Auf Schusters Rappen

Hildegart Kohnen, Brühl

Sommer! Ein ganz besonderer; Sommer 1945. Der Krieg, der den Vater genommen, das Haus zerstört und uns der unbeschwerten Kindheit beraubt hatte, war endlich vorbei. So dachte ich damals nicht, konnte es gar nicht. Doch heute, Jahrzehnte später, drängt sich das damals Erlebte als Erinnerung wieder ins Bewusstsein. Wir waren Kinder, vor denen man die grausamen Folgen des Krieges geheim zuhalten versuchte. Es gelang nicht. Die Wirklichkeit holte alle ein, machte vor nichts halt, auch nicht vor den Jüngsten. Ich war damals zehn Jahre alt, wollte so schnell wie möglich erwachsen werden und der langweiligen Dorfschule entkommen. In der Heimat unserer Mutter hatten wir Zuflucht gefunden. Sie wurde auch uns bald zur Heimat. Um den Dorfkindern gleich zu sein, war ich auf Biegen und Brechen bemüht, die Eifler Mundart zu erlernen. Nicht ganz ohne Heiterkeitserfolge! Ich sprach es, wie meine Schwester sich ausdrückte: »Wie mit Knüpfein reingepflaazt«! Sie dagegen hatte es spielend geschafft.

Es herrschten ungewohnte Zustände. Wir hörten keine Sirenen, es fielen keine Bomben, es gab keine schlaflosen Nächte im Keller und wir hatten keine Schule mehr! Bahn und Post waren lahmgelegt. Und Zeitungen - wer sollte sie machen, wer sie drucken? Und wer sie zustellen? Die Zeit stand still oder waren es die Menschen? Doch hinter verschlossenen Türen brodelte es. Wir lauschten heimlich und vernahmen Dinge, die für uns keinen Sinn ergaben. Wir verstanden nichts, waren zu jung, spürten aber, dass Ungewissheit und Angst alle lahmte. Einzig das Posttelefon funktionierte, war einzige Verbindung für die Dorfbewohner nach draußen. Eines morgens kam der Postbote ins Haus meiner Großeltern und verkündete: »Aurener aacht woar en Onruf aus Bättefeld, et war bal suwait!« Dabei zuckten seine Schultern verständnislos fragend. Er ließ sich gemächlich auf den nächsten Stuhl fallen und blieb solange sitzen, bis er wusste, worum es ging. Als seine Neugierde gestillt war, machte er sich auf den Weg, die Runde durchs Dorf zu drehen. Mit einem mitfühlend geseufzten: »Mariju, net mije-lisch, daat Greda krejt ald wi-da eppes Klänes! Hott sich ava orisch gedummelt daat Mädschi, gell? Daat es jo en Dengen, wallen moß aich ava goon! Bess daan«... verabschiedete er sich eilig. Unser Briefträger, einzige Informationsquelle im Ort, ersetzte in der Zeit die gesamte Presse. Und mit dem gerade Gehörten wieder um einen wichtigen Artikel seiner mündlichen Zeitung, Spalte »Persönliches«, reicher geworden, sorgte er gewissenhaft dafür, ihn umgehend zu verbreiten. In einem Dorf, wo jeder jeden kannte, jeder an jedem Anteil nahm, auch wenn er oder sie schon lange anderswo lebte, zehrte man tagelang von solchen Neuigkeiten. Unsere Tante hatte also nach ihrer fünfzehnten Nothelferin gerufen und hoffte, dass die es irgendwie schaffen würde, ihr beizustehen.

Wir Kinder ahnten, was das bedeutete. Es war ja nicht das erste Mal. Unsere unerschrockene, stets hilfsbereite Mutter verkündete: »Bitte jetzt keine Widerreden! Morgen früh gehen wir nach Bettenfeld!« Sie war eine bewunderswerte, modern denkende Frau, der wir tatsächlich widersprechen durften, wenn es dafür einen plausiblen Grund gab. Zu jener Zeit nicht üblich und für manche schier unverständlich. Aber wenn Mutter so ernst redete, hatte sie den fertigen Plan im Kopf. Jeder Einwand war zwecklos. Mein dünnes: »Aber es fährt doch gar kein Zug, der Pleiner Viadukt ist zerstört, und es sind mehr als 30 Kilometer«, verebbte im ernsten Blick ihrer dunklen Augen. Ihre jüngste Schwester bedurfte der Hilfe, und das zählte: »Seht mal, ihr habt gesunde Füße, und die Tante braucht uns dringend! Außerdem machen wir eine schöne Eifelwanderung daraus«, versprach sie uns. So gesehen, wurde es schon verlockender. Schnell waren die Schulranzen mit dem Allernotwendigsten gepackt. Sagenhaft, was sich in so einen Huckepackkoffer verstauen ließ. Sogar mein Lieblingsbuch, der zerfledderte Wilhelm Busch, fand Platz. Heimlich zwischen der Wäsche entging er den Argusaugen meiner praktischen Mutter. Ein weißblauer Emailbecher wurde seitlich am Ranzen befestigt.

