Lorenz Billigen

sollte erschossen werden

Dieter Nebendorf, Dreis-Brück

1794 fielen infolge der Revolution in Frankreich französische Truppen in die Eifel ein. Ende dieses Jahres war das gesamte linke Rheinufer mit Ausnahme von Mainz besetzt, auch Dreis und Brück waren mit Einquartierungen der verschiedensten französischen Truppenverbände belegt. Diese mussten von den Dorfbewohnern mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden. Das führte dazu, dass die Dorfbevölkerung kaum noch genug zu essen hatte und öfter Not litt. Die Männer des Dorfes wurden zu Frondiensten, wie Straßenbau, Vieh- und Pferdeversorgung, Brennholzbeschaffung und Hilfe beim Transport von Kriegsmaterial, gezwungen, so dass zur Feldbestellung und Heuernte kaum Zeit blieb. Da Dreis und Brück im südwestlichsten Zipfel des Arenbergschen Landes lagen, waren dort außer den Arenbergschen auch noch Besitzungen anderer Landesfürsten. Die Dreiser Burg gehörte den Manderscheid-Blankenheimer Grafen, der Wurmer Hof (Hof Wormerich oder Wurmerich, die Versorgungsbasis der Obereher Burg) bei Brück war derzeit Eigentum der Fürsten Metternich von der Mosel. Außerdem gab es noch Besitzungen der Gerolsteiner, der Dauner und der Kasselburger Herren. Diese Besitztümer wurden enteignet und zugunsten der französischen Staatskasse verkauft oder versteigert. Wenn aber ein Käufer glaubte, die Franzosen mit dem von ihnen eingeführten Papiergeld bezahlen zu können, lag er falsch. Die Franzosen verlangten, die kompletten Kaufsummen, alle Steuern und Abgaben, nur in Münzgeld zu bezahlen. Auch in Frankreich, im eigenen Heimatland, gab es Schwierigkeiten mit dem neuen Geld. Die Händler und die Bauern weigerten sich, ihre Ware für Papiergeld zu verkaufen, da das Papiergeld immer weniger Wert hatte.

Durch die der Bevölkerung und den Gemeinden auferlegten Kontributionen, Requisitionen, die für die besetzten Gebiete eingeführten Steuern und die Lasten der Einquartierungen, wurden die Einwohner und die Gemeinden immer ärmer. In dieser Zeit gab es auch wieder schlimme Krankheiten, die zum Teil von den französischen Truppen eingeschleppt wurden und dann in der geschwächten Bevölkerung reichlich Nahrung fanden oder die durch die in Kriegszeiten sowieso mangelnde Hygiene verbreitet wurden. Eine der schlimmsten Krankheiten, die kaum ein Betroffener überlebte, waren die Blattern oder Pocken. Wenn ein Erkrankter doch geheilt wurde, erkannte er nachher durch die schlimmen und entstellenden Narben sein eigenes Spiegelbild nicht mehr. Da hatten die Gemeinden Dreis und Brück das große Glück, dass in Dockweiler Pfarrer Hubert Schmitz amtierte, der sich um die Schutzimpfungen gegen die Pocken sehr verdient machte. Er hatte vom Jahre 1800 bis etwa 1811 über 8.000 Erwachsene und Kinder unentgeltlich geimpft und bekam dafür im Jahre 1806 von Napoleon als einziger Deutscher die Medaille d'honneur als Anerkennung für seine Dienste.

