»Wir starben,

doch wir starben ohne Zweck«

Reise zum Soldatengrab meines Vaters

Franz Josef Ferber, Daun

»Da liegen wir und gingen längst in Stücken. Ihr kommt vorbei und denkt: sie schlafen fest. Wir aber liegen schlaflos auf dem Rücken, weil uns die Angst um Euch nicht schlafen lässt. Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen. Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht! Wir möchten schreiend aus den Gräbern steigen! Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht... Da liegen wir, den toten Mund voll Dreck. Und es kam anders, als wir sterbend dachten. Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck.

Ihr lasst Euch morgen, wie wir gestern schlachten...« So dichtete Erich Kästner nach dem Ersten Weltkrieg. »Stimmen aus dem Massengrab« heißt sein Gedicht. Wie recht er behalten sollte! Zigmillionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg. Einer von ihnen war mein Vater. Im September 1939, kurz nachdem Deutschland durch den Überfall auf Polen den Weltbrand entfacht hatte, musste mein Vater mit Tausenden deutscher Männer in den Krieg ziehen. Jahrelang kämpfte er »im Osten«, so der

Einer von den zigmillionen Toten des Zweiten Weltkrieges: Johann Ferber, geboren 1902 in Mosbruch, gefallen 1944 in Kurland (Lettland).

allgemeine Sprachgebrauch. Tatsächlich stand er in einem der kleinen friedlichen baltischen Staaten, in Lettland, an der kur ländischen Küste an der Front, das, zusammen mit Estland und Litauen, Hitler und Stalin sich einverleibt und mit Krieg überzogen hatten. In seinen zahlreichen Briefen, die mein Vater aus Kurland schrieb, war immer wieder die Rede von der Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehn in der Heimat. Und »In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn«, es war das einzige Lied, das ich ihn daheim singen hörte. Jedoch, daraus wurde nichts. Er kehrte nicht mehr heim. Nicht lange vor dem Kriegsende, am 2. Dezember 1944, traf ihn eine feindliche Kugel. Viele Jahre vergingen. Niemand sagte uns, wo man den Toten begraben hatte. Das Wissen um seine Grabstätte hätte uns auch wenig genützt, denn in einem sowjetischkommunistischen Herrschaftsbereich, der obendrein noch militärisches Sperrgebiet war, ein Kriegsgrab zu besuchen, wäre undenkbar gewesen. Erst als die Balten sich 1991 von dem Joch der Sowjets befreit hatten, galt es, nach dem Grab zu forschen. In verhältnismäßig kurzer Zeit wusste ich Genaueres. In Kurland, an der Küstenstraße zwischen Libau (Liepaja/Lett-land) und Memel (Klaipeda/ Litauen), hatten Kameraden ihn beerdigt. Dort, in Nica, so hieß es, befinde sich der Soldatenfriedhof der 32. Infanterie-Division. All das habe ich dank der Hilfe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) und der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht erfahren können. Nähere Informationen verschafften mir zwei Diplomatinnen der Lettischen Botschaft in Bonn, die Botschaftsrätinnen Veronika Erte und Iveta Sulca, beide außergewöhnlich hilfsbereite, liebenswerte Damen. Einem glücklichen Zufall verdanke ich es, dass ich sie am Ende meiner Dienstzeit kennen lernte, nämlich 1997 beim Arrangieren der Ausstellung »Baltische Kunst« im Kreishaus Daun. Nach einigen Besuchen in der Botschaft der Republik Lettland in der Bonner Adenauerallee stand meine Entscheidung fest: Auf nach Lettland! Es machte sich gut, dass der VDK eine soge-

An der Kriegsgräberstätte des Vaters in Nica/Lettland: Oberirdisch sind die 264 Soldatengräber nicht mehr erkennbar. Letten haben ein Holzkreuz aufgerichtet. Nebenan befindet sich die evangelische Kirche. Foto: Josef Klatsch, Katzwinkel

