Die Geschichte

vom motorisierten Heubock

Johann Baptist Hölzern, Üxheim - Heyroth

Achtzehn Augenpaare blickten erstaunt und ungläubig auf unseren Lehrer Karl Kruse, als er 1930 gegen Ende eines morgendlichen Unterrichtes zu uns sagte: »Ich habe mir ein Motorrad bestellt.« »Das ist bestimmt wieder einer seiner gelegentlichen Witze, und zudem, wie überhaupt könnte er sich ein solches Fahrzeug leisten?«, dachte ich bei mir. Schließlich gab es zur damaligen Zeit nur wenige dieser stolzen Motorradbesitzer. Ganz zu schweigen davon, einen Pkw sein eigen zu nennen, wo doch nicht einmal in jeder Familie ein Fahrrad vorhanden war. Und wenn doch, hatte es nicht selten einen »Platten«, woran natürlich der damalige schlechte Straßenzustand Schuld war, weil meistens nur die Hauptverkehrsstraßen mit einer Teerdecke versehen waren. Doch die Ankündigung unseres Lehrers, was das bestellte Motorrad anbetraf, war wohl kein Witz gewesen. Fröhlich lächelnd schwenkte er gegen Mittag, nachdem der Postbote ihm eine Postkarte überreicht hatte, diese uns entgegen und sagte: »Mein Motorrad steht auf dem Bahnhof zum Abholen bereit.« Und keine drei Stunden später bewegte sich ein mit zwei Kühen bespannter, eisenbereifter Ackerwagen langsam auf den Schulhof zu.

Seltsam wirkte der geladene längliche, vielleicht ein Meter hohe Holzlattenverschlag, aus dem etwas Schwarzglänzendes heraus schimmerte, das wir mit unseren neugierigen Bubenaugen ziemlich sicher als ein Motorrad ausmachen konnten. Ohne Zweifel ein recht ulkiger Anblick. Der hölzerne Transportverschlag ähnelte einem Käfig, der ein Motorrad gefangen hielt, als bestände Gefahr, dass dieses sich selbständig zu machen in der Lage wäre und »abknattern« könnte. Der Lehrer, aufgeregter als wenn der Schulrat gerade mitten in den Unterricht hinein geplatzt wäre, wusste am wenigsten, wie er zugreifen sollte, um das Motorrad, oder genauer gesagt, den Verschlag, in dem es steckte, vom Wagen zu hieven. Als es schließlich auf dem Boden des Schulhofes stand, konnte es nicht schnell genug gehen, um mit Hammer und Zange die mit Brettern und Latten zusammengenagelte Transportkiste in Einzelteile zu zerlegen. Und endlich stand es da: Glänzend schwarz lackiert, das mit weißen Zierstreifen versehene zweihunderter NSU-Motorrad. Wir erlebten als erste den bescheidenen, für uns jedoch großartigen Einzug der Motorisierung in unseren kleinen Eifelort. Der Lehrer war schon damit beschäftigt, mit Öl und Benzin sein neues Besitztum startklar zu machen. So ne-

Lehrer Kruse vor der Dorfschule Heyroth, Archiv Ingeborg Kruse.

 

benbei fragte ich ihn: »Was bedeuten denn die Buchstaben NSU auf dem Benzintank?« »Dummkopf«, sagte er zu mir: »Das ist doch die Fabriksbezeichnung von dem Werk, wo das Motorrad gebaut worden ist. Motorradfahrer sagen allerdings: »NSU -LÄUFT IM NU!« Mittlerweile war der Lehrer mit seinen Startvorbereitungen fertig geworden und wir fieberten dem ersten, knatternden Geräusch aus dem Auspuff entgegen. Dann war es soweit. Der Lehrer trat auf den Kickstarter, einmal, zweimal, dreimal, viermal und gewiss beim zehnten Mal war außer einem kurzen Blubbern nichts zu hören. Etwas verlegen schauten wir zum genervten und ärgerlich werdenden Lehrer. Es war aber niemand da, der ihm einen fachmännischen Rat geben konnte. Selbst seine junge Frau Milli, wie sie von ihm genannt wurde, blätterte im Handbuch und gedachte wohl das Problem aus diesem herauszulesen.

