Der Kirmeskuchen

Therese Schneider, Brockscheid

In den fünfziger Jahren war die Dorfkirmes noch etwas Besonderes. Viele Verwandte und Freude wurden eingeladen, die man sonst im Jahr nur selten sah. Aber man hielt doch Kontakt aufrecht; zu bestimmten Feiertagen und auch zum Namenstag wurde eine Karte geschrieben. Besonders für die Kinder war es eine frohe Abwechslung, wenn Tanten und Onkels für zwei Tage zu Besuch kamen, die dann immer etwas mitbrachten. Meistens Kleinigkeiten, worüber die Kinder heutzutage nur lächeln würden, aber damals waren die Kleinen noch anspruchsloser und konnten sich an bescheidenen Dingen erfreuen. Zu den Vorbereitungen der Kirmes gehörte es auch, Übernachtungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Häuser waren meist klein und die Anzahl der Familienmitglieder groß. Es wurde zusammengerückt, und so machte es den Kindern Spaß, wenn sie mal auf der Bank in der Wohnstube schliefen, damit die Betten den Vettern und Kusinen, die mitgekommen waren, zur Verfügung standen. Man nahm gerne alle Opfer auf sich, denn zwei Tage mit der Verwandtschaft Wiedersehen und Kirmes feiern zu dürfen, war großartig.

An den Tagen vor der Kirmes ging es - was die Arbeit betraf - hoch her. Es gab sie in Hülle und Fülle, Schlachten, Backen und das ganze Haus putzen waren die Haupttätigkeiten. Der Hefekuchen wurde meistens von der Mutter gebacken - und den gab es überwiegend zum Kirmeskaffee. Wo aber eine erwachsene Tochter war, die sich schon mal im Backen einer Buttercreme- oder Schokoladentorte versuchte, konnte eine solche Köstlichkeit die Kaffeetafel schmücken.

So durften wir uns über eine gut gelungene Torte freuen, die zu jedermanns Ansicht in der Wohnstube auf dem großen Tisch stand, da dies - aus Ermangelung eines Kühlschranks - der beste Platz war. Die Stube wurde ja erst Sonntagsmorgens beheizt und bis dahin stand das Gebäck dort kühl, es war wirklich ein Glanzstück. Als am Samstagabend alle notwendigen Arbeiten verrichtet, auch der Kirmesbraten vorbereitet und wieder kühl gestellt worden war bis zum Fertigschmoren am nächsten Vormittag, machten wir uns zurecht, um in unserer Dorfwirtschaft mit den vielen Gästen, die sich dort eingefunden hatten, die Kirmes zu eröffnen. Unsere »große« Tochter war mit dabei, und wir fanden gerade noch an einem Tisch Platz. Es war üblich, dass am Kirmessamstag viele Händler und Geschäftsleute kamen, bei denen die Dörfler das Jahr über ihre Einkäufe tätigten, denn im wesentlichen waren die Bauersleute doch Selbstversorger oder sie ersparten sich die Anschaffung kleinerer Gerätschaften; man lieh sie sich gegenseitig aus. Bei angeregter Unterhaltung ging es feucht-fröhlich zu, und die Stunden vergingen wie im Fluge. Zwischendurch erwähnten wir bei unserer Tochter, dass der Haustürschlüssel wie immer am gewohnten Platz lag, nämlich außen am Stubenfenster hinter dem Blumenkasten. Der Schlüssel, der zu dem großen Kastenschloss unserer alten Haustür gehörte, war so groß, dass wir ihn lieber nicht mitnahmen, sondern seit eh und je das Schlüssellegen praktizierten.

Schlechte Erfahrungen hatten wir bis dahin nicht gemacht. Die Stimmung an unserem Tisch wurde immer fröhlicher, und drei der Männer fielen besonders auf, so charmant wie sie sich gaben. Wir freuten uns mit ihnen, schließlich zeigten sie sich spendabel und gaben »einen aus«, so wie es Geschäftsleute-Manier war. Später brachen sie auf und verabschiedeten sich freundlich.

Als wir nach Hause kamen, staunten wir nicht wenig; vor unserer Haustür lagen abgebrannte Streichhölzer. Den Schlüssel nahmen wir an der gewohnten Stelle und gingen ins Haus. Auch hier überall verkohlte Streichhölzer, sonst war nichts auffällig. Erst, als wir in die Stube kamen, sahen wir, was geschehen war; die schöne Torte stand nicht mehr auf dem Tisch, sie war mitsamt der Kuchenplatte verschwunden. Unsere Tochter weinte, denn sie hatte sich viel Mühe um das Gebäck gemacht, mir tat es eigentlich mehr leid um die Kuchenplatte, die ein altes Familienstück war.

Wir rätselten nicht lange, wer im Haus gewesen war, wussten jetzt das schelmisch charmante Benehmen der drei Männer zu deuten. Sie hatten uns einen Streich gespielt. Derartiges kam früher öfter vor. Wir überwandten den Ärger, damit die Schadenfreude nicht noch größer wurde, denn der Kirmesstreich war bereits in den nächsten Tagen durchgesickert.

Einige Wochen später klopfte es bei uns an einem Sonntagnachmittag an die Tür und herein trat ein junger Mann mit einem Kuchen samt Kuchenplatte beladen und stellte alles auf den Tisch. Unsere Überraschung war groß, als wir in dem Besucher einen von den »Dreien« erkannten, mit denen wir am Kirmessamstag die Kirmes eröffnet hatten. Trotzdem luden wir ihn ein, sich zu setzen. Sichtlich nervös und beschämt schilderte er, wie die Sache abgelaufen war. Die Torte hatten sie in einen benachbarten Ort mitgenommen und dort zusammen verzehrt. Sie hatten unser Gespräch um den Haustürschlüssel mitangehört und den Plan gefasst, diesen Schabernack auszuführen. Als unser Besucher feststellte, dass wir uns versöhnlich zeigten, wurde er gesprächiger und sagte, ihn hätten Gewissensbisse geplagt und darum habe er sich im Beichtstuhl angeklagt. Der Beichtvater machte ihm zur Auflage, den Schaden zu ersetzen.

Ich goss eine Kanne Kaffee auf und dann ließen wir uns den vom »reuigen Sünder« spendierten Streuselkuchen gemeinsam gut schmecken; eine Creme-Torte war es allerdings nicht. Während wir uns gütlich taten, gestand er uns, dass sie gerne noch ein Stück Fleisch mitgenommen hätten, zumal der Geruch vom Braten ihnen in der Küche in die Nase stieg. Aber dann hätte sie doch der Mut verlassen. Ein Glück für uns, denn am Kirmessonntag ohne den vorbereiteten Braten dazustehen, wäre erst recht peinlich gewesen.

Als der junge Mann sich von uns verabschiedete, tat er es im Bewusstsein, dass wir den »Dreien« den Streich nicht nachtragen.