nannte Einweihungsreise nach Lettland mit vielfältigem Programm anbot. Im Mittelpunkt der Reise sollte die gemeinsame Teilnahme an der Einweihung des Soldatenfriedhofs in Saldus (Frauenburg) stehen, des Zentralfriedhofs für die deutschen Gefallenen in Kurland. Am 1. September 1999 war es soweit. In aller Herrgottsfrühe brachen wir auf, Josef Klötsch, mein Freund und früherer Mitschüler aus der Katzwinkeier Volksschule, und ich. Im Koblenzer Hauptbahnhof bestiegen wir den Intercityzug nach Frankfurt-Flughafen. Um 9.35 Uhr rollte die Boeing 527 der Lufthansa zur Startbahn. Nach einem zweistündigen gelungenen Flug über Dresden, Polen und Litauen landeten wir sicher in Riga, der lettischen Hauptstadt. Dort erwarteten uns die beiden lettischen Reiseführerinnen Ina und Santa, gescheite und sympathische Damen, die uns acht Tage lang begleiteten. Zwei moderne Busse standen schon bereit, die uns ins Hotel Latvia, ein 22stöckiges Bauwerk nahe der Altstadt, brachten. Die Reisegesellschaft bestand aus 90 Frauen und Männern, sie kamen aus ganz Deutschland. Wir spürten es gleich: Man hatte es mit einer Schicksalsgemeinschaft zu tun, mit Kriegerwitwen, Kindern und Geschwistern von Gefallenen, die die Gräber ihrer Angehörigen besuchen oder danach forschen wollten. Einige hatten ihre erwachsenen Söhne mitgebracht, damit sie von den Schicksalen ihrer

 

Auf einem Bauernhof in Nica/Lettland: Peteris Strungs und seine Schwiegertochter Ausma Strunga schenken Rosen für das Vatergrab. Josef Klatsch bindet sie zu einem Strauß.

Großväter erfahren sollten. In den folgenden Tagen hatten wir ein vielfältiges Programm zu bewältigen, vor allem Soldatenfriedhöfe beider Weltkriege besichtigt, zum Beispiel in Riga, Jelgava (Mitau), Cesis (Wenden) und Ventspils (Windau). Besonders erwähnenswert ist, dass wir alle dabei waren, als am 4. September der Soldatenfriedhof in Saldus (Frauenburg) eingeweiht wurde, ein unvergessliches Erlebnis. Hier ruhen bereits etwa 12.000 der weit über 50.000 deutschen Soldaten, die in den Kurlandschlachten starben. Die Gesamtzahl allein der deutschen Kriegstoten in Lettland (im Zweiten Weltkrieg) wird auf ungefähr 100.000 geschätzt; auf 6.600 Plätzen liegen sie begraben. Unvorstellbar! Am späten Nachmittag fuhren wir weiter, nach Liepaja (Libau), wo wir im Hotel Liva übernachteten. Dort trafen wir engagierte Damen vom Bund der Baltendeutschen: Frau Ozola, die Vorsteherin, die uns dankenswerterweise jetzt und schon vor unserer Reise behilflich war, Frau Dr. Zabolocka und Frau Sternberg. Tags darauf, am 5. September, kam für mich der absolute Höhepunkt unserer Kultur- und Pilgerreise. Es machte sich gut, dass wir, Josefund ich, früh am Sonntagmorgen nach Nica, an der Küstenstraße Liepaja-Klaipeda gelegen, aufbrechen konnten. Die Reiseleitung hatte nämlich eine Sonderfahrt nach Klaipeda angeboten. So konnten wir im Bus bis Nica, etwa 20 km, mitfahren. Um 9.30 Uhr dort angekommen, schritten wir bei herrlichem Spätsommerwetter landeinwärts. Wir wussten, dass die Gefallenen an der evangelischen Kirche beerdigt worden waren. Diese steht schätzungsweise ein Kilometer abseits des Dorfzentrums, soweit man bei der Siedlungsweise überhaupt von einem Zentrum sprechen kann. Der Ort schien menschenleer. Von weitem sahen wir plötzlich eine Frau zu ihrem Haus eilen. Wir liefen ihr nach und verständigten uns mit Hilfe eines Wörterbuches. Sie war, wie alle Letten, denen wir begegneten, hilfsbereit, bat Andris, ihren Jungen, uns bis zur »baznica«, der Kirche, zu begleiten. Nach etwa einer viertel Stunde waren wir am Ziel. Vor uns, in einem Wäldchen, lag die Kirche. Mit »paldies« (danke) und einer angemessenen Belohnung verabschiedeten wir uns von unserem jungen Freund. Was uns augenblicklich fehlte, das waren Blumen. Im Geschäft gab es keine zu kaufen, später begriffen wir warum: Die Letten, ein blumenliebendes Volk, züchten sie in ihren Gärten für den eigenen Bedarf. In einem kleinen Bauernhof, bei der Familie Strungs, klopften wir an. Alle Blumen in ihrem Hausgarten, die in voller Blüte standen, waren ihnen feil. Vom Bezahlen wollten sie partout nichts wissen. Sie schenkten uns noch Äpfel aus ihrem Obstgarten dazu. Das alles machte uns ein wenig verlegen. Mit einem Strauß roter Rosen verließen wir Frau Ausma Strunga und ihren fast 90jährigen Schwiegervater Peteris Strungs. Herzlich war der Abschied von diesen guten Menschen.

