Jahrhundertwende 1899/1900

Im Spiegel von Schulchroniken

Prof. Matthias Weber, Niederbettingen

Einführung

Die »Hillesheimer denken schon jetzt an Silvester -Grober Programmvorschlag für die Feier in das neue Jahrtausend steht«. So überschrieb der »Volksfreund« ein halbes Jahr vor dem großen Ereignis seinen ersten Bericht (W vom 12./13. 6. 1999). Und einleitend hieß es weiter: »Unter dem Motto >Der Ort des Geschehens - Ihr Weg ins Jahr 2000< veranstalten die Stadt Hillesheim und die Vereine eine große Silvesterparty. Der Start in das neue Millennium wird, natürlich um Mitternacht, mit einem großen Feuerwerk gefeiert.« Ein kräftiges Bravo diesem Zeichen des Optimismus! Das zum bevorstehenden Jahreswechsel vielfach ängstlich erwartete Nullenproblem mit unseren Computern gleichermaßen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert wie zum dritten Jahrtausend nach Christus bedrückt die unternehmungs- und feierlustigen Hillesheimer danach so gut wie nicht. Wie weit die Skeptiker »etwas« recht haben werden, wird sich zeigen. Unsere Vorfahren vor 100 Jahren kannten jedenfalls solche Probleme noch nicht.

Zu Schulchroniken allgemein

Ein hohes Lob gebührt auch heute noch den Lehrern der damaligen Dorf- und Volksschulen, mögen diese Stätten ihres verdienstvollen Wirkens auch noch so verniedlichend »Zwergschulen« genannt werden. Hier sei insbesondere dankbar erinnert an eine ihrer zeitlos wirksamen Kulturleistungen, die heute - im Prinzip vergleichbar den Schriftzeugnissen aus mittelalterlichen Klosterschreibstuben - zwar längst der Vergangenheit angehören, aber auch in Zukunft sowohl unersetzbar als unentbehrlich sein werden. Gemeint sind schlicht und einfach die durchweg höchst sorgfältig geführten, ja teilweise mit kunstvollen Illustrationen geschmückten Schulchroniken. Sie sind zum großen Teil wahre Schätze an akribischer und zuverlässiger Berichterstattung und in jedem Falle Original- und Primärquellen über unsere Vergangenheit, die sie damit vor dem Versinken ins Dunkel des Vergessens bewahren. Mochten die Chronisten auch keine geschulten Geschichtsschreiber sein, an der Authentizität ihrer schriftlichen Aussagen verbietet sich in der Regel jeder Zweifel. Wurden ihre Aufzeichnungen doch gleich-

sam zweimal auf ihre Vollständigkeit, Richtigkeit und Aussagekraft hin überprüft und testiert. Zunächst durch den Ortsschulinspektor - das war normalerweise der Pastor am Ort. Dann durch den Kreisschulinspektor, den späteren Kreisschulrat. Beide »Prüfer« und »Respektspersonen« bilden auch gleichsam die Gewähr für die »Wahrheit« des schriftlich Aufgezeichneten. So war es jedenfalls noch üblich zu Kaisers Zeiten (bis 1918) in der zum ehemaligen Königreich Preußen gehörigen Rheinprovinz (Hauptstadt Koblenz), zu der auch die Eifel gehörte. Und zwar noch die ganze Eifel.

Beispiel 1:

Dohmer Schulchronik

Der kleine Brückenort Dohm im mittleren Kylltal hat schon jahrzehntelang keine Schule mehr. Bis zum Bau der Volksschule in Niederbettingen im Jahre 1913 war er auch für die Kinder des Pfarrortes der Schulort. In Wind und Wetter, besonders wenn die Kyll einmal wieder über die Ufer getreten war, und nicht immer mit geeignetem Schuhzeug, hatten sie oft ihre liebe Not mit dem damals beschwerlichen Schulweg. Die Dohmer Schulchronik gewährt auch in solche Umstände guten Einblick. Sie wurde geführt von 1874 bis 1929, also vom Kaiserreich bis nicht ganz zum Ende der ersten deutschen Republik. Der Chronist zur Jahrhundertwende 1899/1900 war der zur Vertretung des vor der Pensionierung stehenden Lehrers Eifel aus Rockeskyll eingesetzte »Schulamtsbewerber« Wilhelm Langenberg. Er kam aus Dormagen, Kreis Neuss, und hatte das Königliche Lehrerseminar zu Wittlich absolviert. Langenberg, der längere Zeit in der Dohmer Mühle von Familie Kirwel beköstigt wurde, hat uns in seiner sehr schönen Handschrift folgenden Bericht über die »Feier zur Jahrhundertwende in der Schule zu Dohm« hinterlassen: »Gemäß Allerhöchster Ordre Sr. Majestät, des Kaisers und Königs, sollte am Schlüsse des Unterrichts vor den Weihnachtsferien 1899 der bevorstehende Jahrhundertwechsel in feierlicher Weise begangen werden.

