Jannesjusep im Mühlenteich

Peter Metzen

Wer auf dem kürzesten Weg von Esch nach Dahlem will, muss am Heidenkopf vorbei durch einen Waldweg am Kirchenbusch. Es ist weit und breit bekannt, dass es im Kirchenbusch spukt. Der Sage nach hat ein Pastor von Dahlem aus Leidenschaft zur Jagd kirchliche Verpflichtungen ständig vernachlässigt. Nachdem er einmal eine Vesper vorzeitig abgebrochen hatte, um mit Graf Beissel von Schmidtheim in seinem Jagdrevier im Kirchenbusch zu jagen, kehrte er nicht wieder zurück. Nach längerem Suchen wurde Graf Beissel bewusstlos gefunden, vom Pastor fehlte jede Spur. Als ein Pater aus Alendorf, der seither die Vertretung übernommen hatte, einmal auf dem-Weg nach Dahlem durch den Kirchenbusch ging, begegnete ihm der Pastor, von seinem Jagdhund begleitet, als singendes Gespenst. Der Pater, der den lateinischen Gesang als Schlussworte der vorzeitig abgebrochenen Vesper verstand, führte gemeinsam mit dem Pastor den Gesang zu Ende, wonach dann das Gespenst verschwand. Diese Spukgeschichte war häufig Gesprächsthema, wobei hin und wieder Leute behaupteten, beim Gang durch den Kirchenbusch das singende Gespenst wahrgenommen zu haben.

Jannesjusep, ein mutiger, kräftiger Bursche aus Esch, trifft sich regelmäßig mit seinen zwei Freunden beim Frühschoppen. Auch hier ist die Spukgeschichte häufig Gesprächsthema. Da er öfter bei Tag oder Nacht durch den Kirchenbusch nach Dahlem muss, weiß er seinen Freunden die abenteuerlichsten Begegnungen mit dem singenden Gespenst zu erzählen. Anfangs ist ihm dabei unheimlich zumute gewesen. Er ist aber dann tapfer und gefasst auf das singende Gespenst losgegangen, wonach es dann stets verschwand. Den beiden Freunden, die fest an die Spukgeschichte glaubten, wurde es schauerlich dabei. Sie bewunderten zwar den Mut von Jannesjusep, fanden aber die Erzählungen doch etwas übertrieben und planten, ihn bei Gelegenheit auf die Probe zu stellen. Es war die Zeit der Heuernte gekommen, das Wetter schien beständig zu sein. Wie alljährlich ging Jannesjusep mit den beiden Freunden nach Dahlem zur Kläsmühle, die großen Wiesenflächen mit der Sense zu mähen. In aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang, machten sie sich mit der Sense, dem Dengelzeug über der Schulter hängend und dem Schlotterfass am Gürtel, auf den Weg. Sie erhofften sich hierbei eine Gelegenheit, ihr Vorhaben verwirklichen zu können. Einer der Freunde packte ein weißes Bettlaken ein, um sich abends als Gespenst verkleiden zu können. Wortlos und gespannt gingen sie durch den Kirchenbusch, ohne jede Spur des Gespenstes wahrzunehmen. In der Kläsmühle angekommen, begannen sie sofort mit dem Mähen, und sie mähten bis kurz vor Mittag. Nach einer Pause im Schatten mähten sie dann weiter bis zur Abenddämmerung. Kurz gestärkt beim Kläsmüller packten sie ihre Werkzeuge zusammen und begaben sich auf den Heimweg. Zuvor hatten die beiden Freunde Jannesjusep unbemerkt das Dengelzeug in der Hoffnung versteckt, dass er dies erst später vermissen würde. Als sie nun ein Stück gegangen waren, merkte Jannesjusep, dass er sein Dengelzeug, das normalerweise über der Schulter hing, nicht bei sich hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zurückzugehen, um es zu holen. Denn er hätte am folgenden Tag, ohne die Sense zu dengeln, nicht weiter mähen können. Die beiden Freunde versprachen, zu warten, bis er zurück sei. Als Jannesjusep eine gewisse Entfernung von seinen Freunden hatte, verkleidete einer sich mit dem Bettlaken als Gespenst und eilte Jannesjusep in einem Abstand nach, wo man noch eine Gestalt wahrnehmen, aber nicht mehr genau erkennen konnte. Durch Kirchengesang machte er auf sich aufmerksam. Als Jannesjusep das Gespenst gewahrte, zeigte er sich zunächst, wie er stets erzählte, mutig. Aber diesmal verschwand das Gespenst nicht und näherte sich ihm. Darauf ergriff er die Flucht und schrie um Hilfe. Auf dem Fluchtweg musste er dicht an dem Mühlenteich vorbei. Ein Ausweichen war nicht möglich, die Gestalt näherte sich ihm zunehmend. Kurz entschlossen sprang er in seiner Verzweiflung in den Mühlenteich, um dem Gespenst zu entkommen. Hiernach verschwand es. Durch die steilen Ufer war es nur mit größter Mühe möglich, aus dem Teich herauszusteigen. Nach längeren Hilferufen waren seine Freunde nun bald zur Stelle und zogen ihn aus dem Teich. Auf die Frage, was denn vorgefallen sei, konnte er vor lauter Schreck nur antworten: »Das Gespenst hat mich verfolgt!« Es war mittlerweile dunkel geworden, als sie den Heimweg gemeinsam antreten konnten. Wohlgemut waren die beiden Freunde beim Gang durch den sagenumwobenen Kirchenbusch und voller Freude über den gelungenen Streich. Wie es Jannesjusep, der von dem wirklichen Vorgang nichts ahnte und vom Gespenst überzeugt zumute war, ist leicht vorstellbar. Niemals aber hat er es nochmals gewagt, von dem Gespenst zu reden. Nach wie vor glaubte er an die Spukgeschichte und war nur schwer von der Begebenheit, wie sie sich wirklich zugetragen hatte, zu überzeugen. Bis heute ist der Spuk im Kirchenbusch mit seiner Vorgeschichte im Volksmund als wahre Begebenheit lebendig geblieben.