Die böse Tat

Therese Schneider, Brockscheid

Über die Brockscheider Mühle im Liesertal konnte man früher viele Erzählungen hören. So manches soll sich dort zugetragen haben, worüber man sich an langen, dunklen Winterabenden gerne unterhielt. Ob das, was erzählt wurde, immer der hundertprozentigen Wahrheit entsprach, sei dahin gestellt - insbesondere was Hexerei und Geisterspuk betraf. Man kann jedoch davon ausgehen, dass hinter den überlieferten Erzählungen immer ein Quäntchen Wahrheit steckte, was die Geschehnisse glaubhaft machte.

Die Begebenheit, die ich hier erzähle, war eine himmelschreiende böse Tat, die sich vor etwa einhundertfünfzig Jahren zugetragen haben soll. Der damalige Mühlenbesitzer Kobes und seine Frau Traud hatten drei Töchter. Die beiden Ältesten heirateten kurz nacheinander in andere Mühlen ein. Die jüngste Tochter, ein rothaariges gut gewachsenes Mädchen, blieb noch lange bei den Eltern auf der Mühle. Schon im Alter von 12 Jahren lief Sophie, so hieß das Mädchen, öfter an Nachmittagen zu einer kinderreichen Familie nach Manderscheid, um dort - insbesondere wenn wieder ein kleiner Erdenbürger angekommen war - der Großmutter mitzuhelfen bei der Kinderbetreuung und ihr auch sonst kleinere Arbeiten abzunehmen. Sophie war sehr kinderlieb, und durch ihr Dasein spürten die Kleinen nicht gar so sehr die fehlende liebende Pflege der Mutter. Zudem erlernte sie schon manches für ihr späteres Leben. Als sie älter wurde, besuchte sie den Winter über in Manderscheid eine Nähstube und konnte sich dort viele Fertigkeiten im Nähen, Stricken und in weiteren Handarbeiten aneignen. Sie war sehr geschickt und aufnahmebereit, alles zu erlernen. In Manderscheid fand sie später auch ihren Ehemann. Als Weihnachtsgeschenk hatte sie ihrer Mutter eine Leinenschürze mit Einsätzen aus selbstgehäkelten Spitzen gearbeitet. Diese Schürze war natürlich viel zu schade, um an Werktagen getragen zu werden - vielmehr wurde sie zu einem Bestandteil der Sonntagsgarderobe, da es ja früher üblich war, dass Frauen auch an Sonn- und Feiertagen Schürzen trugen. Sie saßen dann an schönen Nachmittagen draußen vor dem Haus oder im kleinen Gärtchen auf einer selbstgemachten Bank, wie sie fast überall zu finden war, und überschauten ihr Leben. Im Gärtchen zogen sie Blumen für das kleine Marienaltärchen im Haus und fürs Familiengrab. Oft konnte man beobachten, wie sie um ihre arbeits-zerfurchten Hände einen Rosenkranz geschlungen hatten, deren Perlen sie durch ihre Hände gleiten ließen. So fand manch schicksalsgebeugtes altes Mütterchen Trost im Gebet - denn Schicksale gab es immer. Die Müllerin Traud hütete auch ein geheimnisvolles, schicksalhaftes Wissen, das sie erst kurz vor ihrem Tode preisgab und dieses Geheimnis ist der Beweggrund der Erzählung:

Es geschah im Sommer. Schon am Vormittag hing ein Gewitter über dem Liesertal, das den Müllersleuten gebot, eiligst das fast trockene Heu einzufahren, damit es vor Regen verschont bliebe. Doch dann zogen die Regenwolken ab und sie konnten in Ruhe das Heu nachtrocknen lassen. Erst am Nachmittag spannte der Müller die Pferde vor den Heuwagen und los ging's in die Wiese. Zunächst wurde das Heu in zwei lange Schwaden zusammengekämmt, so dass der Wagen zum Beladen in die Mitte zu stehen kam. Schon wieder zeigten sich Gewitterwolken am Himmel, die die Heuernter zur Eile trieben. Plötzlich stand auf der Wiese ein Fremder, den sie durch ihr eiliges Arbeiten nicht hatten kommen sehen. So fiel auch das »Woher und Wohin« kurz aus, vielmehr bot der Fremde sofort seine Mithilfe an, die gerne angenommen wurde. In Kürze war das Heu auf den Wagen gepackt und schnell fuhr man zur Scheune, wo das Heu abgeladen wurde. Auch hierbei war der Wandersmann sehr nützlich. Gemeinsam nahmen sie den Nachmittagskaffee ein und dabei erzählte er, dass er aus der Nähe von Boppard käme und schon zehn Tage unterwegs sei. Er sei zu Fuß, teilweise mit Pferdefuhrwerken, die ihn haben aufsitzen lassen, über den Hunsrück an die Mosel gekommen und von dort habe er in Richtung Wittlich-Manderscheid an der Lieser entlang die Brockscheider Mühle erreicht. Als Grund dieses Unternehmens nannte er den Besuch seiner altgewordenen Schwester, die an der belgischen Grenze wohne. Auch die Müllersleute waren gesprächig und erzählten von ihrem Alltag auf der Mühle und dem einsamen Leben, das sie führten. Inzwischen war der Tag so weit vorgerückt, dass der Müller dem Fremden anbot über Nacht auf der Mühle zu bleiben, was dieser gerne annahm.