In dieser Zeit hat sich dann auch die Geschichte mit dem Franzosenkreuz zugetragen. Diese soll sich folgendermaßen abgespielt haben: In Dreis, an der alten Römerstraße in der Flur »Op Stock«, ist ein schlichtes, altes Basaltkreuz mit der eingemeißelten Jahreszahl 1812. Mit diesem Kreuz hat es eine besondere Bewandtnis. Die alte Römerstraße, von der französischen Atlantikküste über Belgien, durch die Eifel nach Koblenz und weiter quer durch die deutschen Länder nach Osten, wurde, auch noch von den französischen Truppen, die gen Russland marschierten, als Heerstraße genutzt. Viele der Truppen, die über diese Straße zogen, machten in Dreis ihre Ruhepausen. So kamen immer wieder neue Einquartierungen ins Dorf. Aus dieser Zeit berichtet T. Baur folgende Begebenheit: Als gegen Mitte Februar der Schnee plötzlich geschmolzen war, kamen täglich neue Truppen der Franzosen durch Dreis. Nach diesen ersten einzelnen Trupps folgten dann lange endlose Kolonnen Kavallerie, Jäger und Artillerie. Wenn die Truppen nach einer Nacht Ruhe wieder abrückten, blieben immer einige zurück, die fußkrank geworden waren oder durch das nasskalte Wetter schwere Erkältungen davongetragen hatten. Von der Artillerie und der Kavallerie waren gar manche zurückgeblieben, weil die Pferde dringend Schonung haben mussten. Diese Nachzügler machten sich bald breit im Dorf, raubten und requirierten auf eigene Faust, was sie nur gebrauchen konnten. Und das war nicht wenig. In der Dreiser Burg wurde eine Marschkommandantur eingerichtet. Dadurch kam allmählich etwas Ordnung in die Verhältnisse. Als nun Ende Februar wieder starker Frost mit Schneefall eingesetzt hatte, war das Dorf sehr schnell wieder von französischen Truppen überfüllt. Da es so viele Quartiere im Dorf nicht gab, mussten viele der Soldaten an den Lagerfeuern im Freien kampieren. Die Not im Dorf wurde immer größer. Es fehlte bald an allem, durch die vielen zu versorgenden Pferde gingen Heu und Stroh zur Neige. Für frisches Grün war es noch zu früh im Jahre. Der Bestand an Hühnern und anderem Kleinvieh ging immer mehr zurück. Getreide zum Mahlen und Brotbacken war so gut wie nicht mehr vorhanden und es bahnte sich eine schlimme Hungersnot an. Im Unterdorf wohnte der Tagelöhner und Holzhauer Lorenz Billigen. Während Lorenz meist im Wald arbeitete, blieb Annemarie, seine Frau, mit der alten kranken Mutter alleine im kleinen Häuschen zurück. Dieses war bisher von Einquartierungen verschont geblieben, weil es schon für die Familie Billigen zu klein war. Am Tage vor Palmsonntag waren neue Truppen, die 12. Chasseurs, ins Dorf eingerückt. Weil es sehr viele waren, hatte man die fußkranken Soldaten in der Kapelle untergebracht. Der Maire (Bürgermeister) war von Haus zu Haus gegangen und hatte Stroh in die Kapelle bringen lassen, da man die Soldaten nicht auf den nackten Steinboden der Kapelle legen konnte. Lorenz Billigen sollte mit den anderen Holzhauern im Wald Holz für die Lagerfeuer der Franzosen schlagen. So gingen denn Lorenz und sein Freund Josef trotz des sehr schlechten Wetters hinaus. Förster Stohl kam nach, um zu sehen, wieweit die Arbeit gedieh, denn es waren schon wieder neue Truppen in Dreis angekommen. Da im Dorf beim besten Willen kein Platz mehr war, musste im Steinbruch an der Steinley an einer geschützten Stelle ein provisorisches Lager aufgeschlagen werden. Schon kamen die Fuhrwerke heran, die das Holz zu den Lagerfeuern bringen sollten. Die Wagen wurden im Wald schnell beladen, dann ging es zurück ins Dorf. Die Holzhauer begleiteten die Wagen und mussten immer wieder anschieben, denn die schweren Fahrzeuge blieben in dem aufgeweichten Boden stecken. Auf der Kreuzstraße, vor Fasens Wirtschaft (Schwedenschänke, heute Schlagbaum) standen fremde Soldaten aller Gattungen. Die Gaststätte war überfüllt und die Marketenderwagen, die man im Hof hinter dem Torbogen aufgestellt hatte, dicht umlagert. In allen Sprachen ging es recht laut zu, auch alle mögliche Gesindel und lockere Frauenzimmer waren dabei. Lorenz ging müde von der anstrengenden Arbeit zu seinem