Die Feier begann mit einem Gebet. Darauf wurde von einer Schülerin das Gedicht ,Borussia' vorgetragen. Die Schüler sangen dann zusammen: ,Deutschland über alles.' Nun schilderte der Lehrer, wie bei Beginn dieses Jahrhunderts das uneinige Deutschland unterjocht und erniedrigt wurde durch Napoleon, wie es sich aber bald wieder erhob und den Feind vertrieb. Im Chor deklamierten hierauf die Schüler ,Lützows wilde Jagd' und sangen das Lied ,Auf Scharnhorsts Tod'. Weiterhin sprach der Lehrer über die Zeit Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I. bis zur Wiederaufrichtung des deutschen Kaisertums 1871. Als Deklamation folgte das Gedicht ,Sedan'. Dann wurde das Lied gesungen ,Wer ist der greise Siegesheld?' Darauf entwarf der Lehrer ein Bild der segensreichen Friedenstätigkeit Wilhelms L, verweilte bei dem Trauerjahre 1888, das uns zwei Kaiser nahm, aber auch einen neuen Hohenzollern uns zum Kaiser gab, einen Hort des Friedens und wahren Landesvater. Ein Mädchen trug das Gedicht .Frieden' vor; hierauf wurde die Nationalhymne ,Heil dir im Siegerkranz' gesungen. Beschlossen wurde die Feier durch ,das allgemeine Gebet' und das Lied:,Großer Gott, wir loben dich'.

Beispiel 2:

Bolsdorfer Schulchronik

Bolsdorf wurde ebenso wie Niederbettingen 1974 nach Hillesheim eingemeindet. Bis 1844 gehörte es als selbständige Gemeinde zum Schulverband Hillesheim, danach fünf Jahre zum Schulverband der Pfarrei Niederbettingen mit der Schule in Dohm. Ab 1849 hatte es einen eigenen Lehrer. Ab 1852 bereits als dritten Lehrer Johann Zander. »Er ist es, der mit dem Schreiben der Chronik den Anfang machte.« (J. Dissemond, in: Bolsdorfer Schulgeschichte(n), Bolsdorfer Hefte Nr. 6, 1998,5.5). Der Verfasser des Berichts zur Jahrhundertwende in der Bolsdorfer Schulchronik war wohl der hier von 1895 bis 1904 tätige Lehrer H. Monshausen. Er stammte aus dem Trierer Land. Sein knapper und ziemlich abstrakt verfasster Bericht erwähnt den damals herrschenden Kaiser Wilhelm II. nicht beim Namen, jedoch den damals regierenden Papst Leo XIII. Hier sein Text: »Bolsdorf, 23. Dezember 1899

Am Samstag, dem 23. Dezember 1899 (am Tage vor den Weihnachtsferien), fand die vom Herrn Minister des geistlichen Unterrichts u. s. w. durch Verfügung vom 13/12.1899 festgesetzte Schulfeier zum Jahrhundertwechsel statt. Die Feier wurde eingeleitet durch das Lied: ,Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten'. Sodann hielt der Lehrer einen Vortrag, in dem er den Kindern die Entwicklung unseres Vaterlandes vor Augen führte, angefangen von der tiefsten Erniedrigung bis zu seinem Glanzpunkte, den es durch Gottes wunderbare Fügung am heutigen Tage erreicht hat. Reich ist das Jahrhundert an Kriegen u. herrlichen Waffentaten, reich aber auch an großen Friedenswerken. Es wurde den Kindern gezeigt u. sie besonders erinnert an die große Friedensliebe unseres mächtigen Kaisers, und dass wir stolz sein dürfen den Namen ,Deutsche' zu tragen. Diese Friedensliebe paart sich mit der Friedensliebe unseres glorreich regierenden Papstes Leo XIII. (Erinnerung an den Erlass des Hl. Vaters zur kirchlichen Feier der Jahrhundertwende). Der Vortrag endete mit einem ,Hoch' auf Kaiser u. Papst. Darauf wurden die Lieder angestimmt: ,Heil dir im Siegerkranz' u. .Großer Gott, wir loben dich'. Hiermit war die Feier beendet.«