Eine ganze Weile eifriges Diskutieren, denn es waren mittlerweile auch einige Nachbarn dazugekommen, von denen jeder etwas anders meinte, aber keiner wusste, was man noch mit dem Motorrad anstellen konnte, um dessen beharrliches »Schweigen« zu beenden. Dann betätigte Lehrer Kruse erneut den Kickstarter, einmal, zweimal, dreimal, dann beim vierten Mal, zuerst ein Blubbern und der Motor sprang an. Und weil die Hand des Lehrers das Handgas zu lange hoch drehte, hörte es sich fast so an, als wollte der Motor sein vorheriges, langes Schweigen durch überlautes Dröhnen ausgleichen. Wenn er hätte reden können, würde er bestimmt gesagt, oder vielmehr gebrüllt haben: »Ihr Dummköpfe, - mit nassen Zündkerzen kann auch ein neues Motorrad nicht anspringen.« Von jetzt an steigerte sich die Motorradleidenschaft unseres Lehrers von Tag zu Tag. Mit seiner jungen Frau Milli auf dem Soziussitz fuhr er fast täglich nach dem Unterricht durch die Dörfer der Umgebung. Obwohl damals nur wenige Straßen asphaltiert waren, wirkte der meist holperige, durch viele Schlaglöcher geschädigte Straßenzustand sich nicht weiter abträglich auf seine Lust am Motorradfahren aus. Nur die Fuhrleute mit ihren bespannten Wagen und Geräten wurden unruhig, wenn sie das Geräusch eines Motorrades vernahmen, weil die Zugtiere auf das ungewohnte Geknatter oft schreckhaft reagierten. Ein kleiner Hütehund war einmal nicht damit einverstanden, dass das knatternde Motorrad einige Kühe vor Schreck vom Weg ab in ein Haferfeld springen ließ. Er hetzte dem Fahrzeug nach, bekam gerade noch den Mantelzipfel von der auf dem Sozius sitzenden Frau zwischen die Zähne, daß der Zipfel nicht am Mantel blieb, war klar.

Nebenbei bemerkt, Lehrer Kruse war, trotz seines Motorrad-Luxus, ein sparsamer Mann, denn die krummen Nägel, die wir Schuljungen nach dem Unterricht aus den Latten der Motorradtransportkiste herausgezogen hatten und die von uns wieder brauchbar zurecht gehämmert worden waren, lagen mittlerweile sortiert und geölt im Werkzeugkasten. Wie oft wir uns mit dem Hammer schmerzhaft auf die Finger geschlagen hatten, bleibt ungezählt.

