Überlieferte Erzählung

aus dem vorigen Jahrhundert

Therese Schneider, Brockscheid

Burgen, Schlösser, alte Mühlen und zerfallene Häuser waren seit eh und je sagenumwoben. So wurden auch um die ehemalige Brockscheider Mühle im Liesertal mancherlei Geschichten erzählt. Eine davon ist diese: Zigeuner lagerten - länger als es den Bewohnern recht war -in der Nähe der Mühle. Doch um des lieben Friedens willen zeigten sie gute Miene. Denn wer hätte gewusst, ob sich die Zigeuner nicht durch eine böse Tat an den Müllersleuten rächen würden? Tagsüber blieb es im Lager ziemlich ruhig. Morgens, wenn die Männer die Pferde gefüttert hatten, sah man sie kaum noch. Dann begaben sie sich in die umliegenden Dörfer, um für die Pferde Futter herbeizuschaffen oder auch ein »Händelchen« abzuwickeln. Denn irgendetwas hatten Zigeuner immer zum Verhandeln, so zum Beispiel selbstgefertigte Stöcke, bilderrahmen oder auch ein altes Musikinstrument. Da viele Zigeuner musikalisch waren, besaßen sie die verschiedensten Instrumente. Oft hat man erlebt, dass ein ganz alter Zigeuner-Mann noch virtuos Geige spielte. Die Frauen hatten mit den Kindern und den älteren Familienmitgliedern zu tun. Da es sich um eine große Sippe handelte, waren es viele, die versorgt werden mussten, denn das konnte man den Zigeunern nachsagen; sie hatten viel Familiensinn. Keiner wurde im Stich gelassen oder blieb auf sich allein gestellt. Jeden Morgen kam eine der ältesten Frauen zur Mühle und bat um ein Kännchen Milch für die kleineren Kinder. Der Müller sah es sehr ungerne, wenn seine Frau der Alten Milch gab. Aber die Müllerin hatte ein gutes Herz, und da sie öfters nachts die Kinder weinen hörte, tat sie es immer wieder, trotz der Einwände ihres Mannes. Abends, wenn die Sonne lange Schatten warf, kam Leben ins Zigeunerlager. Zuerst kamen die jüngeren Frauen mit den Kindern um sich und die Kleinen im Lieserbach zu waschen; es war Hochsommer und das Wasser angenehm erwärmt. Wenn die Prozedur beendet war, gingen auch alle anderen zum Bach und wuschen sich. Die jungen Frauen trockneten ihre langen, schwarzen Haare in der Sonne, banden schöne Bänder darum, dann zogen sie lange bunte Röcke und frische Blusen an. Zwei Männer hatten inzwischen ein riesiges Feuer angezündet und als reichlich Glut entstanden war, legten sie Fleischteile hinein.

Ein penetranter Geruch durchzog das Liesertal, so dass die Müllersleute annahmen, es handele sich bei dem Fleisch um nicht sorgfältig vorbereitetes Wildbret, das die Zigeuner im nahen Wald erlegt hätten.

