Kartoffelkäfers Reise um die Welt

Andrea Jakubzik, Köln

Als der amerikanische Insektenkundler Thomas Say im Jahre 1824 an einem Osthang der Rocky Mountains in Colorado einen hübschen, gelbbraun gestreiften Käfer entdeckte, wusste er noch nicht, dass dieser später einmal die Kartoffel - eine der wichtigsten Nahrungsgrundlagen des Menschen - diesem streitig machen würde. Thomas Say führte das charakteristisch gestreifte Insekt mit dem Namen Doryphora decemlineata in die wissenschaftliche Literatur ein. Das einen cm große Tierchen, auch als Colorado-Käfer bezeichnet und der Hauptakteur dieses Dramas, ernährte sich von der Wildpflanze Solanum rostratum, »Sandklettenkartoffel«, einem mit der Kartoffel nah verwandten Nachtschattengewächs.

Blinde Passagiere

Dieses unscheinbare Kraut, der zweite Hauptdarsteller des Dramas, gelangte um 1680 von Mexiko nach Texas, als mexikanische Viehhirten im Rahmen neu entstandener Handelsbeziehungen Rinderherden zum Verkauf nach Norden trieben. Die Rinder transportierten als blinde Passagiere Samen von Solanum rostratum, die mittels kleiner Häkchen dem Fell der Tiere anhafteten. Von Texas aus ging die Reise weiter am Fell der Bisons, die die Samen von Solanum rostratum entlang deren Wanderwegen bis hinauf nach Colorado, Iowa und Nebraska verschleppten. Auf den Spuren seiner Futterpflanze trat auch der Käfer seine Wanderung von Mexikos Hochland aus nach Norden und Osten an und erreichte schließlich die Region, in der er fast zweihundert Jahre später mit der Kartoffel zusammentreffen sollte.

Von der Zierpflanze zum Nahrungsmittel

Auch der dritte Akteur dieses Dramas, die Kartoffel (Solanum tuberosum), hatte eine lange Reise-Geschichte hinter sich, bevor der Colorado-Käfer sie als Nahrungspflanze für sich entdeckte. Bei den Andenbauern Südamerikas war sie schon eine uralte Kulturpflanze mit 2000jähriger Tradition, als der spanische Abenteurer Francisco Pizarro mit seinem Gefolge 1533 in das Reich der Inka unter dem Herrscher Atahualpa einfiel. Pizarro erkannte die Bedeutung dieser Knolle allerdings nicht. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts brachten die Spanier sie erstmals nach Europa.

Das exotische Gewächs, das zunächst als Gartenzierde galt, entwickelte sich im Laufe von zwei Jahrhunderten zu einer der wichtigsten europäischen Kulturpflanzen mit einer Vielzahl verschiedener Züchtungen. In Deutschland expandierte der Kartoffelbau erst im 18. Jahrhundert unter Friedrich dem Großen, nachdem er von diesem entscheidend gefördert worden war. Die Bevölkerung einiger Landstriche wehrte sich entschieden gegen den Kartoffelanbau, so die Stadt Kolberg in Preußen. Nach dem siebenjährigen Krieg hungerten die Kolberger daher so, dass sie einen Hilferuf zum Alten Fritz nach Potsdam schickten. Dieser ließ ihnen große, mit Kartoffeln beladene Wagen schicken. Doch die Kolberger, die ihr Gesicht nicht verlieren wollten, teilten dem Alten Fritz mit, man habe diese »Tartuffeln« zur Probe den Hunden vorgesetzt, doch selbst die hätten sie verschmäht. Man wolle ihm daher diese Früchte zurückschicken. Doch sie kamen bei ihm nie an.

Schicksalhafte Begegnung

1719 traten die Kartoffeln wiederum eine Reise über das Meer an, diesmal allerdings in entgegengesetzter Richtung. Siedler transportierten aus Irland stammende Saatkartoffeln nach Nordamerika. Mit dem Bau des »Pacific Rail-way« von New York nach Kalifornien, der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann, drangen auch die Farmer längs der fortschreitenden Bahnlinie und mit ihnen die Kartoffel als billiges Nahrungsmittel immer weiter ins Land vor. Mit dem Erreichen des Verbreitungsgebietes von Solanum rostratum und dem Lebensraum des Colorado-Käfers trafen die Schicksale der drei Hauptakteure aufeinander. Das Drama nahm seinen Lauf.