Ab und zu nahm uns der Lehrer auf dem Sozius zu einer kleinen Fahrt mit. Und so war auch ich wieder einmal an der Reihe für einen motorisierten Ausflug. Aber dieses Mal sollte die Fahrt keinen alltäglichen Abschluss haben. Nachdem wir durch einige Dörfer »getuckert« waren und Heyroth wieder unser Blickfeld erreichte, kam uns ein Lastwagen entgegen. Das geschah damals recht selten, weil es deren nur wenige in der Umgebung gab. Der klobige Laster näherte sich uns auf der engen, etwas abschüssigen Straße, und mir auf dem Sozius wurde es schon ganz mulmig, denn der Laster kam mir tatsächlich wie ein lautstarkes, die ganze Straße einnehmendes Ungetüm vor. Es schien mir kaum möglich zu sein, daran vorbei kommen zu können. Aber es ging doch, schnell - vielleicht zu schnell - hatten wir das Ungetüm passiert; aber der Lehrer tat einen Schmerzensschrei. Durch die Räder des Lasters war einer der vielen von der Straßendecke gelösten Feldsteine hochgeschleudert worden und hatte mit Wucht das Schienbein des Lehrers getroffen. Er verriss den Lenker, fuhr die Straßenböschung hinunter direkt unter das nach oben spitz zulaufende Stangengerüst eines auf der angrenzenden Wiese stehenden Heubockes, der mit halbtrockenem Heu behangen war. An einer Querlatte des Gerüstes verhakte sich der Lenker des Motorrades, hob den Heubock von der Erde ab und lief mit ihm im Huckepack noch 60 bis 70 Meter im Standgas weiter, um dann endlich mit abgewürgtem Motor stehen zu bleiben. Und jetzt war es die plötzliche Lautlosigkeit, die dunkle Enge im starken Heuduft, die mich spontan umfing und in mir für einen Augenblick ein Panikgefühl hervorrief. Aber dann dauerte es nur einen Moment und ich hatte mich blitzschnell aus der buchstäblichen Zwangslage heraus gewunden, stand erleichtert hinter dem Heubock, aus dem ich nur noch das Hinterrad des Motorrades mit dem weißen Nummernschild IZ 26886 herausragen sah. Schließlich kraxelte auch der Lehrer aus der »Heuhöhle«. Mittlerweile war der Bauer Z., am anderen Ende der Wiese mit dem Heumachen beschäftigt, hinzu gekommen. Zuerst lachte er darüber, was gerade mit seinem Heubock passiert war, aber als er das schmerzverzogene Gesicht des Lehrers und dessen Wunde am Schienbein erblickte, wurde er ernsthafter. Er überlegte nicht lange, ging zu seinem Gespannwagen, warf die für noch weitere Heuböcke vorbereiteten Fichtenstangen herunter, legte eine Schicht Heu auf den Wagen und half dem lädierten Lehrer auf den Wagen. Ich hatte mich auf den hinteren Wagenteil gesetzt, etwas schockiert über die verunglückte Motorradfahrt ins Heu. Wir fuhren zum Dorf. Obwohl sich der Kuhwagen nur im Schrittempo fortbewegte, sah ich den Lehrer schmerzhaft zusammenzucken, wenn die eisenbereiften Wagenräder eines der vielen Schlaglöcher erwischten. Als wir endlich die Wohnung im Schulgebäude erreicht hatten und der Fuhrmann mit einem langgezogenen »0-hüh« das Gespann anhalten ließ, erschien mir die Ankunft wie ein demütigender Abschluss nach einer so froh begonnenen Fahrt. Die Sonne schien zwar noch genau so schön wie zu dem Zeitpunkt, als wir mit dem Motorrad losgefahren waren, doch der Schatten unter der wuchtigen Linde vor der Schule war in einem gewissen Sinn vergleichbar mit dem, der über das Gesicht von Frau Kruse huschte, als sie erschrocken und leicht verärgert ihren Mann am Wagen empfing. Er humpelnd, sie ihn in ihrem Arm haltend, so verschwanden die beiden durch die große Haupteingangstür in ihre Wohnung. Die folgende Zeit war bei unserem Lehrer weniger durch das Motorrad bestimmt. Bald sah man ihn statt dessen immer öfter mit seiner Frau die kleine Tochter Ingeborg im Kinderwagen spazieren fahren. Doch im schneereichen Winter 1932/33 wurden wir durch ein tägliches Rodelvergnügen für das entgangene Motorradfahren mit dem Lehrer reichlich entschädigt. Eine Bemerkung des Lehrers Kruse am Nachmittag des 30. Januar 1933 ist mir bis heute fest in meinem Gedächtnis haften geblieben. Er kam damals erregt zum Unterricht und sagte: »Jetzt hat doch der Hindenburg den Hitler zum Reichskanzler ernannt. Wenn er bloß damit nicht den Bock zum Gärtner gemacht hat.« Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt noch keinen Reim darauf machen, warum der Lehrer so erregt auf die Radiomeldung reagiert hatte.

Dorfschulische Nostalgie 1930, Archiv Ingeborg Kruse.