Schweigend gingen wir durch das Eingangstor zur Kirche. Ich war aufgeregt. Nun war er da, der langersehnte Augenblick, die Begegnung mit der irdischen Stätte, an der mein Vater vor nahezu 55 Jahren sein Kriegsgrab fand und mit ihm 263 Kameraden. Hier, unter dem gepflegten Rasen in einem parkähnlichen Gelände und im Schatten alter Laubbäume liegen sie, die einst an der kur ländischen Ostseeküste auf Befehl erbittert gekämpft hatten und gestorben waren, ohne zu wissen wofür. Die einzelnen Gräber sind oberirdisch nicht mehr erkennbar, zu Zeiten der Sowjetherrschaft waren sie eingeebnet worden. Letten haben ein schlichtes Holzkreuz aufgestellt. Eine wohltuende Stille lag über dem fremden Land. Josef ließ mich allein, bewusst, wie er später in seinem ausführlichen Reisebericht schrieb. So konnte ich ungestört meinen Gedanken nachgehen. Überhaupt hatte ich in Josef einen ausgezeichneten Begleiter für die Reise meines Lebens gefunden. Er hatte verstanden, worauf es ankam. »Wer weiß denn schon«, so steht in seinem interessanten Bericht, »was im Kopf eines jetzt über sechzigjährigen Menschen vorgeht, der im Kindesalter seinen Vater in einem fremden Land verloren hat?« Ja, wer weiß das schon? Wahrscheinlich wissen es nur diejenigen, die Gleiches oder Ähnliches erlebten, derer es - dem Himmel sei's geklagt -Unzählige gibt. Es war beruhigend, etliche Stunden an diesem heiligen Ort zu verweilen und geistige Zwiesprache mit einem geliebten Menschen zu halten, den man persönlich nur leidlich gekannt hat, den man, vor allen Dingen in jungen Jahren, als wichtigen Lebensgefährten gebraucht hätte, aber entbehren musste.

Um 15.30 Uhr nahmen wir Abschied. Ich war erleichtert, ja, sogar ein bisschen glücklich und dankbar, dass es mir vergönnt war, am Grab meines Vaters im fernen fremden Land zu verweilen. Wer hätte das gedacht! In einem altmodischen Linienbus auf einer zum Teil etwas holprigen Nebenstraße fuhren wir nach Liepaja zurück. Die Straße führte am Soldatenfriedhof vorbei, so dass wir einen letzten Blick auf die Gräberstätte werfen konnten. Heimlich versprach ich wiederzukommen an diesen denkwürdigen Ort der Erinnerung. Am 8. September, dem Tag unseres Heimfluges von Riga, hatten wir das Glück, unseren beiden Gönnerinnen, Frau Erte und Frau Sulca, im Außenministerium unsere Aufwartung machen zu können. Dorthin waren sie inzwischen zurückberufen worden, um höhere Dienstposten einzunehmen. Es war ein freudiges Wiedersehn. Wir vereinbarten, die Kontakte zu ihnen und ihrem Land zu pflegen. Hiermit haben wir beide bereits angefangen. Auf unserer Reise durften wir erfahren, dass die Letten uns Deutschen freundlich zugetan sind. Diese starke Zuneigung zu uns und unserem Land verpflichtet; sie zu erwidern, ist uns ein Herzensanliegen.

Hinweis:

Ein ausführlicher und bebilderter Reisebericht, verfasst von Josef Klötsch, Katzwinkel, ist bei ihm und dem Verfasser dieses Beitrages sowie in der Kreisbibliothek ausleihbar.