Heereszug eines Eroberers

Innerhalb kürzester Zeit entwickelte der Käfer eine Vorliebe für das in riesigen Monokulturen angebaute Kartoffelkraut, seine Fruchtbarkeit steigerte sich um ein Vielfaches und mit geradezu explosionsartiger Geschwindigkeit drang er - den Weg der Kartoffel von Feld zu Feld zurückverfolgend - immer weiter nach Osten vor. Die Verbreitung des Schädlings, jetzt auch Kartoffelkäfer genannt, mutet an wie der Heereszug eines Eroberers: 1859 wurde von Nebraska, 1860 von Kansas und Iowa »Käferalarm« gegeben, 1865 überschritt er den Mississippi und erreichte schließlich 1874 in Schwärmen von Millionen von Tieren auf breiter Front die Atlantikküste. »Zu wiederholten Malen hat man im vorigen Jahrhundert selbst in den amerikanischen Städten... Massenflüge beobachtet oder es waren Flüsse buchstäblich mit Käfern bedeckt, die auch alle schwimmenden Gegenstände benutzten, um Seen zu überqueren. In großen Mengen flogen sie in Richtung Ost auf das offene Meer. Im September 1876 wurden z. B. in Connecticut solche Mengen ertrunkener Käfer von der Flut angespült, dass von ihren Leichen die Luft wie verpestet war... In den Seebädern zertrat man sie bei jedem Schritt und nächst der Station Grindell bedeckten sie in einer Ausdehnung von einer Meile die Eisenbahnschienen derart, dass der Zug nicht weiter konnte, ehe die Schienen gekehrt und mit Sand bestreut wurden.« (WAHL 1937).

Sprung über den Atlantik und Einzug in Europa

In den Häfen standen die Schiffe quasi schon bereit, um den Käfer als blinden Passagier, der geraume Zeit ohne Nahrungsaufnahme überleben kann, über den Atlantik zu transportieren. Zwar war die Kunde von dem gefährlichen Schädling dem Käfer schon nach Europa vorausgeeilt, so dass mehrere Länder den Import amerikanischer Kartoffeln verboten, doch bereits 1876 schaffte er den Sprung über den Atlantik und tauchte in den Häfen von Liverpool und Rotterdam auf, ja, drang sogar weiter ins Binnenland vor. Bereits 1877 gab sich der Käfer auch in Deutschland bei Mülheim/Rhein und bei Torgau/ Sachsen erstmals ein Stelldichein. Sein Auftreten in Köln-Mülheim wird von GERSTÄCKER (1877) ausführlich beschrieben: »Am 24. Juni wurden dem Besitzer der Rheinischen Asphalt- und Steinkohletheer-Fabrik zu Mülheim a. Rh., Zimmermann, Käferlarven überbracht, welche auf einem am Südende der Stadt, ...an den Eisenbahndamm der Köln-Mindener Bahn grenzenden Kartoffelfelde, zuerst am 19. Juni von dem Taglöhner Chr. Wolff, mit dem Be-ressen des Krautes beschäftigt, gefunden worden waren. Kurz darauf, am 20. Juni, wurden von dem Fabrikarbeiter J. Metzmacher ... zwei mit gleichen Larven dicht besetzte Kartoffelstauden und bei weiterem Nachsuchen von dem p. Wolffauch vier Käfer, sowie verschiedene von denselben abgelegte Eierpakete am Kartoffelkraut angetroffen. Nachdem einige dem Realschullehrer a. D. Pross zu Rüdesheim a. Rh. übergebene und von diesem an A. Foerster in Aachen gesandte Exemplare als dem wirklichen Colorado-Käfer angehörig erkannt worden waren, wurde seitens der Redaktion der Kölnischen Zeitung dem Ministerium für die landwirtschaftlichen Angelegenheiten von dem Funde Anzeige gemacht.« Anlässlich dieses Ereignisses gab die in Köln ansässige Firma Stollwerck in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kleine Pappdöschen mit Glasdeckel, die Nachbildungen der Kartoffelkäfer aus Gummi enthielten, als Anschauungsobjekte heraus. Ja, seine Popularität war so groß, dass der Handel sogar Manschettenknöpfe und andere Schmucksachen mit diesem Käfer als Motiv anbot. Immer wieder tauchte er an verschiedenen Stellen auf, es gelang jedoch stets, den Schädling zu vernichten. So ließ sich der deutsche Staat zu Beginn des Ersten Weltkrieges die Beseitigung eines Herdes bei Stade an der Unterelbe 25000 Goldmark kosten. Das Sprungbrett für seine endgültige Invasion in Europa war schließlich Senejac bei Bordeaux in Frankreich, wo 1922 bereits ein Gebiet von 250 km2 von Kartoffelkäfern verseucht war. In den folgenden Jahren breitete er sich sehr rasch nach Osten hin aus und erreichte 1936 in breiter Front die deutsch-französische Grenze. Über die Pyrenäen zog er nach Spanien ein, 1937 waren die Schweiz und Holland verseucht. Das Jahr 1938 brachte warme, stürmische Westwinde und als deren Begleiterscheinung eine Massenvermehrung in Frankreich, die in einer großen Invasion des Käfers in linksrheinisches Gebiet endete. 1950 überschritt er die Oder, 1960 hatte er Polen durchquert und heute ist er bis zum Ural und nach Kasachstan vorgedrungen.