Alle kamen ans Feuer, ließen sich dort nieder, um sich am Essen und Trinken gütlich zu tun. Die aufkommende gehobene Stimmung ließ darauf schließen, dass auch Alkohol getrunken wurde. Bald erklang ein Musikinstrument, dazu wurde gesungen und im schnellen Rhythmus getanzt, so dass die Röcke der Frauen hochflogen und im Kreise wirbelten. Die Müllersleute schauten dem munteren Treiben eine Weile zu und dachten wohl, wie leicht sich diese Menschen, die fast nichts ihr Eigen nannten, das Leben machten. Unbeschwert lebten sie in den Tag hinein, wogegen andere, Bodenständige, oft schwer unter dem Schicksal ihres Lebens zu leiden hatten. Gerne hätten sie sich Schlafen gelegt, doch der Lärm der Zigeuner war noch lange nicht abgeklungen. Bis tief in die warme Sommernacht hinein, amüsierte sich das fahrende Volk am Feuer. Als eines Morgens die alte Zigeunerin wieder kam und wie gewöhnlich um Milch bat, zog sie aus ihrer Rocktasche einen wunderschönen Kamm und steckte ihn der Müllerin ins Haar. Einen so schönen, mit glitzernden Steinen besetzten Kamm hatte sich die Müllerin schon immer gewünscht. Die Zigeunerin sagte, dies sei der Dank für ihre Güte. Die beiden Frauen kamen miteinander ins Gespräch, in dessen Verlauf die Zigeunerin die Hand der Müllerin nahm, um darin zu lesen. Staunend hörte sie zu, was die alte Frau aus ihrer Hand lesen konnte. Unter anderem wusste sie auch, dass die Ehe der Müllersleute kinderlos geblieben und deshalb nicht sehr glücklich war, was die Müllerin bejahte. Die aus der Hand-Lesende tröstete jedoch die Müllersfrau mit den Worten, dass doch einmal ein Ereignis eintreten würde, das ihrem Leben eine frohe Wende brächte. Dann verließ die Zigeunerin die Mühle, ohne sich noch einmal umzusehen. Als das Müllerehepaar am nächsten Morgen aufstand, sahen sie, dass das Zigeunerlager geräumt war. Der Müller ging hin und fand den Platz ordentlich vor. Gerade wollte er sich entfernen, als er ein leises Geräusch vernahm, dachte aber, die Laute kämen von einem Vogel oder einem Stück Wild das klagte im Wald. Doch dann ging das leise Klagen in ein Wimmern über, das aus einer dicken Hecke kam. Der Müller ging darauf zu und entdeckte ein Kind, das in eine Pferdedecke eingewickelt war. Entsetzt hob er das Bündel aus der Hecke, lief eilends zur Mühle und übergab das Kind seiner Frau. Beide waren sie der Meinung, daß die Zigeuner das Kind zurückgelassen hätten. Die Müllerin nahm sich des Kindes an - ein Bübchen, etwa ein Monat alt, das sie nun versorgte. Der mütterliche Instinkt sagte ihr, was hier zu tun war. Der Müller spannte die Pferde an und fuhr den Zigeunern hinterher, was sich schwierig erwies; sie hatten mehrmals die Richtung gewechselt und waren in Brockscheid und Tettscheid nicht gesehen worden. Wahrscheinlich waren sie schon in der Nacht losgefahren und hatten über Wald- und Feldwege das Weite gesucht, um so, das dachte der Müller, nicht so leicht eingeholt zu werden. Denn für ihn stand fest, dass sie ihre schändliche Tat verschleiern wollten.

Schließlich fand er sie doch auf in einem Waldstück zwischen Daun und Darscheid. Mit scharfen Worten sagte er ihnen, dass sie ein Kind zurückgelassen hätten, worauf die Zigeuner drohend auf ihn zu kamen. Voller Zorn stritten sie die Aussetzung des Kindes ab. Eine junge Frau schrie ihn an und sagte, dass sie niemals ein Kind im Stich lassen würden. Einer der älteren Männer drohte, die Hunde von den Ketten zu lassen, wenn er nicht sofort ihr Lager verlassen würde. Dem Müller blieb nichts anderes übrig, als den Rückweg anzutreten. Er meldete den Vorfall, doch blieben alle Nachforschungen erfolglos. Weit und breit sprach man über diese Angelegenheit, und es wurden da und dort Vermutungen laut, die schwerwiegend waren. Ein Verdacht, der nie bestätigt wurde, war dieser: ein junges Mädchen aus einem der umliegenden Dörfer, hätte ihr unehelich geborenes Kind an der Lieser abgelegt, um sich dessen zu entledigen und damit die schreckliche Tat auf die Zigeuner abwälzen wollen.

So blieb das Kind, dem sie den Namen »Justus« gaben, auf der Mühle, und das Müller-Ehepaar nahm das Findelkind an Kindesstatt an. Viel Freude hatten sie an dem kleinen Justus, der gut gedieh, und sie hätten es sich nicht vorstellen können, ihn wieder hergeben zu müssen. So hatte die alte Zigeunerin doch recht, als sie prophezeite, dass eines Tages noch Freude in ihre Leben käme. Das Grundstück der ehemaligen Brockscheider Mühle, auf dem bis in spätere Jahrzehnte noch viel an Gemäuer erhalten geblieben war, gehörte bis in die sechziger Jahre der Gemeinde Brockscheid als Eigentum. Im Zuge einer Aussiedlung wurde die Wiesen-Parzelle an einen Landwirt aus Tettscheid verkauft, der sie als Viehweide nutzte, weshalb die meisten Ruinenreste der Mühle eingeebnet wurden.

Als Schulkinder wanderten wir früher im Sommer mit unserem Lehrer oft ins Liesertal und machten unsere Erkundigungen. Außer der Mühlen-Ruine gab es noch einen verwilderten Garten, in dem Stachel- und Johannisbeeren zu pflücken waren. Ebenso erfreuten wir uns an einem Flieder-, Schneeball- und Pflaumenbaum, die noch jedes Jahr erblühten.

Viele Jahre waren über diesen Garten ins Land gezogen, ohne dass eine pflegende Hand darin gearbeitet hätte - trotzdem brachte er immer noch Früchte hervor. Für uns Kinder und auch für manchen alten Brockscheider Bürger ging mit dem Verkauf der Mühlen-Parzelle ein Stück »Heimat-Idyll« verloren.