Aus den Jugendjahren des Fahrrades

Gertrud Knobloch, Bonn

Man glaubt es kaum, aber das Fahrradfahren wurde erst zu Anfang unseres Jahrhunderts allmählich populär, nachdem auch der Freilauf erfunden war. Obwohl das erste Rad schon 1868 gebaut wurde, wagte sich kaum jemand auf ein solches zugegebenermaßen zuerst noch sehr unsicheres Vehikel. Zu den wenigen, die es sich zutrauten, gehörte eine meiner Großtanten. Obwohl vom Lande, wurde sie als einzige Tochter aus einer ansehnlichen Mühle keineswegs knapp gehalten und geistig aufgeschlossen, wie sie war, durfte sie als einziges Mädchen weit und breit schon um 1870 herum die »höhere Töchterschule« in der Kreisstadt besuchen, was sie wohl in einigen Dingen ihrer Familie ein wenig entfremdete. Jedenfalls wurde sie dort offenbar für etwas hochnäsig gehalten, was der folgende Kommentar ihres Vaters verdeutlicht.

Als fortschrittliche junge Dame wollte sie nämlich partout eines der ersten Vorläufer des Fahrrades, ein Hochrad haben und bekam es auch. Ihr Vater, dem das aber gar nicht passte, knurrte dazu, indem er sich mit dem Zeigefinger zuerst an die Stirn und danach auf das Hochrad deutete: »Hätt's Du he dat Ratt net, dann hätt's

Du och do dat Ratt net!« (Hättest Du hier (im Kopf) das Rad nicht, dann hättest Du auch da (das Hochrad) nicht!«) So geschehen um 1875. Viel später, zu Anfang unseres Jahrhunderts, begann das Fahrrad allmählich die heutige Form anzunehmen und fand damit auch mehr Liebhaber. Bis in die Dörfer war es aber vielfach immer noch nicht vorgedrungen und dort noch weitgehend unbekannt.

Die Leute vom Land blieben, wo sie einmal waren und mussten moderne Kommunikationsmittel wie Radio und Fernsehen entbehren. Außerdem waren die öffentlichen Verkehrsmittel noch mehr als spärlich, wie auch Geld und Zeit, sie zu benutzen. So hatte ein Knecht auf dem Hof von Verwandten noch nie ein Fahrrad zu Gesicht bekommen, als er plötzlich damit konfrontiert wurde. Ein Studiosus war es, der mit seinem neuen Drahtesel bis in den Ort vorgedrungen war, um eine Freundin zu besuchen, die er von der Schule kannte - eine entfernte Cousine, die dort gerade Ferien machte.

Als der Knecht den Sportsmann auf dem Fahrrad erblickte, rief er laut in den Hof: »0 jümmich, o jümmich

(alter Ausruf für etwa Ach herjeh!), do küt ene möt enem Drievbrett; da Käel es rosen-doll - Ach herjeh, da kommt einer mit einem Treibbrett; der Kerl ist total verrückt!