Bekämpfungsmaßnahmen

Durch rigorose Maßnahmen versuchte man, des Schädlings Herr zu werden. So erließ die deutsche Regierung 1923 eine Verordnung, gemäß der das Einführen von Kartoffeln, Tomaten, Auberginen und Johannisbeersträuchern - auch diese nutzt der Käfer gelegentlich als Nahrungspflanzen - aus Frankreich verboten war. 1935 wurde der »Deutsche Überwachungs und Abwehrdienst für die Kartoffelkäfer« geschaffen: mit regelmäßigen Absammelaktionen entfernten Schulklassen die gefräßigen Käfer und deren Larven und sorgten damit für eine Eindämmung der Plage. Befallene Pflanzen wurden vernichtet, die Böden, in denen Puppen und erwachsene Tiere steckten, unterzog man einer Behandlung mit Schwefelwasserstoff, Benzol oder Rohpetroleum, was mit enormen Umweltschäden verbunden war.

Die Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft Berlin-Dahlem berichtete über die Bekämpfung (nach DOMMRÖSE 1951): »Bis zum 27. Juli 1934 wurden 8 000 Larven, mehrere hundert Käfer gesammelt, 6 von 7 Herden entdeckt und mit Benzol entseucht. Die damaligen Maßnahmen zur Bekämpfung des Kartoffelkäfers bestanden im wesentlichen aus Absuchen, Sieben des Erdreiches, Rodung der Befallstellen und anschließender Benzolbegießung des Bodens. Dort, wo der Befall nicht so stark war, wurde mit Bleiarsenat gespritzt...« Zur Dezimierung wurden 1943 verschiedene natürliche Feinde des Kartoffelkäfers aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland eingeführt, zum Beispiel die Baumwachtel Colina virginiana, der Laufkäfer Lebia grandis und die Raubwanzenart Perillus bioculatus, doch die Einbürgerung dieser Arten misslang. Eine Reihe einheimischer Laufkäfer- und Vogelarten nutzt den Käfer jedoch als Nahrang. Der Markt für chemische Bekämpfungsmittel erlebte einen großen Aufschwung, bald wurden DDT und seine Folge-Präparate entwickelt. Heutzutage stellt der Kartoffelkäfer dank effektiver Pflanzenschutzmittel keine Gefahr mehr dar.

Leben fürs Fressen

Warum wird aus einem eigentlich harmlosen Insekt ein gefürchteter Großschädling? Nicht zuletzt deshalb, weil der Mensch riesige Monokulturen anlegt, doch es spielen auch viele Besonderheiten im Lebenslauf des Kartoffelkäfers eine Rolle, der kurz geschildert werden soll. Bei 10 bis 15° Celsius verlassen die Kartoffelkäfer ihre Winterquartiere und die zu dieser Zeit ausgesprochen fluglustigen Tiere können zur Nahrungssuche große Distanzen zurücklegen. Bald darauf begatten sie sich, die Weibchen beginnen mit der Ablage ihrer leuchtend gelben Eier auf der Unterseite der Kartoffelblätter. Nach fünf bis 15 Tagen schlüpfen die etwa zwei mm großen Larven, die sich künftig ganz der Vernichtung der Blätter widmen, in die sie, auf dem Blattrand reitend, bogenförmige Ausbuchtungen hineinfressen. Nach drei Wochen mit drei Häutungen sind die Larven mit 15 mm ausgewachsen, sie ziehen sich in die Erde zur Verpuppung zurück. Wiederum temperaturabhängig nach 10 bis 25 Tagen verlassen die fertigen Käfer dieses Quartier und suchen Kartoffelpflanzen auf, um einen etwa 14tägigen Reifungsfraß durchzumachen, an dessen Ende die Tiere bereits fortpflanzungsfähig sind. Zur Überwinterung ziehen sich die Käfer etwa einen halben Meter tief in den Boden zurück.