Der Müller hatte allerdings einen Hintergedanken bei seiner Einladung. Er war neugierig geworden und schaute den Fremden oft von der Seite an. Dabei stellte er fest, dass dieser gut gekleidet war und einen teuren Rucksack mit sich führte, in den er einen Blick geworfen hatte, als der Fremde ein Handtuch daraus hervorzog. Was er da erspähte, erhitzte sein Gemüt: eine große, gefüllte Geldtasche hatte er gesehen. Sein Atem ging schwer, sein Herz klopfte wild. In seinem Inneren tobte ein Kampf, er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Sollte er...?

Noch immer saßen sie einträchtig zusammen unter dem alten Birnbaum, der Müller mit seinen bösen Gedanken und der ahnungslose Fremde. Die Müllerin hatte sich inzwischen schlafen gelegt. Die Nacht brach herein und über den Bergen stiegen am Horizont erneut Gewitterwolken auf, aus der Ferne war schon Donnergrollen zu hören. Plötzlich zuckten Blitze und der aufkommende Sturm trieb die beiden Männer vom Hof ins Haus. Der Wandersmann äußerte den Wunsch, nun zu Bett zu gehen. Dem Müller war das sehr recht, er wartete ja darauf. Seine Frau hatte die Kammer neben der Stube zurecht gemacht. Nun war Kobes mit sich und seinen Gedanken allein. Den Kopf in beide Hände gestützt saß er da und sinnierte, wie es gekommen war, dass er wirtschaftlich fast am Ende war. Die Schulden drückten ihn sehr und er wusste nicht, wie er aus der Misere heraus kommen sollte. Sicher, er hatte in den letzten Jahren viel Pech im Stall, und es folgten aufeinander grimmig-kalte Winter, in denen das Mühlrad zeitweise stillstand. Zudem hatte die Mitgift der Töchter, eine Kuh mit Kalb und ein tragendes Mutterschwein für die beiden ältesten Töchter, für die Jüngste einen Ballen Tuch, woraus sie vieles für die Familie nähen konnte, da sie sich darauf verstand, die Mühle ins Defizit gebracht -es war weggegebenes Kapital, das der Mühle nun fehlte. Dann kommt da plötzlich ein Mann daher, der eine Tasche voller Geld hatte. Was lag näher, als sich dieses anzueignen. Das Gewitter wurde stärker, es war, als ob es sich direkt über dem Liesertal entladen wollte. Der Müller zündete einen Kerzenstummel an, der aber alsbald erlosch. Nun saß er im Dunkeln, doch die Blitze, die immer heftiger zuckten, erhellten die kleine Stube. Dann ein Blitzstrahl, der alles rundum wie in Feuer tauchte und ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Dem Müller kam es vor, als hätte sich das alte Eichenkreuz an der Wand bewegt und vom Corpus habe sich die rechte Hand gelöst, sodass der Zeigefinger drohend auf ihn gerichtet war. Wie vom Schlag getroffen erlebte er diese Vision. Doch nach ein paar Sekunden hatte er sich von seinem Schreck erholt und sagte bei sich: »Ach was, sei kein Feigling, für fünf Minuten Arbeit ein reicher Mann.« Aber wie, wie sollte er die Tat ausführen? Dann fiel sein Blick auf den Gürtel, den seine jüngste Tochter für ihn genäht hatte. Der bestand aus mehreren Lagen übereinander gestepptem festem Leinen, worauf in Abständen Rosen gestickt waren. Nur zu besonderen Anlässen trug er dieses Glanzstück, ansonsten zierte der Gürtel die Stubenwand. Ja, damit müsste es gehen. Nun wollte er schnell handeln, und keine Gewissensschwäche mehr aufkommen lassen. Es müsste sein! Aus der Kammer hörte er die tiefen Atemzüge des schlafenden Mannes. Schnell nahm er den Gürtel und öffnete leise die Tür zur Kammer. Das Gewitter war abgezogen und Mondlicht trat durch das winzige Fenster. Er handelte schnell, der Schläfer wird den Zugriff nicht lange gespürt haben. Nun war es geschehen. Viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht. Nachdem er die Geldtasche an sich genommen hatte, versteckte er sie in der Scheune, lud den Toten auf den Karren und fuhr mit