Beispiel 3:

Schulchronik Oberbettingen

Die Gemeinde Oberbettingen gehörte noch zur Bürgermeisterei Lissendorf, als im November 1873 ihre Schulchronik begann. Ihr erster Autor ist (noch) nicht bekannt. Ihr letzter war Lehrer Manfred Hilgers, Hillesheim. Er trug im Juli 1980 gelegentlich der Einstellung des Schulbetriebs in Oberbettingen, »der letzten Auflösung einer Schule im Kreis Daun«, (M. Hilgers) den letzten Jahresbericht (Schuljahr 1978/79) in die Chronik ein. Verfasser des Berichts über die Feier zum Jahrhundertwechsel war, der Schrift nach zu urteilen, Lehrer Peter Brand. Am 1. Dezember 1890 hatte er die Leitung der Schule zu Oberbettingen übernommen. Neben den Gesichtspunkten seiner Darstellung erscheinen vor allem das begeistert klingende Pathos seiner Schilderung und die be-

Dohmer Schulchronist Lehrer Wilhelm Langenberg, Aufnahme um 1925, Repro Nieder, Gerolstein.

 

achtlichen Geschichtskenntnisse sehr bemerkenswert. Hier sein Bericht:

»Festfeier anläßlich des Jahrhundertwechsels.

Auf Allerhöchsten Befehl Sr. Majestät des Kaisers und Königs und nach Maßgabe des diesbezüglichen angeschlossenen Erlasses des Herrn Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten wurde auch in der Schule zu Oberbettingen am letzten Tage vor den Weinachtsferien ein Festaktus anlässlich des Jahrhundertwechsels veranstaltet. Der Lehrer zeichnete in freiem Vortrag ein zusammenhängendes vaterländisches Geschichtsbild des dahingegangenen 19. Jahrhunderts. In chronologischer Aufeinanderfolge ließ der Lehrer die wichtigsten Ereignisse der vaterländischen Geschichte, soweit sie dem gemeinten Zeitalter angehören, an dem Geiste der Kinder vorüberziehen. Dabei wurde ausgegangen von dem Zwingherrn Europas, Napoleon L, welcher mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts seine siegreiche Laufbahn begann. Es wurde gezeigt, wie dieser gewaltige Mann, vom Glück begünstigt, von Stufe zu Stufe zum Gipfel seiner Macht stieg. Die Kinder hörten, wie der Korse nach Willkür Kronen und Länder verschenkte, wie er auch unserem Vaterlande die schwersten Jahre der Trübsal bereitete und mitten in denselben ein französisches Königreich aufrichtete und das deutsche Volk Jahre lang knechtete. Auch wurde den Kindern nicht vorenthalten, wie der Franzosenkaiser mit dem kirchlichen Oberhaupte verfuhr. Sie vernahmen, wie derselbe den Papst Pius VII. zum Lohn für seine Krönung zum Kaiser der Franzosen, gefangen nahm und dass derselbe längere Zeit außerhalb Roms sich aufhalten musste. Daran knüpfte der Lehrer die Erhebung Preußens, die Niederlage und den Sturz Napoleons. Die Kinder vernahmen nun auch, wie es mit dem übermütigen Herrscher vom Gipfel der Macht von Stiege zu Stiege immer mehr abwärts ging, wie er Niederlage auf Niederlage erlitt und wie er endlich im Schlosse Fontainebleau seine eigene Absetzung unterschreiben musste, in jenem selben Schlosse, in welchem er einige Jahre früher den Papst Pius VII. gefangen hielt. So lernten die Kinder schon nur (an) der Frühgeschichte des genannten Zeitalters klar das göttliche Walten erkennen, und die großartige Begeisterung und die Opferwilligkeit unserer Vorfahren von 1813 erfüllten die jugendlichen Herzen mit Achtung gegen ihre Ahnen, aber auch mit Königstreue und Vaterlandsliebe. Im weiteren Verlaufe zeigte der Lehrer, wie Preußen unter seinen tüchtigen Herrschern berufen war, nach Niederlage der deutschen Kaiserkrone und nach Auflösung des deutschen Bundes an die Spitze Deutschlands zu treten, wie es diese Stellung aber durch Blut und Eisen mit der Hilfe Gottes erkämpfen musste durch die glorreichen Siege von 1864, 1866 und 1870/71. Auch hier ließ der Lehrer ganz besonders das göttliche Walten in der Geschichte hervortreten, indem er den Neffen des Zwingherrn von 1805 u. 1807, Napoleon IIL, als Gefangenen auf Wilhelmshöhe (Schloss in Kassel, d. Vf.) zeigte, demselben Schlosse, in welchem der Bruder des Zwingherrn, Jerome, von 1807-1813 als König Westfalens residierte.

