaschinen schienen tatsächlich die dicksten Brocken gewesen zu sein. Die Verantwortlichen in der Verwaltung und in den politischen Gremien mussten sich schon etwas einfallen lassen. Am 10. 1. 1950 beschloss der Kreisausschuss: »Bei allen Dienststellen im Kreise Daun soll angefragt werden, ob sie bereit sind, dem Kreise Daun für die Handelsschule eine alte, gebrauchte Schreibmaschine zum Taxwert zu verkaufen ...« Alle öffentlichen Verwaltungen im Kreisgebiet wurden angeschrieben. Die Ausbeute war eher spärlich. Etliche boten eine einzige Maschine an, eine Bürgermeisterei erstattete sogar förmlich Fehlanzeige. Auch einige Privatpersonen konnten Schreibmaschinen entbehren. Es waren die verschiedensten Fabrikate, zum Beispiel Ideal Standard, Orga Privat, Uranie Piccola.

Aber nicht nur die Kreisbehörde als Schulträger machte sich ihre Gedanken. Sogar der Rechnungshof von Rheinland-Pfalz hatte eine Idee: Bei der Prüfung der Haushaltsrechnung des Kreises Daun 1951 hat er geraten, neben dem Schulgeld eine Schreibmaschinengebühr von l,- DM pro Monat zu erheben. Mit diesem Geld sollten Schreibmaschinen erhalten und erneuert werden. So weit ist es jedoch nicht gekommen, weil die Bezirksregierung rechtliche Hindernisse sah.

Ein Dorfjunge kommt in die »Kreisstadt«

Lange bevor ich im Herbst 1949 aus der Volksschule in Katzwinkel entlassen war, stand mein Berufswunsch so gut wie fest: Schreiber. So nannte man damals Bürokraten der öffentlichen Verwaltung. Bei diesem Ziel kam mir eine unvorhergesehene Gelegenheit zur Hilfe: die geplante Eröffnung einer Handelsschule in Daun zum 1. Mai 1950 im Gemeindehaus vis ä vis des Burgaufgangs, in dem die Adler-Apotheke während der Zeit des Wiederaufbaus ihres kriegszerstörten Hauses ihre Bleibe hatte. Dort wurde ich angemeldet. Bis es zur Aufnahme kam, war noch eine hohe Hürde zu überwinden: die Aufnahmeprüfung. Diese fand am 28. März 1950 in der alten Dauner Volksschule statt; sie wurde abgehalten vom Herrn Berufsschuldirektor Kiefer persönlich und seinem Kollegen, Herrn Diplom-Handelslehrer Friedrich Heinrichs. Zu der

 

Auf der Dauner Burg: die erste Handelsschulklasse in Daun. Mitte rechts mit verschränkten Armen: Diplom-Handelslehrer Friedrich Heinrichs. Links daneben: Lehrerin Maria Offermann. Vorne von Schülerinnen umgeben: das Pützborner Mättesjen. Aufnahme: 1950.

Prüfung hatten sich weitaus mehr Mädchen und Jungen angemeldet, als aufgenommen werden konnten. Unter ihnen waren auch solche, die sich schon an höheren Schulen benachbarter Städte -hauptsächlich in Mayen und Wittlich - versucht hatten, ohne dem Ziel spürbar näher gekommen zu sein. Und die Aufnahmewilligen waren unterschiedlichen Alters, zwischen vierzehn und dreiundzwanzig Jahren. Für Schüler mit kriegsbedingten Bildungslücken (wozu ich mich zählen musste) war die Aufnahmeprüfung, gelinde gesagt, nicht gerade eine Spielerei. Ich konnte von Glück sprechen, dass ich nachher auf der Liste stand und in die Handelsschule aufgenommen wurde.