So ausgerüstet zogen wir an einem frühen Julitag von Altrich aus los und trällerten mit den Vögeln um die Wette. Sie konnten es besser, doch - wir kannten die Texte. Der lange Weg kümmerte keinen mehr - war vergessen. Hasborn, das erste Ziel, erreichten wir gegen Mittag. Bei Verwandten erhielten wir eine gute Mahlzeit und bald ging's weiter Richtung Manderscheid. Mutter leitete uns so sicher, als hätte sie einen Kompass eingebaut, vorbei an Wäldern, Bachläufen und über Feldwege. Es schien, als wären wir mit der Natur, dem weiten Sommerhimmel und der Sonne, die ab und zu mit den Wolken Versteck spielte, allein auf der Welt. Wir pflückten wilde Erdbeeren in die Becher und aßen sie mit unseren Broten. Manchmal - wenn das Erinnern kommt -glaube ich sie heute noch zu schmecken. Mutter zeigte uns Vögel, seltene Schmetterlinge und Blumen, die wir vorher nie bewusst gesehen hatten. Die Zeit hatte Flügel und plötzlich türmten sich rechts vor uns die trutzigen Burgen von Manderscheid auf. Unserm Ziel so nahe legten wir in Niedermanderscheid noch einmal ein Pauschen ein, ließen die müden, staubigen Füße im klaren Wasser der Nims baumeln. Hinterm Mosenberg dunkelte es mächtig, als wir in Bettenfeld ankamen. Eine Stunde vorher hatte das neue Familienmitglied das Licht der Welt erblickt. Ich erinnere mich an ein großes Glas Milch, das ich durstig in einem Zug austrank, dass meine Mutter mich auszog, an eine kurze Katzenwäsche und ein herrliches kühles Bett. Ich habe nie mehr in meinem Leben länger und besser geschlafen, als in jener Nacht, sechzehn Stunden lang, wurde später erzählt, während meine Schwester noch länger aufblieb und auch morgens eher aufwachte. »Schließlich bin ich ja zwei Jahre älter als du«, betonte sie ein wenig überheblich. Dabei sah sie mich mit ekelhaft erwachsenen Augen an, als wäre ich der neugeborene Winzling. Große Schwestern können manchmal ganz schön gemein sein! »Na warte, das kriegst du auf Heller und Pfennig zurück«, und heimlich übte ich vorm Spiegel ihr gönnerhaftes Lächeln nachzuahmen. Die Tage in Bettenfeld sind in meinem Gedächtnis fest verankert mit Heidelbeeren suchen, Honig satt und jeden Morgen dicker Schmand mit Marmelade auf selbstgebackenem Brot. Damals schlaraffenlandähnliche Zustände.

Schnell verging die Zeit, Tante und Kusinchen waren wohlauf, und die schmerzlich vielen Kilometer längst Vergangenheit, als unsere Mutter eines abends meinte: »Wie wäre es, wenn wir weiter nach Duppach gehen würden?« Diesmal fragte sie! »Schreef, Schrombern, Schroschen« gab ich freudig meine kompletten Sprachkenntnisse im Duppacher Platt zum Besten und tanzte ausgelassen durchs Zimmer. Duppach, das bedeutete Freiheit pur, Vettern, Kusinen, Tanten, für Mutter das Grab meines Vaters, und für mich mein Lieblingsvetter Paul, während meine Schwester sich auf die Mädchen freute. Rangierten doch Jungen, bei ihr nur unter »ferner liefen«. Kein Gedanke trübte mein kindliches Gemüt, wie weit die Füße wieder laufen müßten, bis sie die Heimat unseres Vaters erreichen würden; eine fast andere Welt, doch für mich ein Paradies. Dort könnte ich ungestört spielen, ohne Mutters mahnende Stimme im Rücken: »Immer spielst du nur mit Jungen«! Mit Freuden hätte ich damals meine sonst so liebe Schwester gegen einen Bruder eingetauscht. War sie doch eines jener zartbesaiteten Wesen, das jedesmal Zustände kriegte, wegen harmlosen, klitzekleinen Mäusen auf Stühle sprang und zierliche Blindschleichen für Krokodile aus dem Dreesbach hielt. Und weinen konnte sie, zum Steinerweichen! Manche Kastanie habe ich für sie aus dem Feuer geklaubt, wenn ein Knabe es wagte, ihr ans Fell zu gehn. So gut es ging, regelte ich das. Aber es ging nicht immer gut, ich zog oft dabei den Kürzeren und habe Schrammen abgekriegt. Wie gern wäre ich ein Junge gewesen! Dass sie dafür klaglos widerliche Arbeiten für mich übernahm wie Schuhe putzen, abtrocknen oder Staub wischen, fand ich wiederum toll von ihr. Meistens waren wir ja ein Herz und eine Seele. Meistens, heißt längst nicht immer und Mutters: »Zankt nicht wie die Kesselflicker«, klingt mir heute noch in den Ohren! Wie oft strapazierten wir ihre Nerven! Spielte Röschen gern mit Puppen, kletterte ich verbotener Weise lieber auf Bäume oder ließ Steine übers Wasser futschen. Bei sechs mal lag mein Rekord; Vetter Paul hatte es mir beigebracht.