Häuschen im Unterdorf. Als er über die Hausschwelle in die Küche trat, hörte er aus der Kammer die Hilferufe seiner Frau. Er stieß die Türe auf und gewahrte im Halbdunkel einen französischen Korporal, der seiner Annemarie Gewalt antun wollte. Mit einem Satz sprang er zurück in die Küche, ergriff die Axt, die er gerade dort abgestellt hatte und ohnmächtig vor Wut schlug er auf den Wüstling ein. Annemarie fiel in Krämpfe. Lorenz lief schnell zur Hebamme und holte sie zur Hilfe, da seine Frau bald ein Kind erwartete. Die alte Margrit kam herbei und kümmerte sich um die Frau. Lorenz ging in die Burg, um dem Kommandanten zu melden, was sich zugetragen hatte. Er gestand, dass er den Soldaten erschlagen habe. »Das wird euer Leben kosten«, sprach der Oberst aufgeregt. Als Lorenz mit dem Oberst und einem weiteren Offizier sein Häuschen betrat, war die Hebamme immer noch damit beschäftigt, die Annemarie ins Bewusstsein zurückzurufen. Man brachte den Erschlagenen weg. Da sprach Lorenz zu dem Oberst: »Hättet Ihr nicht auch so gehandelt, wenn Ihr an meiner Stelle gewesen wäret?« Der Kommandant, der die deutsche Sprache gut beherrschte, gewährte dem Lorenz noch die Bitte, dass er seine Frau ins Haus der Hebamme bringen konnte, wo sie auf alle Fälle ein gutes Obdach hatte. Lorenz aber wurde in einem kleinen Raum der Burg zu zwei Franzosen eingesperrt, die dort ihren Arrest zu verbüßen hatten. Am anderen Morgen ging die Schreckensnachricht von Haus zu Haus. Man stand umher und sprach von den Ereignissen des gestrigen Abends. Die Arbeit ruhte. Die Leute eilten zur Kapelle, um zu beten. Sie mussten vor der Kapelle bleiben, da ja drinnen die kranken Soldaten lagen. Um diese Zeit stand Lorenz vor den fremden Richtern. Am Mittag schallte dumpfer Trommelwirbel durch das Dorf. Ein Offizier ritt inmitten einiger Soldaten zur Hauptstraße und verlas dort das Urteil, erst in französischer, dann in deutscher Sprache. Lorenz Billigen war zum Tode durch Erschießen verurteilt worden und das Urteil sollte noch am gleichen Abend vollstreckt werden. Das Entsetzen im Dorf war groß. Keiner aß an diesem Tag etwas zu Mittag, keiner wollte sein Haus verlassen, überall wurde gebetet. Später fand man sich auf Anraten des Bürgermeisters an der Kapelle zusammen. Dem Pfarrer in Dockweiler hatte man von dem Geschehen Mitteilung gemacht. Pfarrer Schmitz war entsetzt. Er ging mit dem Küster zur Kirche, nahm das Allerheiligste und eilte nach Dreis, um dem Verurteilten beistehen zu können. Aber schon bewegte sich von Dreis herauf hinter der Eskorte der Franzosen eine lange Prozession, laut betend. Den alten Richtplatz der Dörfer Dreis, Dockweiler, Brück und Oberehe, »op Stock«, hoch über dem Dreiser Weiher, der von den vier Dörfern aus einsehbar war, hatte der Oberst auch zum Richtplatz bestimmt. Lorenz schritt aufrecht inmitten der französischen Eskorte, die von einem Offizier angeführt wurde. Die Hände waren ihm nicht gebunden. Am Richtpfahl angekommen, ertönten die Kommandos. Die Eskorte präsentierte, der Offizier verlas nochmals das Urteil. Lorenz stand ungebrochen da. Seine Gedanken waren bei seiner Frau, die nichts von seiner Verurteilung wusste. Pfarrer Schmitz war, um nicht zu spät zu kommen, schon querfeldein gelaufen. Er kam gerade an, als das Urteil verlesen wurde. Sofort schritt er auf den Oberst zu und sprach mit ihm, denn er beherrschte die französische Sprache sehr gut. Er bat zunächst, dem Verurteilten Worte der Stärkung sagen zu dürfen, um ihm dann die Beichte zu hören und die Kommunion zu spenden. Das wurde ihm bewilligt, denn der Offizier war auch ein Katholik. Der Geistliche gab dem Verurteilten das Sterbekreuz in die Hand und trat dann abermals zu dem Offizier und bat um das Leben des rechtschaffenen Mannes, der doch nur die Ehre seines Weibes retten wollte. Der Pfarrer bat so inständig, dass nicht nur der Oberst, sondern auch die Soldaten gerührt waren. Erst als der Pastor seinen Umhang über die Schulter zurückschlug und der Offizier den hohen Orden auf seiner Brust erblickte, wurde er anderen Sinnes.

