Luba,

das Mädchen in der Steppjacke

Hildegard Dümmer, Hillesheim

Als vor einigen Jahren die ersten Steppjacken als modische Neuheit auf dem Kleidermarkt angeboten wurden, konnte ich mich lange Zeit nicht dazu entschließen, ein solches Exemplar zu erstehen, geschweige denn zu tragen. Zu viele Erinnerungen kamen in mir beim bloßen Anblick dieses wärmenden Kleidungsstückes hoch; Erinnerungen an den 2. Weltkrieg, den ich als Kind von fünf Jahren noch in der Endphase erlebte. Erinnerungen an die vielen gefangenen Russinen und Russen, die zu dieser Zeit nach Deutschland gebracht und hier vorwiegend auch als Hilfskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Sie alle waren in diese hässlichen, schmutzig-grauen Steppjacken gehüllt, die ich schon als Kind nicht leiden mochte.

Mein Vater, der bis dato vom Kriegsdienst freigestellt, nun auch seinen Stellungsbefehl erhalten hatte, war in großer Sorge, wie meine Mutter mit drei kleinen Kindern, deren ältestes ich war, die schwere Arbeit auf einem Bauernhof alleine bewältigen sollte. So entschlossen sich meine Eltern, eine junge, hilfswillige Russin aufzunehmen, die ihnen zur Hand gehen konnte. Sie sollte es gut bei uns haben.

Den Tag ihrer Ankunft in unserem Hause werde ich nie vergessen. Wir erwarteten unseren Gast in der kleinen Wohnküche. Auf der harten Holzbank hinter dem schweren Eichentisch sitzend hatten wir Kinder den Blick mit großer Spannung auf die Tür gerichtet, als diese plötzlich von außen aufgestoßen und ein sich heftig sträubendes junges Mädchen von zwei deutschen Soldaten hereingeschoben wurde. Alle Beschwichtigungen der jungen Soldaten und unserer Mutter missachtend, blieb sie weinend und schimpfend an der Tür stehen. Es war Luba, die junge Russin aus Rostow, 21 Jahre alt, blond, blauäugig, bekleidet mit einem rot-weiß getupften Sommerkleid, darüber die unvermeidlich hässliche, jedoch wärmende Steppjacke, die zum Markenzeichen für alle gefangenen Russinen und Russen wurde. Ihr trotziger Blick und ihre Abwehr waren uns unverständlich, denn wir freuten uns über ihren »Besuch«. Schließlich nahm sie doch die Einladung unserer Mutter an und setzte sich zu uns Kindern auf die Bank. Hunger und Durst zwangen sie endlich, ihr Widerstreben und ihr Misstrauen aufzugeben und sich den angebotenen Speisen zu widmen. Immer wieder griff sie zu und aß und aß und aß. Uns war es unvorstellbar, welch große Mengen an Butterbroten, Eiern und Bratkartoffeln ein so junges Mädchen in sich hineinstopfen konnte. Als sie schließlich satt war hörten die Tränen auf zu fließen, der trotzige Blick wich einem Lächeln. Vielleicht spürte sie, dass wir es gut mit ihr meinten. Dann führten wir sie auf ihr Zimmer. Schmutzige und zerrissene Kleidungsstücke wurden aussortiert und gegen saubere ausgetauscht. Die hässliche Steppjacke verschwand im Kleiderschrank und wurde nicht mehr gesehen bis zu dem Tag, an dem Luba uns verlassen musste. Sie blieb bis zum Ende des Krieges bei uns, half meiner Mutter in Haus, Garten, Stall und Feld und war besonders uns Kindern sehr zugetan. Häufig bekam sie Besuch von ihren Freundinnen sowie ihrer jüngeren Schwester Anna, die auch alle im Dorf untergebracht waren. Abends saßen dann alle in unserer kleinen Stube, erzählten, lachten, sangen, oder Luba las ihnen die mitgebrachten Briefe aus der Heimat vor. Luba war nämlich in ihrer Heimat bei der Post beschäftigt gewesen und sehr gewandt in Wort und Schrift.