Also auf nach Duppach! Wieder führte uns Mutter mit nachtwandlerischer Sicherheit quer durch die Eifel über Deudesfeld, Büscheich und andere Dörfer, deren Namen ich vergessen habe. Ausgefahrene Wege sind wir gegangen, durch Wälder und Felder, bis wir endlich Gerolstein vor uns liegen sahen. Ein Bauer nahm uns auf seinem Wagen mit bis nach Müllenborn. Wie auf Daunen haben wir auf diesem harten Holzwagen gesessen. Von dort zu unserem Onkel nach Oos war es nur ein Katzensprung. Hundemüde nahmen wir ein kühles Bad in der Viehtränke im Hof. Danach gab es Milchsuppe mit Eierrievelchen. Einfach köstlich!

Später erfuhr Mutter, wir wären durch ein Minensperrgebiet gegangen. »Der liebe Gott ist mit Kindern und Witwen«, sagte sie und bekreuzigte sich, Worte, die ich damals nicht verstand. Doch an jenem Abend beteten wir länger als gewöhnlich. Sie nahm uns fest in die Arme und hatte seltsam glänzende Augen. Heute weiß ich warum. Am nächsten Tag fuhren wir, hoch auf Onkels Wagen sitzend, gezogen von Lotte und Lisa, den prachtvoll bunten Kühen, nach Duppach. Mutter hatte telefoniert und unsere Ankunft angekündigt. Dieser Onkel war noch in Gefangenschaft. Das Haus, durch Granaten arg beschädigt, war bis unter den Dachgiebel belegt. Verwandte aus dem Ruhrgebiet lebten dort. Man rückte ohne große Worte zusammen und hieß uns herzlich willkommen.