Es war die Medaille d'hon-neur, die Pastor Schmitz von Napoleon für seine Verdienste bei der Pockenimpfung erhalten hatte.

Lorenz kniete vor dem Richtpfahl und der Pastor neben ihm. Der Oberst ließ die Prozession nähertreten und gab den Befehl, präsentieren zu lassen. Laut sprach er dann: »Im Namen der französischen Nation, Lorenz Billigen ist frei! Er ist begnadigt.« Da ging ein Schrei der Freude durch die Menge. Der Geistliche und Lorenz traten zu dem Oberst, gaben ihm die Hand und drückten ihren Dank aus. Die Anwesenden stimmten den Lobgesang an »Großer Gott wir loben Dich«. Kein Auge blieb trocken. Im Bruch an der Steinley wurde ein großer Stein gebrochen und daraus ein schlichtes Kreuz gemeißelt. An diesem Basaltkreuz erblicken wir heute noch die Jahreszahl 1812 und an die Stelle, wo Lorenz Billigen den Tod erleiden sollte, hat man es hingestellt, zum Dank für seine wunderbare Rettung. Heute ist in unmittelbarer Nähe ein neuer Gedenkstein mit einer kurzen, erläuternden Inschrift.

Von dieser Geschichte gibt es noch eine zweite Version: Der Oberst wollte den Lorenz trotz der Bitten von Pastor Schmitz nicht freigeben und die Entscheidung Napoleon selbst überlassen. Da schrieb Pastor Schmitz einen Brief, packte seinen Orden dazu und sandte einen Eilboten zu Napoleon. Lorenz wurde bis zur Entscheidung in der Dreiser Burg eingesperrt. Es herrschte große Freude, als der Bote nach etwa drei Wochen zurückkam und nicht nur die Begnadigung für Lorenz, sondern auch den Orden für Pastor Schmitz wieder mitbrachte.

Die Preußen kommen Nachdem Napoleons Armee in der »Völkerschlacht von Leipzig« vom 16. bis 18. Oktober 1813 vernichtend geschlagen wurde, flohen die Soldaten in Panik westwärts. Nachdem sie den Rhein überschritten hatten, setzte ihnen der preußische Feldmarschall Blücher in der Nacht vom 31. 12. 1813 zum 1. 1. 1814 in seinem berühmten Rheinübergang bei Kaub nach und vertrieb zusammen mit österreichischen und russischen Truppen die Franzosen vollkommen aus dem Rheinland und verfolgte sie bis nach Paris. Napoleon wurde gefangen und verbannt. Nachdem beim Wiener Kongress Europa neu aufgeteilt worden war, nahm Preußen am 15. April 1815 wieder Besitz von den Gebieten links des Rheines. Die Verwaltungsorganisation wurde vorerst beibehalten. Dreis und Brück gehörten jetzt zur Bürgermeisterei Dockweiler, die aber von Dreis aus verwaltet wurde. Der Kanton Daun wird zum Kreis Daun, das Arrondissement Prüm aufgelöst und das Departement Sarre in Trier wird zum Regierungsbezirk Trier. Da die französischen Oberbeamten aus den linksrheinischen Gebieten abgezogen oder vertrieben wurden, mussten kurzfristig neue Oberbeamte her. Diese wurden aus den preußischen Stammlanden hierher geschickt und traten den Dienst nicht alle mit bester Laune an. Manche benahmen sich, als ob die linksrheinischen Gebiete erobertes Feindesland wären und behandelten ihre neuen Untergebenen oft schlimmer, wie die Franzosen es getan hatten. Die Bevölkerung litt nach wie vor große Not und es dauerte lange und brauchte viel Hilfe vorn preußischen Staat, bis sich die Verhältnisse in der Eifel wieder einigermaßen gebessert hatten. Der Wald war über Gebühr durch Abholzungen für die französischen Soldaten strapaziert, es musste dringend aufgeforstet werden. Viele Felder waren verwüstet oder lagen brach und mussten erst mühevoll rekultiviert werden, ehe sie wieder Frucht trugen: Obstbäume waren zu Brennholz verarbeitet worden. Durch die Realteilung waren die Äcker so klein geworden, dass sie zur Versorgung der Familien nicht mehr ausreichten. Das Klima in der Eifel war sehr hart, einmal die Sommer zu trocken, einmal fiel zuviel Regen. Die Winter waren immer sehr kalt und sehr lang, Voraussetzungen für immer neue Hungersnöte und es brauchte fast bis zum Jahre 1900, bis sich die Verhältnisse normalisiert hatten.