Ein Schultag um 1830 -Autobiografie in alter Rechtschreibform

Nikolaus Ratz, Loogh

Die Geschichte liest sich wie ein Lebenslauf, und so beginnt sie auch: Ich, Michael Müller, wurde geboren im Jahr 1825, dem 18. Dezember abends zwischen zehn und elf Uhr in Brück, einem Dorf im Kreis Daun, Regierungsbezirk Trier. Mein Vater namens Anton Müller, gebürtig aus Gelenberg im Kreis Adenau ist seinem Stande nach Wagner, zugleich auch Feld - und Waldhüter und pflegt dabei, doch im Kleinen, den Ackerbau. Meine Mutter, Anna Katharina Leif, gebürtig aus Brück, starb im Jahre 1842 den 6. April und hinterließ neun Kinder, wovon ich der Älteste bin. Als ich geboren wurde, stand mein Vater in Berlin bei den Soldaten.

Die ersten Lebensjahre verflossen wie die aller übrigen Kinder. Nachdem ich das fünfte Jahr erreicht hatte, musste ich die Pfarrschule besuchen. Der Lehrer derselben, ein sehr leidenschaftlicher Mensch und sehr geneigt, zu strafen und viel Prügel auszutheilen, war nicht gut auf mich zu sprechen. Obgleich ich die Schule noch nie besucht hatte und also durch mein Betragen ihm keine Ursache konnte gegeben haben, mich mit einem scheelen Auge anzusehen, so trug er doch schon seit geraumer Zeit einen innerlichen Groll und Hass gegen mich, oder, um es besser zu sagen, gegen meinen Vater. Dieser hatte nämlich ihm früher einen von meinen Schulgenossen, welcher vom Lehrer blau und schwarz zerschlagen worden war, zum Bürgermeister geführt. Der Lehrer, hierüber aufgebracht und erbost, konnte nun seine Rache an meinem Vater nicht mehr ausüben, sondern sparte sie auf, bis dass ich unter seine Botmässigkeit treten musste. Kaum hatte ich einige Tage die Schule besucht, so war das erste, was ich lernen musste, das Einmaleins. Man kann sich leicht denken, dass ich, der ich noch kaum eine Ziffer kannte, viel weniger einen Buchstaben, hierauf lange Zeit verwenden musste. Ich gab mir viel Mühe, um es zu lernen und ging von Haus zu Haus, wo man ein Büchelchen bekommen konnte, worin es stände. Endlich fand ich eins und nun bot ich alle meine wenigen Geisteskräfte auf, um es zu lernen. Es verflossen wohl wenigstens drei Wochen, ehe ich es zur Befriedigung meines Lehrers hersagen konnte. Während dieser Zeit musste ich immer zur Strafe, weil ich es nicht konnte, hinter der Schultür stehen oder knien. Wenn ich in die Schule ging, so war mein Platz allda und ich durfte ihn nicht eher verlassen, bis dass alle nach Hause gingen. Es wurde mir nicht einmal erlaubt, diese ehrenvolle Stelle zu verlassen, um meine Noth verrichten zu können. Um daher nicht genöthigt zu sein, herausgehen zu müssen, so aß und trank ich sehr wenig. Nachdem ich nun so vierzehn Tage zugebracht, verlor ich allen Appetit zu essen und zu trinken, wie dies ja natürlich war, da ich noch nicht an solche Ponitenzen und Mortifikationen gewöhnt war. Von allem dem wussten meine Eltern nichts und wenn sie mich fragten, wie es in der Schule ginge, so war die Antwort GUT. Jedoch konnten sie mir in Zeit von drei Wochen auf dem Gesichte ablesen, dass diese Antwort nicht richtig sei. Sie glaubten daher meinem Worte nicht und fragten meine Schulkameraden. Da fanden sie nun das Gegenteil meiner Aussage. Auf der Stelle ging mein Vater zum Lehrer, der mir meine Ponitenz aufhob. So wurde nun meine Lage etwas günstiger. Doch ging ich immer mit Furcht und Zittern zur Schule. Und dazu hatte ich gar recht Ursache, denn der kleinste Fehler, den ich beim Lesen machte, wurde mit einer tüchtigen Ohrfeige belohnt. Als ich einmal beim Aufsagen meiner Lektion eine Silbe zu stark betont hatte, sagte der Lehrer, ich solle sie etwas leiser aussprechen. Doch ich kannte den deutschen Ausdruck LEISER noch nicht und wusste nicht, was er bedeuten sollte. Ich sagte in meiner Unwissenheit ...leiser... und darauf erhielt ich eine solch derbe Ohrfeige, welche mir den ganzen Tag die Wange warm hielt und zur Folge hatte, dass ich von diesem Zeitpunkt an die Bedeutung des Wortes »leiser« vergessen habe. Auf diese Weise besuchte ich mit Furcht und Zittern vier Jahre die Schule. Danach bekamen wir einen anderen Lehrer, der gerade das Gegentheil vom ersten war. Von nun an ging ich gern zur Schule und selten konnte man mich bewegen, einen halben Tag daraus zu bleiben. Mit Freude und Lust lernte ich jetzt meine Lektionen. Nachtrag des Verfassers dieses Berichtes: Dieser kleine Auszug aus der Autobiografie des Michael Müller habe ich aus dem Archiv der Redemptoristen aus Brocklyn. 1848 legte Michael die ewigen Gelübde ab, zwei Jahre später folgte er dem Ruf in die nordamerikanische Mission, wo er 1853 zum Priester geweiht wurde. Es folgten Stationen als stellvertretender und ordentlicher Novizenmeister, als Rektor und Provinzial-Consultor in Baltimore, Cumberland in St. Louis, Pittsburg und Chicago an die St. Michaelskirche, wo er 1878 das silberne Priesterjubiläum feierte - er starb am 28. August 1899 und wurde bekannt durch seine Schriften, die teilweise neun Bände umfassen und in 13 Auflagen erschienen.

Ein Mann, der nicht zerbrach, den das Feuer der GUTEN ALTEN ZEIT läuterte; er wurde zum Salz der Erde.