Am 2. Mai 1950 war der Tag, an dem ich - mit knapp fünfzehn Jahren - zum ersten Mal aus der Geborgenheit und der Enge des Dorfes herausgerissen wurde. Der Schulunterricht in der »Kreisstadt« hatte begonnen. Hier Tritt zu fassen, das war gar nicht so leicht. Allerhand Molesten traten auf, die weniger mit dem Schulbetrieb, sondern mehr mit der neuen, ungewohnten Umgebung zu tun hatten. Bei den Personalien fing es schon an. Gleich an den ersten Unterrichtstagen wurden wir von dem gutmütigen Herrn Heinrichs nacheinander nach den Berufen unserer Väter gefragt. Einige meiner Mitschüler, die ebenfalls in kleinen Dörfern wohnten, gaben »Landwirt« zur Antwort. Prompt schrien einige der großdörflichen Dauner Mädchen spontan und merklich abfällig »Bauer!«. Darob war ich dermaßen eingeschüchtert, dass ich, als ich an die Reihe kam, nicht mehr so kühn war, die ganze Wahrheit zu sagen. Ich beschränkte mich auf »Maurer«. Das ist mein Vater schließlich gewesen. Er war aber, wie fast alle im Dorf, auch Landwirt. Dies verschwieg ich. Eine weitere Unsicherheit war die mangelnde Kenntnis der hochdeutschen Sprache. Wir hatten daheim nur Platt gelernt, das Hochdeutsche war bis dahin eine Art Fremdsprache geblieben, die wir nur mangelhaft beherrschten. Auch meine geradezu ärmliche Bekleidung trug nicht dazu bei, Selbstbewusstsein zu entfalten. Einer meiner Mitschüler nahm sogar Anstoß hieran. Seine taktlosen Bemerkungen taten mir weh. Ich habe sie ihm längst verziehen. Er wusste es nicht besser, an seiner guten Kinderstube hatte es gehapert, dafür konnte er nichts.

Und schließlich ist es das Schulgeld gewesen, das mich manches Mal in arge Verlegenheit brachte. Es machte im Monat zwanzig Mark aus, und es wurde anfangs bar kassiert. Der junge Beamte der Kreisgemeindekasse (so hieß die Kreiskasse damals), der Martin, und sein Kollege, Kreisinspektor Paul, kamen deswegen all monatlich in die Schule. Nicht selten, von ihnen bestimmt ungewollt, bescherten sie mir einen roten Kopf, dann nämlich, wenn ich vor der ganzen Klasse eingestehen musste, dass ich das Schulgeld nicht bezahlen konnte. Anderen erging es ähnlich, jedoch, das tröstete mich wenig. Jeder wusste, dass man deshalb einen Verweis von der Schule zu befürchten hatte.

Aus dem Schulalltag der ersten Dauner Klasse

Für die meisten der Schülerinnen und Schüler bedeutete die Aufnahme in die Handelsschule den Eintritt in eine andere Welt. Die neuen Unterrichtsfächer wurden von jedem verschieden angenommen, wobei vermutlich die Begabung des einzelnen eine wesentliche Rolle spielte. Beispielsweise war für meinen Tischnachbarn Louis das kaufmännische Rechnen mit den englischen Währungs- und Gewichtseinheiten (ohne Dezimalsystem) geradezu ein Kinderspiel. Dagegen war mir das Ganze zuwider, weshalb ich hauptsächlich in diesem Fach so gut wie nichts Gescheites zuwege brachte. Anders war es mit etlichen anderen Fächern, etwa mit Deutsch beim Lehrer Karl. Sein lebendiger Unterricht gefiel derart, dass ich mich freiwillig meldete, als es darum ging, Gedichte auswendig zu lernen und vor der Klasse frei vorzutragen. Ich hatte mich für die Ballade »Der Taucher« von Schiller entschieden. Da hatte ich leicht lachen, denn sie hatte Schulmeister Pitt Niesen uns in der Katzwinkeier Schule schon beigebracht, was ich aber dem Dauner Deutschlehrer verschwiegen habe. Ähnlich war es mit dem Französischen, das nicht ganz leicht zu lernen war. Dafür klang es in meinen Ohren wie Musik. Der Reiz dieser fremden musikalischen Sprache ließ mich sogar ein kleines Liebesgedicht lernen: »J'aime deux choses, toi et la rose. La rose pour un jour, mais toi pour toujours«. Ich habe es stets für mich behalten. Wie gerne hätte ich es dem Mädchen bekundet, das ich im stillen verehrte, jedoch, dazu hätte ich mir den Mut des Tauchers gewünscht. Und auch, um ein letztes Beispiel zu nennen, die Stenographie, ebenfalls neu und fremd, ging mir leicht von der Hand. Auf dem Stenographenverbandstag in Trier 1951 durfte ich mich stolz zu denen zählen, die beim Wettschreiben gut abgeschnitten hatten und mit einer Urkunde heimkamen.

