»Was macht Oma mit dem Wind?«

Erinnerungen an meine Großmutter

Renate Mahlberg , Kommern

Seit meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich an die Person meiner Oma. Sie lebte für sich allein im dritten Stock unseres Hauses und war sehr alt Für mich war sie schon immer alt gewesen; ihr Lebensinhalt: Essen, Trinken, Schlafen, Spazieren gehen und Beten.

In ihrer heimeligen Wohnstube gab es Weichholzmöbel, ein Apfelsinenbäumchen, das ich nicht anfassen durfte und einen weiß-blauen Kohleherd, in dessen Backofen sie Bügeleisen und Bettflaschen erhitzte.

Im Schlafzimmer hingen Heiligenbilder, auf der Waschkommode stand ein schwarzes Kruzifix mit zwei Kristallleuchtern. Überall waren bilderrahmen, aus denen Verstorbene streng auf mich herabblickten.

Eine bunte Jesusfigur aus Gips thronte mild segnend auf dem Wäscheschrank. Die rechte Hand zeigte auf sein mit Strahlen umgebenes göttliches Herz. Über dem mit Holzschnitzereien verzierten Bett hing Petrus, der von Jesus kniend die Schlüssel zum Himmelreich empfing. In der Nachttischschublade verwahrte die Oma mehrere vergilbte Gebetbücher und einen Rosenkranz aus hölzernen Perlen, den sie allabendlich betete. Jeden Abend ein Gesetz, denn die Oma war sehr fromm. Während des Gebets trank sie ein Glas Wein. Sonntags gingen wir gemeinsam zur Messe, und Oma weihte mich in die Geheimnisse der katholischen Liturgie ein.

Im Seitenschiff, links auf der »Frauenseite« hockte ich zwischen schwarzgekleideten, nach Mottenpulver riechenden alten Frauen. Säulen, Heiligenfiguren, Bänke, alles schien mir unheimlich groß, und die Entfernung von meinem Platz bis zum Deckengewölbe kam mir unendlich weit vor, so weit bis zum Himmel.

Das Geschehen am Altar blieb mir unverständlich, konnte ich doch kaum etwas sehen. In meiner Erinnerung blieb der Mischduft aus Weihrauch, Mottenkugeln, Bratkartoffeln und Frömmigkeit: Kirchengeruch.

Am besten gefiel mir die Orgel, wenn sie das Schlusslied anstimmte... Großer Gott, wir loben dich.

Sogar die verhutzelten, alten Weiblein mit ihren zittrigen Stimmchen sangen mit. Nach der dritten Strophe begann die Kirche sich zu leeren. Vor dem Portal standen viele fremde Leute, die jeden Sonntag meinten, ich sei aber groß geworden.

Zweimal im Monat kochte die Oma Sauerbraten, dessen Geruch ich besonders mochte.

Stets nahm sie die Mahlzeiten zur gleichen Zeit ein. Alles ging streng nach der Uhr. Wenn ich für sie eingekauft hatte, schenkte sie mir ein großes, rundes Himbeerbonbon. Am Neujahrstag bekam ich einen Marzipankranz, und beim Überreichen sagte Oma jedes Mal: »Prosit Neujohr, da Kopp voll Hoor, da Munk voll Zäng, da Kranz in de Häng.« Ostern schenkte sie mir bunte Eier, und zum Nikolausfest gab es einen Weckmann mit Pfeife.

Bei schönem Wetter saß die Oma auf einer Parkbank und schwatzte mit ihrer Freundin, einer alten Nonne aus dem Krankenhaus. Schwester Annafrieda schenkte mir eine in Samt eingenähte Scheibe, fünf-markstückgroß. Das ist Gott, sagte sie, und ich solle das kostbare Stück gut aufbewahren.

Irgendwann wurde ich neugierig auf Gott und schnitt den Samt mit einer spitzen Schere auf.

Zum Vorschein kam eine gewöhnliche Oblate, wie ich sie vom Makronenbacken vor Weihnachten kannte. Ich war sehr enttäuscht von Gott und aß ihn auf.

Einmal, als ich mich im Alter von etwa zwei Jahren gerade in Omas Schlafzimmer aufhielt, und sie die Kissen aus dem Fenster schüttelte, wurden wir von einem Erdbeben überrascht. Ich spürte wie die Wände unseres Fachwerkhauses wackelten.

Was macht die Oma mit dem Wind, fragte ich erstaunt. Ich war gern in Omas gemütlicher Stube; am Spätnachmittag tranken wir schwarzen Kaffee mit viel Zucker und aßen Weißbrot mit Butter dazu. Die Oma, die keine Zähne mehr hatte, tunkte das Brot in den Kaffee. Sie nannte das »Zoppen«. Ich saß auf dem durchgesessenen Sofa, lauschte dem Ticken der achteckigen Wanduhr mit den römischen Ziffern und wartete auf ihr Schlagen.

Manchmal sang Oma mir aus ihrem zerfledderten Liederheft vor. Am liebsten hörte ich »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.«

Als sie fünfundachtzig wurde, kam ein stattlicher Lebensmittelkorb vom Bürgermeister. Salami, Wein, frisches Obst, Konserven, Pralinen, eine Flasche Cognac. Alles verstaute sie für schlechte Zeiten auf dem Kleiderschrank.

An einem Himmelfahrtstag, fast fünfundneunzigjährig und versehen mit den Sakramenten ihrer heiligen Kirche, schlief sie friedlich ein, ebenso still, wie sie gelebt hatte. Wanduhr, Jesusfigur, Heiligenbilder und Gebetbücher gingen in meinen Besitz über. Den Rosenkranz aus Holzperlen nahm sie mit in die Ewigkeit.