Mein Vater war inzwischen lange eingezogen und befand sich mittlerweile auf dem Marsch nach Russland. Die Post kam nur noch spärlich an. Es war eine sehr Ungewisse und sorgenvolle Zeit für uns mit all den Entbehrungen, die ein Krieg mit sich bringt. Luba fasste Vertrauen zu uns und wir auch zu ihr. Das bewiesen einige Episoden aus diesen Tagen. Lange bevor mein Vater den Stellungsbefehl in der Hand hielt, hatte er schon zusammen mit unserem Nachbarn begonnen, im nahegelegenen Wald einen Bunker zu bauen. Nun, da der Tag der Abreise immer näher rückte, wollte er seine Familie nicht unversorgt zurücklassen. So beschloss er, in der Nacht mit Hilfe des Nachbarn, ein Rind zu schlachten. Als Luba des anderen Morgens den Stall betrat, um das Vieh zu versorgen, fiel ihr sofort das Fehlen eines Tieres auf. Aufgeregt stürzte sie zu uns in die Küche und rief immer Wieder: »Madame, Kuh fort!« Meine Mutter war recht verlegen und nicht weniger aufgeregt. Wie sollte sie ihr das Fehlen des Tieres erklären, ohne selbst in Gefahr zu geraten; denn das »Schwarzschlachten« war bei hoher Strafe verboten. Schließlich klärte sie Luba über das Verschwinden des Tieres auf. Diese verstand sofort und versprach zu schweigen, was sie auch tat. Einen weiteren Beweis ihrer Zugehörigkeit zu unserer Familie lieferte sie kurz vor dem Ende des Krieges, als die im Dorf stationierten Soldaten Hals über Kopf abziehen mussten und im nahe gelegenen Wald mehrere Lastwagen mit Versorgungsgütern zurückließen. Sie waren zum Plündern freigegeben worden. Fast alle Leute des Dorfes machten sich auf und kamen schwerbeladen zurück. Lediglich unsere Mutter wollte so etwas nicht tun und verbot auch uns Kindern den Weg zu den »Schätzen«. Luba jedoch ließ sich nicht aufhalten und kam mehrmals mit Decken, Schuhen, Socken, Herrenunterwäsche und dergleichen schwer beladen nach Hause zurück. Sie beschenkte uns alle und bedachte auch unseren Vater, der noch im fernen Russland weilte. Jetzt konnte sie für uns sorgen, denn bald sollte sie frei sein. Kurz bevor die Amerikaner einmarschierten, wurden alle russischen und polnischen Gefangenen in ein Haus am Rande des Dorfes gebracht, wo sie auf den Rücktransport in ihre Heimat warten sollten. Von hier aus unternahmen dann viele von ihnen Raubzüge in die nähere Umgebung und feierten Orgi-

Kartoffelernte in der Eifel, auf dem Feuerberg bei Berlingen, Luba, rechts im Bild und das Polenmädchen Soße machen Kaffeepause.

en mit den erbeuteten Spirituosen. Luba aber gefiel dieses Treiben nicht. Sie kam zu uns zurück und wollte bei uns bleiben. Schließlich sollten sie doch noch vor dem Einrücken der Amerikaner alle abtransportiert werden. Luba, nichts Gutes ahnend, packte des Abends kurzentschlossen ihr Bündel, - Mutter gab ihr nebst Brot, Butter, Schinkenspeck, einer Thermoskanne mit »Muckefuck« auch noch eine Reihe guter Ratschläge mit auf den Weg -, zog ihre unvermeidliche Steppjacke an und verschwand. Wir waren alle sehr traurig und machten uns große Sorgen um sie. Etwa vierzehn Tage danach klopfte es spät abends an unsere Haustür. Als Mutter öffnete, stand eine graue, ausgezehrte, schmutzige und verhärmte junge Frau vor ihr. Es war Luba. Hungrig und durstig machte sie sich über das dargebotene Essen her, wusch sich, schlief ein paar Stunden und verschwand wieder in der Morgendämmung, wohlversorgt mit Nahrung, Kleidung und wärmenden Decken, eingehüllt in die graue Steppjacke. Es war das letzte Mal, dass wir sie sahen. Über ihren zwischenzeitlichen Verbleib hatte sie kein Wort verloren. Sie wollte unsere Mutter wohl nicht in Schwierigkeiten bringen. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Auch unser Vater kehrte nicht mehr zurück. Über seinen Verbleib wissen wir so gut wie nichts. Als letzte Nachricht erhielten wir im Januar 1945 einen Feldpostbrief mit Weihnachtsgrüßen aus Russland. Er ist bis heute vermisst. Diese Ungewissheit über zwei Menschenschicksale zermürbt und beschäftigt mich bis heute. Es sind oft Kleinigkeiten, wie der Anblick einer simplen Steppjacke, die in uns wehmütige Erinnerungen hervorrufen und uns traurig stimmen.

Schließlich habe ich mich doch noch zum Kauf einer modischen Steppweste durchgerungen und auch, sie zu tragen. Aber es ist mir nicht gelungen, die traurigen Erinnerungen meiner Kindheit auszulöschen. Die Gedanken an Luba, das Mädchen mit der Steppjacke werden mich noch oft begleiten. Ob sie je wieder in ihre Heimat zu ihrer Familie zurückgekehrt ist, nach Rostow in die Perowa-Straße?