Die Leidenszeit des Lehrers Ernst

Von Anfang an lief nicht alles so reibungslos, wie man sich dies von einer ordentlichen Schule vorzustellen hat. Zuweilen gab es Schwierigkeiten, die etliche Schülerinnen und Schüler bewusst machten. Dabei spielte der Umstand eine entscheidende Rolle, dass einer der Lehrpersonen seiner Aufgabe gesundheitlich nicht gewachsen war. Es war der Herr Lehrer Ernst, ein zweifellos fachlich qualifizierter Mann, der nicht nur die deutsche Sprache beherrschte, sondern auch fließend Französisch sprach. Von ihm hätten wir allerlei lernen können. Woran es diesem bedauernswerten Pädagogen mangelte, waren starke Nerven. Das merkten die Schülerinnen und Schüler schon bald, und nicht wenige nutzten die Schwächen des gutwilligen Lehrers - sie nannten ihn »Efut« - schamlos aus. In diesen Monaten war in seinem Unterricht meistens etwas los. Das stärkste Stück, das zwei ältere Schüler - Harry und Erich - lieferten, war die inszenierte Schlägerei im Schulflur. Sie war geplant, und wir alle wussten es. Beide verließen im Zeitabstand von etwa fünf Minuten das Klassenzimmer unter dem Vorwand, austreten zu müssen. Erich hatte rote Tinte dabei. Diese schmierte er sich ins Gesicht. Er sah fürchterlich aus. Plötzlich gab es einen scheußlichen Radau im Hausflur. Harry und Erich schlugen scheinbar brutal aufeinander ein. Herr Lehrer Ernst ahnte nichts Gutes. Er riss die Tür auf und sah die Bescherung, bemerkte aber den Schwindel nicht. Seine Nerven spielten nicht mehr mit. Spontan verließ er den Klassenraum, dann brach er zusammen. Am anderen Tag war am Schwarzen Brett auf einem großformatigen Plakat das »kriminelle« Ereignis zu lesen, in der Schlagzeile war von »Doppelmord« die Rede. Das und vieles andere war zuviel für den nervlich labilen Schulmann. Im Juli 1950, nach knapp drei Monaten Dienstzeit, reichte er bei Herrn Landrat Feldges ein »Gesuch um Entlassung aus dem Handelsschuldienst« ein. Die Gründe: sein Gesundheitszustand, besonders seine Nerven, und natürlich das Verhalten der Schüler (Anmerkung: Gemeint waren auch Schülerinnen). Ganz anders dagegen war es bei Herrn Direktor Kiefer. Ab und zu kam er von Gerolstein in unsere Schule und lehrte Staatskunde. In fast jedem dritten Satz sprach er stark betont vom »Staade«. In seinem Unterricht wagte es keiner, sich zu mucksen.

Frischer Wind

Mit diesem ganzen Spuk war auf einmal Schluss. Dafür sorgte die neue Diplom-Handelslehrerin, die äußerst couragierte Frau Doktor Gertrud. Energisch schaffte sie Ordnung, hatte allerdings Verständnis für harmlose Streiche. Sie nahm uns sogar in Schutz, wenn uns jemand ungerechterweise zu nahe kam. Was eine echte Klassenlehrerin ist, wurden wir gewahr, als es ständig Ärger mit dem Herrn Steuersekretär gab. Dieser wohnte mit seiner Familie