Mutters Nähkunst war hochbegehrt. Sie nähte von morgens bis abends. Und Tante Sofie konnte zaubern! Mit Speck und Butter ging sie aus dem Haus, verwandelte die Lebensmittel irgendwo in bunte Stoffe und Nähgarn. Das Tauschgeschäft blühte. Wir bekamen neue Kleidchen, die Jungen Hosen und Hemden (mit Blümchenmuster!!!). Altes wurde gewendet, mit Borten Biesen aufgemotzt und sah wie neu aus. Wenn es darum ging aus einem Nichts ein tolles Etwas zu stückeln, war unsere Mutter eine Künstlerin. Eine unbeschreibliche Zeit und dass Not erfinderisch macht, hat sich damals mehr als bewahrheitet. Vetter Paul zeigte mir, wie man Forellen ohne Angel fängt. Wir liefen zum Dreesbach, zogen uns bis auf die Unterwäsche aus, lagen bäuchlings am Ufer, die Arme im Wasser und warteten. Die Biester gründelten tief. Es war, als narrten sie mich. Immer wieder flutschten sie aus den Händen. Es dauerte, bis ich endlich einen Fisch erwischte. Paul hatte in der gleichen Zeit vier schöne Forellen gefangen. Wir legten sie auf ein wildes Rhabarberblatt, die den Bach säumten und liefen zu unseren Kleidern. Doch, oh Schreck, sie waren weg! Gestohlen? Wer sollte hier stehlen? Was tun? Paul überlegte, ging zum Bach, riss zwei der Knöterichgewächse aus und gab sie mir. Dann schlichen wir, bedröppelt mit hängenden Köpfen, bekleidet nur mit Hemd und Höschen, garniert mit wildem Grün, den Blick verschämt zur Erde gerichtet, eng hintereinander im Gleichschritt dicht an den Häusern vorbei durchs halbe Dorf. Paul mit der Beute voran und ich dahinter. Ein Blatt zierte die Vorderseite, das andere verdeckte die Hinteransicht. Manchmal sehe ich uns heute noch im Geiste und es überkommt mich ein Kichern. Doch damals war es entsetzlich! Wir, die sonst so Furchtlosen, blamiert, bis auf die Knochen!!! Unsere Ankunft wurde bereits mit Spannung erwartet. Die schadenfrohe Bande lachte sich halbtot über den Aufzug, als wir eintrudelten. Die Kleider hatte der Bachpächter, um uns einer Lektion zu erteilen, längst abgegeben. Er muss ein humorvoller Mann gewesen sein, der die Sache nicht so ernst sah. Sogar die Fische durften wir behalten. Es tröstete uns wenig. Nicht für alles auf der Welt hätte ich auch nur einen Bissen davon runtergekriegt. Wir waren Dorfgespräch und stinke sauer, mussten nach einer strengen Gardinenpredigt ohne Abendbrot ins Bett und schworen Rache, warteten bloß auf die passende Gelegenheit. Die kam, unfreiwillig! Wir belauschten unsere Mütter, die am nächsten Tag im Nachbarort eine Kartenlegerin besuchen wollten. Tante war sehr beunruhigt, weil sie nichts von unserem Onkel hörte. In diesen Zeiten hatten »Die Kaatenkletschen« Hochkonjunktur! Alle kannten ihre Adresse, alle liefen hin. Niemand durfte davon wissen und angeblich glaubte auch keiner ihren Voraussagen. Im Dorf lebte eine äußerst neugierige Frau, der so leicht nichts entging. Wir spielten in der Nähe ihres Hauses, als sie uns freundlich mit wunderbaren selbstgemachten Karamellen lockte: »Na, ihr Beiden, kommt doch rein, ich hab' was Gutes für euch!« Wir folgten ihr und tappten in eine Falle. »Wohin sind denn eure Mütter heute morgen so früh gegangen?«, fragte sie uns, während wir noch kauend beschäftigt waren - die Zuckersteinchen klebten wie Leim an den Zähnen. Wir sahen uns an - das war die Gelegenheit - und petzten. Die Rache schmeckte wirklich süß! Das Häuschen dieser Person stand am Ortseingang und so überfiel sie die beiden ahnungslosen Heimkehrenden mit ihrem mittels Süßigkeiten gekauftem Wissen. Unsere Mütter, sprachlos und enttäuscht, wußten sofort wer die Übeltäter waren. »Verräterin«, zischte meine Schwester mir abends im Bett verächtlich ins Ohr. Sie hatte recht. Diesmal heulte ich - vor Scham! Wir entschuldigten uns, zeigten Einsicht, übten tätige Reue in dem wir eine Woche lang auf Helert Kühe hüteten. Freiwillig! Eine zwar notwendige aber erzlangweilige Beschäftigung, um die wir uns bisher mit allen Tricks gekonnt gedrückt hatten. Kühe hüten war das Allerletzte!

Dann kam der Anruf meines Großvaters. Die Bahn fuhr wieder, die Schule begann und für uns hieß es Abschied nehmen.

Denke ich heute an Duppach, kommt mir ein Zwiegespräch zwischen meinem Vetter und seiner Mutter in den Sinn, das ich niemals vergessen werde. Paul hatte an einem Freitag Wurst gegessen, ihn somit entheiligt. Damals eine schwere Sünde. Ertappt verteidigte er sich nur wenig zerknirscht, aber geschickt: »Mutter, Wurst ist doch kein Fleisch«. Da kannte er aber Tante Sofie nicht. Empört belehrte sie ihn: »Paul, Wurst ist wie Fleisch«! Der so aufgeklärte Sünder schwieg betreten.

Dann war Brotbacken angesagt und mein Vetter brachte Reisig für den Backofen. Die Tante schüttelte den Kopf: »Junge, ich brauche Holz! Reisig ist doch kein Holz!« Seine Antwort habe ich nie vergessen: »Mutter, wenn Wurst wie Fleisch ist, dann ist Reisig wie Holz!« Könnte er mir jetzt, Gott hab' ihn selig, beim Schreiben über die Schulter schauen, Wort für Wort würde er meine Geschichte augenzwinkernd bestätigen.

Hätte ich heute einen Wunsch frei, ich würde mir wünschen: Einmal noch den Geschmack von Birnen in Butter geschmort mit Mehlklößen, die Tante Sofie so trefflich zubereitete, auf der Zunge zu haben und Paul schiebt mir verstohlen seine letzte buttrigglänzende Birne auf meinen Teller...