ihm an der Lieser entlang, wo er eine vom Wasser ausgehöhlte Stelle wusste. Da hinein schob er die Leiche, fuhr schnell zum Felsen, wo er dicke Steine und Geröll auflud, um die Höhle zu verstopfen. Es war eine schwere Arbeit. Schweißtriefend kehrte er zur Mühle zurück. Inzwischen war es hell geworden und er wandte sich der Stallarbeit zu. Als seine Frau aufstand und ihn nach dem Fremden fragte, sagte er, dass dieser aufgebrochen sei, damit er in der Kühle des Morgens schon einige Kilometer hinter sich bringen könnte. Er - der Müller - habe ihn noch bis vor Üdersdorf begleitet, damit er den Weg nicht verfehle. Die Müllerin schenkte ihrem Mann Glauben, und sie gingen beide ihrem gewohnten Tagewerk nach. Am Abend, als seine Frau zu Bett gegangen war, holte er das Geld aus der Scheune. Beim Zählen war er überrascht, dass ihm so viel in die Hände gefallen war. Nun wollte er den größten Teil seiner Schulden begleichen - besonders der Schmied hatte ihn so oft um Bezahlung gebeten. Alles ging seinen gewohnten Gang, aber der Müllerin fiel auf, dass ihr Mann öfter nach Manderscheid ging und spät zurück kam. Seiner Frau sagte der Müller dann, er habe den Schmied oder einen anderen Handwerker nicht gleich angetroffen und warten müssen. Auch habe er die jüngste Tochter besucht, die ja nach Manderscheid verheiratet war. In Wirklichkeit plagte den Müller aber das schlechte Gewissen, deshalb suchte er Zerstreuung. Mitte Oktober fiel schon Schnee und als zu Allerheiligen bereits die Blumen im Frost erstarrten, war für den Müller Kobes die Zeit gekommen, wo er den Gewissensdruck nicht mehr aushalten konnte. Er fing an zu kränkeln. Seiner Frau sagte er, dass er Magenschmerzen habe und die glaubte es ihm, weil er schon immer einen empfindlichen Magen hatte. Sie kochte Tee und machte ihm Wickel. Nichts half, auch nicht die Tropfen, die sie vom Apotheker bekommen hatte. Kobes lag oft im Bett und wollte nicht aufstehen. Traud machte sich immer mehr Sorgen um ihn. Als sie ihn des öfteren nachts stöhnen und aufschreien hörte, ahnte sie, dass etwas Besonderes hinter dieser Krankheit stecken musste. Sie bat ihren Mann, sich ihr anzuvertrauen, aber er sagte nichts. Als Kobes plötzlich hohes Fieber bekam, rief sie den Pastor. Lange weilte er bei dem Kranken in der Kammer. Als der Geistliche sich von der Müllerin verabschiedete, kam er ihr bedrückt vor und sie dachte, dass des Müllers Tage wohl gezählt seien. Sie ging zu ihrem Mann ans Bett. Er sagte: »Setz dich zu mir, ich muss dir etwas sagen.« Dann begann er, zuerst stockend, dann redete er sich alles von der Seele, wie er es zuvor beim Pastor auch schon getan hatte. Die Müllerin war entsetzt und wollte aus der Kammer, aber ihr Mann hielt ihre Hand fest und sie sah, dass er weinte. Auch die Müllerin weinte still in sich hinein. Dann sagte sie: »Kobes, oh Kobes, was hat du getan. Gott sei deiner Seele gnädig.« Noch in der Nacht starb der Müller und Traud ließ ihn auf dem Brockscheider Friedhof beerdigen. Nicht lange darauf verkaufte die Müllerin die Mühle und zog nach Brockscheid zu einem alleinstehenden alten Mann, den sie bis zu seinem Tode pflegte. Von ihm erbte sie das Häuschen als Dank für ihre aufopfernde Pflege. Als es mit ihr zu Ende ging, bestellte sie zwei Frauen aus dem Dorf zu sich, denen sie ihr bedrückendes Geheimnis anvertraute. Sie bat darum, jedes Jahr am Todestag ihres Mannes ein bestimmtes Wegekreuz aufzusuchen und dort den Rosenkranz zu beten. Die Frauen hüteten das Geheimnis nicht und so kam es zur Überlieferung dieser Geschichte.

Um die Jahrhundertwende waren die meisten der älteren Einwohner, die von der Begebenheit wussten, verstorben, sodass seitdem auch das Rosenkranzgebet am Wegekreuz nicht mehr durchgeführt wird.