Handelsschulklasse Dann 1955/56 mit Diplom-Handelslehrerin Dr. Gertrud Grommes (stehend, 3. v. L) beim Ausflug nach Rüdesheim 1956. Foto: Irmgard Jegodzinski, Daun

im ersten Stockwerk des Schulhauses. Dort befand sich seit 1951 auch der Schulsaal der Unterstufe. Bei dieser Raumenge konnte es nicht ausbleiben, dass der penible Staatsdiener sich durch die Schüler belästigt fühlte; besonders von seiner Türklingel konnten diese nicht ihre Finger lassen. Er schrieb einen sechsseitigen Beschwerdebrief an den Amtsbürgermeister und den Landrat, und er führte ein langes Gespräch mit der Klassenleiterin, der Frau Doktor. Jedoch, alles half nichts. Letztlich sah sich der Amtsschreiber mit preußischen Beamtentugenden genötigt, seine Besucher vor den unartigen Handelsschülern zu warnen. Auf einem Pappschild an seiner Flurtür war zu lesen: »Vorsicht! Die Glocke ist wegen groben Unfugs der Handelsschüler von 7-13 Uhr elektrisch geladen. Ich bitte meine Besucher, sich an meiner Wohnungstüre links im Flur zu melden. Freundl.« Zu dem Schild führte ein loses Stromkabel. Aber beide Warnsignale waren nur von kurzer Dauer. Schüler unserer Klasse rissen das Warnschild herunter und hängten es neben unsere Klassenklingel, um Frau Doktor darauf aufmerksam zu machen. Kurzerhand nahm sie das Schild von der Wand und eilte, ebenfalls geladen, spornstreichs die Treppe hoch zum Herrn Steuersekretär. Dort gab es Rabatz.

Fremdsprachenwahl

Ähnlich wie die Frau Doktor hielt es auch das Fräulein Maria, unsere neue tüchtige Französischlehrerin, die im Elsaß zweisprachig aufgewachsen war. Sie scheute keine Auseinandersetzung mit ihren Schülern, wie dieses harmlose Beispiel zeigt: Er war ein durchaus friedlicher Mitschüler, der Louis aus dem Hinterbüsch. Nur hin und wieder wurde er ungehalten, etwa dann, wenn er sein »Hääft matt dääm stäiwen Dääkel« verzweifelt suchte, das sein Tischnachbar ihm heimlich stibitzt und versteckt hatte. Und wegen der Fremdsprachenwahl gab es auch einmal Krach. Der Grund: Louis flippte aus. Keiner konnte sich erklären, weshalb er, der bis dahin dem Französischen wohlgewogen war, plötzlich eine Abneigung gegen diese wohlklingende Sprache hatte. Vielleicht war er in einer konkreten Situation überfordert. Jedenfalls steckte er während des Französischunterrichts sein Französisch-Lehrbuch erbost in seine Schultasche und raffte demonstrativ sein Englisch-Buch heraus, in dem er emsig zu blättern anfing. Dabei erklärte er, seinem Schülernachbarn zugewandt, lautstark, dass er fortan nur noch Englisch lerne. Das hörte die Fachlehrerin. Ärgerlich reagierte sie: »Herr Louis, in meiner Stunde lernen Sie Französisch!« Louis, arg erregt, mit zinnoberrotem Kopf, konterte in seinem dörflichen Platt: »Esch liere erumm Äänglesch! Datt matt dääm Franziehsesche hoatt doch keene Zwääk!« Beide - Fräulein Maria und Louis - wurden ziemlich uneinig. Ihr Gezänk ging in dem brüllenden Gelächter der Schüler unter.

