Vorbild Natur

Gisela Bender, Deudesfeld

Bei einer Wanderung genieße ich unsere schöne Landschaft, es ist Anfang Mai und die Natur hat soeben ihr Frühjahrsgewand übergestreift. Aus dem Wald strömt erquickende Frische; das hohe Farnkraut, noch vor wenigen Wochen braun und fad, hat jungem Wuchs Platz gemacht. Inmitten dieser herrlichen Flora entdecke ich einen riesigen Ameisenhaufen; Etwa einen Meter hoch und auch genauso breit an eine Tanne angelehnt. Ameisenhaufen sind hier selten geworden, und es ist lange her, seit ich den letzten aus der Nähe betrachtet habe. Die Geschäftigkeit dieser kleinen Wesen fasziniert mich so sehr, dass ich ganz nahe herantrete. Dabei achte ich darauf, nicht störend auf die Tiere zu wirken. Während mich das muntere Treiben der Ameisen in Beschlag nimmt, muss ich mir eingestehen, dass ich nicht viel über deren Lebensgewohnheiten weiß. Soviel erinnere ich mich, dass es sich hier um die rote Waldameise handelt, die bei uns heimisch ist.

Der Berg, den sie an der Tanne aufgetürmt haben, scheint ihnen noch nicht hoch genug zu sein. Ganze Heerscharen dieser kleinen Wesen schleppen noch neues Material heran. Aus einer Entfernung von mehreren Metern kommen sie mit Fichtennadeln und Samenkörnern, diese transportieren sie in ihrem Röhrenkiefer.

Um den Ablauf des Transportweges besser verfolgen zu können, richte ich mein Augenmerk auf eine bestimmte Ameise. Geschickt balanciert sie mit der Last über die Wurzel eines Baumes und über unzählige andere Hindernisse.

Ab und zu bleibt sie für einen Augenblick stehen, so als verschnaufe sie. Alsdann setzt sie ihren Weg wieder fort. Zielstrebig eilt die kleine Ameise mit ihrer Last dem großen Haufen entgegen. Auch den Aufstieg nimmt sie routiniert vor, sie lässt sich nicht aufhalten, wenigstens so lange ich sie im Auge behalten konnte, denn an dem Ameisenberg herrscht ein Gewimmel von hin- und herhastenden Artgenossinnen. Die Kuppe des Berges ist eine einzige Masse kleiner Insekten. Während ich mir Gedanken darüber mache, was die wohl dort tun, drängen schon die nächsten Fragen. Wie ist das möglich, das Hunderte, ja Tausende dieser Wesen gleichzeitig dasselbe tun, ohne dass es zu Störungen oder Zwischenfällen kommt? Was verschafft diesen Ameisen eine so geordnete Organisation und Disziplin? Nach welchem System wird das Ganze hier gelenkt? Ist es die Individualität des einzelnen Tieres in der Gesetzmäßigkeit der Natur, oder was sonst? Mit solchen Fragen im Kopf wende ich mich für diesen Tag von den Ameisen ab. In den folgenden Wochen und Monaten beschäftigen sich meine Gedanken jedoch immer wieder mit diesen Tieren. Anfang November beschließe ich ganz spontan, nochmals nach dem Ameisenhaufen zu sehen. Eine ganze Weile stehe ich davor, aber nichts ist mehr von der Geschäftigkeit vom Mai zu sehen. Eine einzige Ameise schleppt sich träge vor dem Bau über den Waldboden. Ansonsten ist das Haus zu, es sieht aus, als wären in einem Wohnhaus die Fensterrolläden heruntergelassen.

In diesem Augenblick steht für mich fest, ich muss über die Ameisen und ihre Lebensart mehr in Erfahrung bringen. Fortan suche ich nach Lektüre, aber alles was ich über diese Insekten auftreibe, ist mir zu banal. Fast hätte ich mein Vorhaben als gescheitert betrachtet, als mir, welch ein glücklicher Zufall, ein Bericht von Sebastian Bröder in die Hände fällt, in dem er den Freilandforscher und Biologieprofessor Bert Hölldobler vorstellt. (Quelle: Readers Digest, November 1999)

