Marjallchen und die Erziehung

Marianne Schönberg, Jünkerath

Weit aus dem Osten kam sie, wurde hinter vorgehaltener Hand schon mal DIE RUSSISCHE genannt; in Ostpreußen war sie aufgewachsen und lebte nun mit ihrem Mann in einem alten Häuschen im Ort. Ihre ganze Habe bestand aus kümmerlichem Hausrat, einem Ofen, einem Bollerwagen; mit dem sammelte sie, wo's erlaubt war, Holz. Ihren Stromzähler hatte sie abstellen lassen... »brauch ich nicht, zahl ich mehr Grundgebühr im Monat als Licht gebrannt wird«. Sie ging schlafen, wenn's dunkel wurde und stand mit dem ersten Hahnenschrei auf. Zwischendurch half ihr im Haus eine Kerze zur Beleuchtung. Ein paar Schafe und Gänse waren ihr ganzer Stolz, die hielt sie ein wenig außerhalb vom Dorf auf einer Wiese am Hang und genau diese Tiere waren Ziel der Wanderungen unsrer beiden Knirpse, wenn sie mal RAUS durften, allein. Da waren sie so um fünf und sechs Jahre jung. Der Bach lockte, mit Gummistiefeln konnte man darin so schön waten, Steinchen sammeln und die, na ja, die warfen die Bengels auch schon mal zu den Gänsen, wenn sie laut schnatternd gerannt kamen. Zwar gab's einen Zaun zwischen Tieren und Kindern, aber die Sache machte Spaß und das haben mir die Burschen erzählt. Natürlich wurden solche Übungen verboten, die Tat gerügt - der Effekt war wohl gering, denn wenige Tage später kam Marjallchen in unser Haus.

Sie wird nun schimpfen, dachte ich mir, sie hat ja recht und ein wenig schämte ich mich für meine Kinder. Müssen sie denn ausgerechnet der ärmsten Frau im Ort das Federvieh scheuchen...; ich war richtig zornig und da stand Marjallchen schon in der Tür. Nun denn, ich erwartete ihre Klage und dann geschah etwas Wunderbares. Die kleine Frau hielt zwei große weiße Gänseeier in den Händen, gab sie mir, die seien für die Knaben und die mögen doch nun nicht mehr mit Steinen nach den Tieren werfen. Noch ehe ich mich gefasst hatte, war Marjallchen verschwunden.

Ich weiß nicht, ob man heute noch ermessen kann, was zwei Gänseeier vor vierzig Jahren bedeuteten, das war ein Geschenk! Und die Kinder, sie hatten Schelte erwartet, strenge Maßregelungen, alles erdenklich Üble, nur keine Eier.

Dass die Gefiederten in jenem Pferch von unsern Knaben nichts mehr zu fürchten hatten war abgemacht, dazu bedurfte es keiner Worte und jede erzieherische Maßnahme war überflüssig. Doch diese Geste der kleinen Frau blieb noch lange DAS Thema in der Familie. Wir betrachteten sie nun anders, sahen nicht nur ihr gewollt ärmliches Leben, wir grüßten sie und recht zögerlich dankte Marjallchen - das war sie wohl nicht gewohnt, angesprochen zu werden und sei es nur mit GUTEN TAG oder GUTEN MORGEN.

Viel später erfuhr ich von ihrer Kindheit in Ostpreußen, von schlimmen Jahren danach; aber das ist eine andere Geschichte.

Sie lebt nun im Altenheim, allein, Kinder hatte sie nie. Auch dort ist sie keine Angepasste, ignoriert schon mal die Regeln des Hauses... »brauch ich keine Vorschriften, weiß ich selbst, was mir gut ist«. Ich möchte ihr danken. Sie hat mich in vielen Jahren bei den wenigen kleinen Begegnungen, die sie zuließ, meist sehr nachdenklich gemacht. BRAUCH ICH NICHT ist mittlerweile zum festen Sprachbegriff bei uns geworden, denn Marjallchen hat auch da recht. So viele Dinge meint man haben zu müssen, um ändern Leuten zu zeigen, was man sich leisten kann.

Was der Mensch wirklich braucht, ist ein gutes Herz.