Unterrichtspausen

Während der Schulpausen mussten wir uns draußen aufhalten. Der Schulhof war ein öffentlicher Platz, nicht sonderlich groß, eine Art Vierseithof, rundherum mit Gebäuden umgeben (Schule, Katasteramt, Finanzamt, Cafe Schuler). In den Pausen ging es oft lustig zu. Konflikte waren in diesem engen Raum vorprogrammiert, zum Beispiel mit dem älteren Ehepaar Krauss, das im vorderen Teil des Katasteramtsgebäudes ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieb. Herr Krauss, wegen einer Beinverletzung gehbehindert, war Ausscheller der Gemeinde Daun, auf der Straße las er amtliche Bekanntmachungen vor. Frau Krauss, von barocker Körperfülle, saß zuweilen vor ihrem Lädchen. Sie wurde fuchsteufelswild, wenn beim Fußballspiel der Ball, von den Jungen ungewollt, in ihrem großen Weidenkorb bei den Fischen landete. Es war auch nicht gerade die feine Art, den Kraussens »angefressene Mohren und angefaulte Äpfel« auf ihre Angebotstafel zu schreiben, und dazu noch einen überhöhten Preis, über den die Kunden sich beschwerten. Einmal wurde Köbbes dabei von Herrn Krauss ertappt. Der Mann mit seinem steifen Bein lief dem dreisten Schüler im Schulhof nach und schimpfte auf Teufel komm raus. Ihn zu verprügeln, das gelang ihm nicht. Es war ein ulkiges Bild.

 

Die Schüler schrien, und Frau Doktor krümmte sich vor Lachen. Dagegen machte der Sparkassenangestellte - meiner Erinnerung nach war es Dores - dem auf dem Weg zum Katasteramt unversehens der Fußball wuchtig gegen den Kopf prallte, weniger Aufhebens. Er erschrak mächtig, verzog entsetzt sein Gesicht, dann ging er weiter. Einer der Klassenjüngsten, das Pützborner Mättesjen, konnte sicher nichts dafür, dass er körperlich etwas klein geraten war. In seinem Alter hatte er ja noch Zeit zum Wachsen. Einige seiner Mitschüler muss wohl der Teufel geritten haben, als sie den kleinen Kerl packten und versuchten, ihn durch das kleine offene Fenster von Schulers Backstube zu quetschen. Endziel sollte der Mehl- und Teigtrog sein. Mättesjen jedoch machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er wehrte sich wie ein Krieger und schrie wie am Spieß, so dass die Übeltäter ihn loslassen mussten. Nach einiger Zeit ordnete die Schulleitung an, die Unterrichtspausen auf dem Burgberg zu verbringen, selbstverständlich unter der Aufsicht einer Lehrperson. Damit allerdings war das Problem Schabernack nicht aus der Welt geschafft. Wir Jungen waren besonders erfinderisch, wenn es darum ging, Leute zu ärgern. Und prompt kam einer auf die Idee, das Blechdach eines Hauses unten am Burgbering mit Steinen zu bombardieren. Das gab ein Radau, der den Hausbesitzer vermuten ließ, der Zweite Weltkrieg sei immer noch im Gange. Radau gab es auch kurze Zeit später, als der zu Tod erschrockene und aufgebrachte Hausherr in unserem Klassenraum erschien, um sich über die Nichtsnutzigkeit der Schüler zu beklagen. Der schreckhafte Lehrer Ernst wurde kreideweiß, fing zu zittern an und versuchte, den ungebetenen Besucher zu beruhigen. Das gelang ihm nicht. Da griff Harry ein, der ältere Schüler aus der letzten Bank. Er rannte nach vorne und wollte den Beschwerdeführer - er nannte ihn »Hoas-seschnäida« - an der Gurgel packen. Dieser bekam es mit der Angst zu tun und machte sich schleunigst aus dem Staub. Starkes Hohngelächter der Schüler begleitete den Flüchtenden. Harry rief ihm noch ein paar Schimpfworte nach.