Die Schädlichkeit des Käfers erwächst aus drei bemerkenswerten Eigenschaften:

1. auf hervorragendem Flugvermögen beruhende Ausbreitungstendenz

2. enorme Fruchtbarkeit (bis zu l 600 Eier pro Weibchen)

3. Gefräßigkeit seiner Larven (3 5-40 cm2 große Blattfläche pro Individuum)

Durch den Verlust grüner Blattfläche werden die Pflanzen so geschädigt, dass die Knollenbildung unterbleibt.

Ausblick

Die Erfolgsgeschichte des Kartoffelkäfers ist ein hervorragendes Beispiel für die Komplexität des Faktorengefüges, das einen Organismus schließlich zu einem massiven Nahrungskonkurrenten für den Menschen macht. Führen wir uns noch einmal die einzelnen Stationen vor Augen. Von Seiten des Käfers waren die Vorbedingungen:

• Die Entwicklung von Handelsbeziehungen, die die Ausbreitung seiner Futterpflanze bis nach Texas ermöglichten.

• Die Wanderung der damals noch großen Bisonherden,

 

die die Futterpflanze bis in das Zentrum der Vereinigten Staaten trugen. Durch den Eisenbahnbau, der zur fast vollständigen Vernichtung der Herden führte, wäre dieser Sprung später schwieriger gewesen. Für die Kartoffel war ausschlaggebend:

• Ihr Import aus Südamerika nach Europa und ihr Aufstieg in der Alten Welt zur bedeutenden Kulturpflanze.

• Die Tendenz der Europäer, bei der Besiedlung anderer Kontinente ihre gewohnten Kulturpflanzen aus Europa mitzubringen.

• Die verkehrstechnische Erschließung ganzer Kontinente, die eine rasche Ausbreitung europäischer Landwirtschaftsformen extrem förderte.

Gerade die Entwicklung des Verkehrspotentials verhalf dann auch dem Kartoffelkäfer zu seinem Siegeszug, nachdem er sich die Kartoffel bei dem Zusammentreffen beider Organismen im Zentrum der Vereinigten Staaten als Nahrungspflanze erschloss. Wer hätte schon vorhersagen können, dass sich die durch viele Zufälle bestimmten Ausbreitungswege, die sich nach einem Zeitraum von fast zweihundert Jahren kreuzen, zu der oben geschilderten, für den Menschen katastrophalen Begegnung führen würden. Dabei haben wir nur ein Beispiel vor uns, das durch eine zunehmende Zahl von Fällen ergänzt werden könnte (KEGEL 1999). Da gerade lange Zeiträume die Entwicklung eines eingebürgerten Organismus zu einem Schädling kennzeichnen, sollte man auch bei der Freisetzung von genetisch veränderten Spezies entsprechende Vorsicht walten lassen.

Literatur

DOMMRÖSE, W. (1951): Der Kartoffelkäfer. - Die Neue

Brehm-Bücherei, Heft 37, Leipzig.

GERSTÄCKER, A. (1877): Der Colorado-Käfer (Doryphora decemlineata) und sein Auftreten in Deutschland. - Im Auftrag Kgl. preuß. Min. landw. Angel. 84 S., Kassel. KEGEL, B. (1999): Die Ameise als Tramp. Von biologischen Invasionen. - Zürich. KEIL, M. (1986): Käferleben. -Edition lebendiges Wissen l, Stuttgart

KEMPER, H. (1968): Kurzgefasste Geschichte der tierischen Schädlinge, der Schädlingskunde und der Schädlingsbekämpfung. - Berlin, 381 S.

KÖTHE, R. (1998): Käfer auf Weltreise. - Kosmos 7, 29-33. WACHENDORF, F. LÖHR vom (1954): Die große Plage. -Frankfurt.

WAHL, B. (1937): Der »Kolorado- oder Kartoffelkäfer«, Beilage zu »Neuheiten auf dem Gebiete des Pflanzenschutzes«. - Wien.