»Bitte, Schaf braten«

Geschichte einer deutsch-polnischen Freundschaft

Ingrid Schumacher, München

Auf einmal stand er da. Es war sehr kalt in der Eifel im Januar 1945, aber wir hatten es warm im Haus der Großeltern. Es gab Holz genug und die Bauernstube war immer voller Menschen. Auch solche kamen, die wir gar nicht haben wollten: Goldfasanen, Leute von der OT und einige aus dem Dorf, von denen wir nicht wussten, ob sie nicht horchten, ob wir »den englischen Sender« hörten, was wir natürlich regelmäßig taten. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig. Auf dem Tisch lagen noch die Schalen der Pellkartoffeln und mein Onkel und Stefan, unser Pole, hatten die Pfanne mit den in Butter gerösteten Zwiebeln so sauber ausgegessen, dass man sie nicht mehr zu spülen brauchte.

Das lange, gemeinsame Tischgebet näherte sich dem Ende. Meine Großmutter, die schlecht hörte und darum immer den Zusammenhang mit den anderen verlor, hatte schon »Der süße Name..« angestimmt während die anderen noch bei »der Stunde unseres Todes« vom letzten »Gegrüßt seist du Maria« für die armen Seelen waren. Nichts in der Welt hätte dazu führen können, dass die Folge der Gebete abgebrochen wurde. Wer zu Anfang kam, musste unter Umständen eine halbe Stunde warten, bis sich jemand nach ihm umsah. Auch jetzt kümmerte sich niemand darum, dass sich die Tür geöffnet hatte und ein eiskalter Luftzug ins Zimmer kam. »Dier zoo!« rief mein Großvater zwischen zwei Vaterunser - Bitten und betete unverdrossen weiter. Er stand hilflos da, machte aber andächtig das Kreuzzeichen, als wir fertig waren. Er sah halb erfroren aus. Die Kleider, eine abgetragene Uniform und alte Stiefel, begannen abzutauen und Schmelzwasser tropfte auf den Holzboden. Er hatte ein junges Gesicht und unter der Strickmütze kam eine blonde Locke hervor. Er sagte etwas, was wir nicht verstanden und dann deutlich und irgendwie eindringlich: »Bitte, Schaf braten.«

Er öffnete die Tür zum Flur und da standen noch zwei, ein junger und ein älterer Mann, beide in deutschen Uniformen, und sie trugen ein totes Schaf. Es war so fest gefroren, dass es aussah, als wäre es aus Holz. »Bitte, Schaf braten«, sagte nun auch der Ältere. Stefan, der erkannt hatte, dass es sich um Landsleute handelte, erhob sich, um mit ihnen zu sprechen. Er erklärte uns, dass sie irgendwo ausgerissen waren, das Schaf mitgenommen und unterwegs getötet hatten und nun wollten, dass wir es ihnen braten sollten. »Sehr hungrig«, sagte Stefan, »und sehr kalt.«

Wie lange wir sie noch angestarrt hätten, weiß ich nicht, aber meine Großmutter unterbrach das Schweigen. »Die orm Jungen«, sagte sie und dann »Hanni!« Dies konnte bedeuten, dass sie an ihren jüngsten Sohn dachte, der in Russland war, aber auch, dass sie meinen Großvater aufforderte, etwas zu unternehmen. Aber was? Entlaufene Polen aufzunehmen war fast riskanter, als über die Nazis zu schimpfen. Das wusste auch Stefan. »Scheune«, sagte er. Und mein Onkel meinte, in den deutschen Uniformen könnten sie unerkannt über den Hof gehen. Sogar mit dem Schaf.

So wurden sie also vorerst im hinteren Teil der Scheune untergebracht, mit dem Schaf und mit Stefan, der sogar -Gott allein weiß woher -plötzlich eine Taschenlampe hatte. Inzwischen wurden meine Großmutter und meine Tante in der Küche tätig. Innerhalb kurzer Zeit hatten sie einen Topf Kartoffelsuppe gekocht, die sie mit Gree- wen,also Speckstückchen anreicherten, und einen großen Stoß Pfannkuchen gebacken. Alles wurde in Eimer getan, damit es so ausah, als sei es für das Vieh bestimmt, obwohl es höchst ungewöhnlich war, um diese Zeit noch zu füttern. Alles kam gut an, und es gelang auch, unsere Gäste mit Wolldecken zu versorgen. Sie blieben noch einen Tag und eine Nacht. Das Schaf war inzwischen aufgetaut und stank entsetzlich. Es musste schon längere Zeit tot gewesen sein. Mitten in der Nacht wurde es unehrenvoll im Misthaufen beigesetzt. Am nächsten Tag waren alle beschäftigt. Die beiden Frauen kochten und schmierten Butterbrote. Die Männer schmuggelten das Essen in die Scheune und Stefan sorgte für die Verständigung. So wussten wir, als sie morgens in aller Frühe kamen, um sich zu verabschieden, dass der ältere Thaddäus, der junge Ca-rol und der, den wir zuerst gesehen hatten, Stanislaus hieß. Welchen Fluchtweg Stefan ihnen eröffnet hatte, erfuhren wir nie. So standen sie dann wieder in der Stube, trocken diesmal und satt. Sie umarmten meine Großmutter. »Danke, Mama«, sagten sie »danke«.

Den Männern drückten sie die Hand. »Auch Tochter«, sagte Thaddäus und zeigte auf mich.

Stanislaus aber, Stanislaus fasste meine Hand, zog sie an seine Lippen, und ich erhielt den ersten Handkuss meines Lebens. »Wiedersehen, Fräulein,« sagte er - und ich war zwölf!

Ich habe meiner polnischen Haushaltshilfe Haiina die Geschichte erzählt und sie gefragt, was »Schaf braten« auf polnisch heißt. Offenbar hat sie nicht verstanden, was ich wissen wollte. Als sie das nächste Mal kam, hatte sie ein Rezept für Hammelbraten mitgebracht und auch gleich eine Kostprobe gemacht.

Es war köstlich - fast so wie der Handkuss von Stanislaus.