Der Lehrer zeigte dann weiter, wie die deutschen Fürsten dem Heldenkaiser Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone antrugen, ein sichtlicher Lohn der Hohenzollern für allzeit bewiesene Treue zu Kaiser und Reich in früherer Zeit. Darauf ließ der Lehrer die Kinder die großen Friedenswerke unserer drei letzten Kaiser schauen, deren Bestrebung es war und ist, ihre Unterthanen in guten und bösen Tagen glücklich zu machen. Dabei wurde auch hingewiesen auf die Palästinareise unseres regierenden Kaisers Wilhelm II., wodurch derselbe seinen Unterthanen und der ganzen Welt ein Beispiel großer Herzensfrömmigkeit zur rechten Zeit vor Augen stellte.

Schließlich wurde dann noch erwähnt, wie unser Hl. Vater, Papst Leo XIII., fürs Jahr 1900 ein großes Jubiläum angeordnet hat zum Danke des Allerhöchsten für die im verflossenen Jahrhundert der Menschheit erwiesenen Wohltaten und zur Erflehung des göttlichen Beistandes im neuen Jahrhundert. Den Schluss der Feier bildete noch ein kurzer Hinweis, wie unser Kaiser Wilhelm bemüht ist, sein Volk durch Erhaltung des Friedens einer glücklichen Zeit entgegen zu führen und wie wir verpflichtet sind, in guten und bösen Tagen allezeit kampfbereit in Treue zu ihm zu stehen.

Sodann sangen die Kinder die religiöse Hymne: .Großer Gott, wir loben dich' und die Nationalhymne: ,Heil dir im Siegerkranz'. Darauf betete die ganze Schule in dem bereits erwähnten Sinne drei Vaterunser und die Feier, welche auf die Kinder einen sichtlichen Eindruck gemacht hatte, war damit zu Ende.«

Schlussbemerkungen

Angeordnete klare, einfache und eindeutige Orientierung auf Kaiser (Reich) und Papst (Kirche) sowie Vaterlandsliebe (Patriotismus) und Frömmigkeit (Religiosität) sind wesentliche Merkmale des »Geistes« dieser Schulfeiern; zugleich auch Grenzen ihrer Themenauswahl. Militärische Siege (noch kein Weltkrieg) sind Grund des Stolzes, Deutscher zu sein. Nicht technische und wirtschaftlich-soziale Errungenschaften und Fortschritte (Industrie, Eisenbahn, Goldmark, moderne Medizin und Sozialversicherung). Internationalität personifiziert sich im »Korsen und Zwingherrn Napoleon« sowie im »regierenden Papst«. Welten klaffen zwischen dieser vergangenen Jahrhundertwende und der bevorstehenden. Noch »auf einem anderen Stern« lagen damals zwei Weltkriege, Atombombe, Vertreibung und Völkermord, Deutschlands Zusammenbruch, Spaltung und Wiedervereinigung, 50 Jahre Bundesrepublik, UNO, Europäische Union, Aufstieg und Fall des kommunistischen Sowjetreiches, Weltmacht USA, Raumfahrt und Mondlandung, medizinischer Fortschritt und weltweite Kommunikation, Umweltprobleme, Kosovokrieg der NATO nur aus der Luft, Holocaust-Denkmal und »Love-Parade« in einer Bundeshauptstadt Berlin sowie Abtreibungsdissens zwischen Staat/deutschen Bischöfen und Papst, Arbeitslosigkeit, Schuldenerlass »für die ärmsten Länder der Welt«, Globalisierung (z. B. Daimler und Deutsche Bank) und »Kölner Gipfel«. Sie machen heute Weltbild und Orientierung nicht nur für unsere Kinder und Jugend keineswegs einfach. Ob man auch diesen Themen in einer Schulchronik einmal ein »Denkmal« setzen wird? »Nix bliev wie et ess!« Und in jedem Falle zunächst einmal »Joode Rutsch!«

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