Bert Höllbobler ist 63 Jahre alt und einer der bedeutendsten Ameisenforscher der Welt. Diesem Bericht entnehme ich nun das, was ich wissen wollte. Des Professors große Leidenschaft für die Ameisen begann, so lese ich, bei einem Waldspaziergang, den er als Siebenjähriger mit seinen Eltern in der Nähe von Würzburg machte. Neugierig habe er damals einen Stein umgedreht, aufgeschreckt seien da hunderte von Ameisen. Im Handumdrehen waren sie mitsamt ihren eingesponnenen Puppen im Boden verschwunden. Dieses Erlebnis faszinierte den Jungen, er wollte wissen, wo die Ameisen geblieben waren und wie sie lebten. Er begann die Insketen zu beobachten, zu bestimmen und zu zeichnen. Erstaunlich, was dieser Experte im Laufe seines Lebens über ein Wesen, das gerade etwas mehr als »Nichts« auf die Waage bringt, herausgefunden hat. Eine Ameisenarbeiterin bringt je nach Art zwischen einem und fünf Milligramm an Gewicht auf. Interessant ist, dass alle Ameisen der Erde zusammen etwa ebenso viel wiegen, wie die Menschen. Weiter erfahre ich, dass es 9 500 Arten gibt, die bis heute erkannt sind. Höllbobler schätzt jedoch, dass wahrscheinlich mehrere zehntausend Arten existieren. In Deutschland vermutet er zwischen 90 und 120 verschiedene Arten. Neben dem Menschen sind die Ameisen die vorherrschenden Landorganismen, so der Forscher. So erfolgreich sind die Ameisen nur, weil sie miteinander reden können und zwar mit dem Geruchs- und dem Geschmackssinn, versicherte der Biologe. Ihre Sprache ist ein Substanzgemisch, das sie in verschiedenen Drüsen abgeben. Diese sogenannten Pheromone werden von den Nestgenossinnen gerochen und geschmeckt. Sie lösen ein bestimmtes Verhalten aus, wie etwa die Botschaft: »Königin füttern, Brut pflegen, oder Nahrung holen.« Auf diese Weise organisieren sie ihre Lebenswelt. Erstaunlich zu lesen, dass jede Ameise eine Spezialisierung, eine bestimmte Aufgabe hat. Arbeitslose gibt es in der Ameisenwelt nicht. Ihre Organisation beginnt mit der Königin, ferner gibt es Arbeiterinnen und Botschafterinnen. Auf den ersten Blick glaubt man, wenn man diesen vereinzelten Wesen begegnet, sie hätten sich verlaufen. Scheinbar ziellos irren sie umher. Dem ist aber nicht so, auch sie sind Spezialisten, Scouts, auf der Suche nach Fressbarem. Haben sie etwas gefunden, so laufen sie zu ihrem Nest zurück und legen dabei einen chemischen Wegweiser.

Die Weisung lautet dann: »Nahrung gefunden, bitte abholen.« Schnell wird diese Botschaft von den Nestgenossinnen gerochen. Unverzüglich nehmen nun die Spezialisten fürs Transportwesen ihre Arbeit auf. Entlang der Fährte bildet sich eine Ameisenstraße. Die so herbei geschleppte Nahrung geben die Transporteure im Nest weiter an die dort beschäftigten Arbeiterinnen; Sie sind im Innendienst spezialisiert. Ihre Aufgaben bestehen darin, die Königin zu füttern und zu putzen, sowie das Nest instand zu halten. Besonders beeindruckt mich das Sozialverhalten dieser Insekten. Eine Ameisenkolonie ist ein nahezu perfekt organisiertes Netz aus vielen gleichwertigen Elementen, die einander zuarbeiten, eine soziale Einheit.

Ameisen sind, so Hölldobler, aufopferungsbereite soziale Lebewesen. Im Ameisenstaat funktioniert der Sozialismus. Demnach ist er, obwohl es eine Königin gibt, keine Monarchie. Die Königin sei nicht Herrscherin, so der Forscher, sondern eine »Ei-Lege-Maschine«. Rund um die Uhr produziere sie ihre Töchter, die unfruchtbaren Arbeiterinnen der Kolonie. Völlig erstaunt mich die Rolle, die das Männchen im Ameisenalltag spielt, nämlich kaum eine, so der Professor.

Die Königin erzeugt sie erst, wenn die Fortpflanzungsperiode näher rückt. Im Grunde haben die geflügelten Männchen nur eine Aufgabe - Sex, ansonsten tun sie laut den Beobachtungen des Forschers gar nichts.

Vor allem sollen sie die ebenfalls beflügelten Weibchen begatten, dann sterben die Männchen.

Die befruchteten Weibchen, die Königinnen in spe, können die Spermien speichern und so über Jahre Nachwuchs produzieren. Man könne die Liste der ausgeklügelten Ideen, auf die die Ameisen im Laufe der Evolution gekommen sind, laut Hölldobler beliebig fortsetzen. Nur noch so viel zu den kleinen roten Waldameisen. Sie regulieren in ihren Hügelnestern (Ameisenhaufen) die Temperatur, in dem sie an warmen Frühlingstagen Sonnenbäder nehmen und anschließend ins Nest laufen, um die getankte Wärme abzugeben. Der Ameisenhaufen ist so konstruiert, dass stets für eine optimale Be- und Entlüftung gesorgt ist. Der Ameisenforscher verweist zum Abschluss seines Berichtes auf eine Bibelstelle. Wie sagte schon der weise Salomon: »Gehe hin zur Ameise, du Fauler, siehe an ihr Tun und lerne von ihr!« Erst durch die Informationen dieses Sachverständigen werden mir meine eigenen Beobachtungen verständlich. Mit dem Ergebnis, dass diese Insekten in Zukunft mehr für mich sein werden, als eben nur »Ribessen«*. *Bezeichnung im Deudesfelder Platt für Ameise