Unser erster Alkoholrausch

Zu den Klassenjüngsten zählten Egon, Mättesjen und ich. Ausgerechnet wir drei wollten es mal mit Alkohol versuchen, vermutlich, um uns wichtig zu machen. In der großen Pause schlichen wir uns nebenan zu Evens (sie führten damals auch noch sogenannte Kolonialwaren), und jeder kaufte sich eine Flasche Wermutwein, den billigen Fusel, den die Landstreicher zu trinken pflegten. Der Preis: 95 Pfennige pro Flasche. In die Schule zurückgekommen, trank jeder seine Flasche aus. Das musste schnell gehen, denn die Pause ging bald dem Ende zu. Es wurde eine Art Ex-Sauferei, und es dauerte nicht lange, da begann das Gesöff zu wirken. Uns ging es, wie dem Mann in der Bibel, wir hatten die Kraft des Weines nicht erkannt, wurden zunehmend betrunkener. So torkelten wir in den Unterricht, in die dritte Stunde zu Frau Offermann, die uns Steno und Maschinenschreiben lehren wollte. Mit uns war jedoch nichts mehr anzufangen, wir quatschten nur dummes Zeug. Frau Offermann bemerkte es gleich, ihr kam unser Verhalten spanisch vor, sie verstand die Welt nicht mehr. Anfangs verhielt ich mich auf meinem Platz ganz ruhig. Plötzlich wurde es mir furchtbar schlecht. Ich musste hinausgehen und mich erbrechen. Danach schwankte ich in einen Nebenraum, in dem die Schreibmaschinen aufbewahrt wurden. Dort setzte ich mich nieder, legte meinen Kopf auf den Tisch und schlief. Als ich wach wurde, war alles still im Haus, der Unterricht beendet. Ich ging zum Bahnhof und wartete auf den Zug, der erst um 15.16 Uhr abfuhr. Zwischendurch mußte ich mich noch ein paar mal übergeben, bis mein ungeübter Magen ganz leer war. Mein Bedarf an Alkoholischem war für lange Zeit und was Wermutwein angeht, für alle Zeiten gedeckt. Heute noch erregt schon der Anblick einer Wermutweinflasche bei mir einen geradezu unwiderstehlichen Brechreiz.

Der Weg zum Erfolg

Welch stabiles Fundament die Handelsschulausbildung für die verschiedenen Berufswege war, ist schon allein daran zu erkennen, dass die meisten der Schülerinnen und Schüler beruflich vergleichsweise gut vorangekommen sind. Es ist kein Geheimnis, dass damals und Jahre danach zahlreiche Arbeitgeber bevorzugt Handelsschüler beschäftigten. Darin war unsere, die erste Dauner Klasse, keine Ausnahme; eher ist das Gegenteil der Fall. Zwar hat niemand von uns den Weg nach oben so weit geschafft, wie einst der ehemalige Handelsschüler und spätere erste Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Peter Altmeier. Aber immerhin haben sich viele in der freien Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung oder im eigenen Geschäft respektabel emporgearbeitet. Die zeitweise vorherrschende und zu beklagende Unordnung in unserer Schulklasse soll nicht verschwiegen, bestritten oder verharmlost werden. Im nachhinein ist festzustellen, dass sie letztlich keinem Schüler wesentlich geschadet hat. Denn unsere Leistungen konnten sich trotz alledem sehen lassen. Wir waren beileibe keine Musterklasse. Das wird in den Schulverwaltungsakten, genauer gesagt, in einer Niederschrift über die Tagung des Berufsschulbeirats für die Kreisberufs- und Handelsschule vom 11. 7. 1950 bescheinigt, worin geschrieben steht: »Dipl.-Handelslehrer H. bezeichnet die Gerolsteiner Handelsschulklasse als eine Musterklasse. In Daun sei es schwieriger. Geistig ist die Dauner Klasse der Gerolsteiner etwas überlegen. Die auswärtigen Schüler sind in Ordnung. Die Schüler und Schülerinnen aus Daun aber nicht alle. Es sind einige »Quarta-Abiturienten« darunter, die sich noch nicht richtig einfügen können...« Der Gerechtigkeit halber muss allerdings auch dies deutlich gesagt werden: Herr Lehrer Ernst hatte es sicher gut mit uns gemeint. Er wollte uns zwei Jahre lang für unser Leben geistig ausrüsten helfen. Das ist ihm nicht gelungen. Darunter hat er ohne Zweifel gelitten. Dieses Leid haben ihm Schülerinnen und Schüler der ersten Dauner Handelsschulklasse angetan. Das war und ist, mit Verlaub, in hohem Maße beschämend, aus damaliger wie aus heutiger Sicht.