Ein Deudesfelder wird Amerikaner

Gisela Bender, Deudesfeld

Heute kann man sich das Leben in unserem Dorf Ende des 19. Jahrhunderts nur schwer vorstellen. Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, weder befestigte Straßen noch motorgetriebene Fahrzeuge. Die strohgedeckten Häuser quollen von Menschen über, vor allem mit Kindern. Weil alle, ausnahmslos von der Landwirtschaft leben mussten, war die Ernährungslage für viele miserabel. Nur so ist zu verstehen, das bereits 14jährige Kinder bei den Gemüsebauern am Niederrhein, oder an den Hochöfen der Stahlindustrie Geld für die Familie verdienen mussten. Die Mädchen kamen in den Haushalten der Bessergestellten unter. Wer tatsächlich Mut hatte, wagte die Auswanderung nach Amerika. Solch ein Pionier und »Abenteurer« war »Tubacks« Heinrich (Heinrich Weber).

1899 setzte er mit 25 Cent in der Tasche zum erstenmal seine Füße auf amerikanischen Boden. Heinrich sollte die verlassene Farm seines Onkels bewirtschaften. Der Onkel, ein Bruder seines Vaters, war in die Heimat zurückgegangen um in Deudesfeld seinen Lebensabend zu verbringen. Aber dem Neffen Heinrich lag diese Arbeit nicht. Zudem kamen noch ungünstige Witterungsbedingungen hinzu, es regnete einige Jahre in Folge nicht. Henry, wie er inzwischen genannt wurde, erin-

Die beiden TUBACKs-BRÜDER, links Wilhelm, rechts

Heinrich vor ihrem Elternhaus 1949.

nerte sich anderer Fähigkeiten. Bevor er nach Amerika auswanderte, hatte er in einem Betrieb im Kreis Bitburg gearbeitet, der sich mit der Erfassung und Erschließung von Wasserstellen beschäftigte. Hier vor Ort, in der Steppe von Minnesota, bohrte er nach Wasser. Später gründete er eine eigene Firma, die über moderne Bohrtechnik verfügte.

1910 heiratete er die Norwegerin Olia Hermansen - Sörli. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor, zwei Töchter und zwei Söhne. In den ersten, schwierigen Jahren in einem fremden Land, dem Aufbau einer Existenz und der Gründung einer Familie, vergaß er nie die alte Heimat. Gleich nach dem 1. Weltkrieg drängte es ihn nach Hause. Die Nachrichten aus Deutschland ließen die Annahme zu, dass es den Verwandten nicht besonders gut ging. Kurz vor der Heimreise, wurde seine Frau krank und der Heimatbesuch musste verschoben werden, der Kontakt in die Eifel blieb aber erhalten. Während des Zweiten Weltkrieges bangte er wiederum um seine Angehörigen im Eifeldörfchen. So bald es ihm möglich war, schickte er ihnen Hilfe in Form von unzähligen Care-Paketen. Diese Pakete schickte er in sein Elternhaus, wo sein Bruder Wilhelm mit seiner Frau und einer Tochter und deren Familie wohnten. Wilhelm hatte fünf Töchter die, sobald Kunde von der Ankunft eines Paketes aus Amerika kam, zur Stelle waren. Dann wurde in Tubacks'Haus geteilt und verteilt. Groß war jedes mal die Freude über die lebenswichtigen Sachen. Vom ganzen Dorf wurden Tubacks um den guten Onkel Heinrich in Amerika beneidet. Heinrich sorgte seinerseits weiter über das Wohlergehen seiner Familie in Deudesfeld. Viele Dank- und Bittbriefe an Onkel Heinrich überquerten in den Nachkriegsjahren den Atlantik. 1949 wollte Henry sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in seinem Heimatdorf machen und besuchte Deudesfeld. Über dieses Besuch berichteten alle regionalen Zeitungen in großer Aufmachung. Bruder Wilhelm, die Verwandtschaft, Freunde, Bekannte und das ganze Dorf bereiteten Heinrich einen überwältigenden Empfang. Kirchenchor und Schulkinder brachten ihm ein »Willkommens-Ständchen« dar. Heinrich musste immer wieder über Amerika und die neue Heimat erzählen. Er berichtete unermüdlich von Land und Leuten und von seiner langen Lebensreise. Im Schulsaal zeigte er Filme, die sein Leben und Wirken in der »Neuen Welt« dokumentierten. Viel zu schnell verging die Zeit. Im Nachkriegs-Deutschland des Jahres 1949 bestanden noch erhebliche Reisebeschränkungen. Heinrich versprach bei seiner Abreise seinem Bruder und den Deudesfeldern in den nächsten Jahren wiederzukommen. Es sollte ihm nicht vergönnt sein. Zuhause in Amerika erzählte er seiner Familie voller Rührung von dem überwältigenden Empfang, den ihm die Dorfgemeinschaft bereitet hatte. Begierig nahm die dortige Presse seinen Reisebericht aus »Old Germany« auf. Henry erfüllte das Erlebte mit Freude und Dankbarkeit, zeigte es doch, dass er nach fünfzig Jahren Abwesenheit immer noch ein Sohn der Deudesfelder Dorffamilie geblieben war. Kurz darauf starb seine Frau. Ein Jahr später, 1950, starb in Deudesfeld die Frau seines Bruders Wilhelm. Heinrich in Amerika, Wilhelm in Deudesfeld, beiden fiel es immer schwerer, den brieflichen Kontakt aufrecht zu halten. Ganz von selbst ergab es sich, dass die Töchter, dies und jenseits des großen Teiches dieses übernahmen. Für beide Seiten galt nun eine fremde Sprache und musste von Dritten übersetzt werden. Am 2. Januar 1958 starb Bruder Wilhelm, 84jährig in Deudesfeld. Heinrich in Amerika, zwei Jahre jünger als sein Bruder, schaffte es bis zum 17. Januar 1968. Fast 92jährig beendete er sein erfülltes Leben, ohne noch einmal in seinem Heimatdorf gewesen zu sein.

Derweil halten die Töchter der beiden Tubacks Brüder in der alten und in der neuen Heimat Kontakt. 1995 machen sich zwei Urenkelinnen von Wilhelm auf den Weg, um die Kusinen ihrer Oma in Amerika zu besuchen. Beide wollen die amerikanischen Verwandten kennen lernen. Herzlich wurden die Mädchen aufgenommen, um mit der nachfolgenden, also ihrer Generation der Familie bekannt gemacht zu werden. Zum Abschied überreichten die amerikanischen Großtanten den beiden Mädchen aus der Eifel, einen Berg von Briefen. Die Briefe, die in all den Jahren von Deudesfeld an den guten Onkel und seine Familie abgesandt wurden, fein säuberlich nach Tag und Jahr geordnet. Diese Briefe wurden zu Hause den Absendern übergeben. Der Familie dokumentieren sie »Hundert Jahre, persönlich geschriebene Familiengeschichte«. Vieles hat sich in dieser Zeit verändert, auch die Lebensbedingungen in unserem Dorf. Was würde Tubacks Heinrich wohl heute sagen, wenn er Deudesfeld besuchte?