Die Taube - Erzählung

Sabrina Jucken, Niederstadtfeld

Herr Tonnkrug stolperte zum wiederholten Male über eine Taube, die ihm scheinbar als einzigem der Passanten in den weitläufigen Straßen der Stadt entgegen ihrer gewohnten Verhaltensweise nicht aus dem Weg ging. »Vielleicht bemerken sie mich kaum«, dachte er bei sich und fand den Gedanken nicht wenig seltsam. Aber sich daran aufzuhalten, hatte er keine Zeit. Mit seinen raschen federnden Schritten setzte er seinen täglichen Gang fort. Obwohl seine äußere Erscheinung sich nicht weiter von der anderer Menschen auf den städtischen Bürgersteigen abhob - er sah nicht minder gepflegt aus, sein Hut, den er freundlich zum Gruß zu heben pflegte, verlieh seinem schmalen Gesicht sogar edlere Züge -, blickten die Städter ihn mit Argwohn an, versteckt hinter einer Fassade der Freundlichkeit. Zu Beginn der beruflichen Tätigkeit nahm er ihnen ihre Freundlichkeit noch ab und trug sie mit in sein Heim. Dort erfüllte sie dann seine zwei sehr kleinen Räume und er war zufrieden, obschon er nicht viel verkaufen konnte. Herr Tonnkrug wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines vieretagigen Hauses ohne Fahrstuhl. Immer wenn er die Türe zu seiner kleinen Wohnung erreichte, sah er die beiden Räume still hintereinander liegend. Oft stand die Zwischentüre, die beide Räume verband, offen und er konnte sogleich bis an das hintere Ende seiner weißen Wände blicken, so dass sein Alltag ihn gleich zweifach auf seine menschlichen Grenzen stieß. Wenn Herr Tonnkrug dann nach einem doch meist ablehnungsreichen Tag die Türe zu seiner Wohnung aufschloss, einfach nur im Wissen daran, sich für eine kurze Zeit anderen nicht auszuliefern, fühlte er sich vor einer Sackgasse stehend. Doch alles sollte sich ändern.

Eines nachts fand Herr Tonnkrug eine schlafende Taube auf dem Kopfkissen seines Bettes. An diesem Abend war er bis spät durch die Nacht gelaufen, denn dort, in der Dunkelheit der Straßen, fühlte er sich geborgen und vergaß seine alltäglichen Probleme. Die Taube hatte er mitgebracht aus seinen nächtlichen Träumen, die er für gewöhnlich auch schnell wieder vergass.

Als er an diesem Morgen seine Augen aufschlug, entdeckte er - nachdem er sich den Sand aus den Augenwinkeln gewischt hatte - bald die Feder, die neben seinem Kopf auf dem Kissen ruhte. Erstaunt fasste er sie - in diesem Moment war seine Erinnerung noch verschwommen, auch wenn diese Feder ihm ein wenig vertraut schien. Herr Tonnkrug schloss die Lider erneut und ein Bild erstand vor seinen Augen, so intensiv und lebendig, es schien ihm seit jeher zutiefst eigen gewesen zu sein. Er sah sich selbst, mit seinem Koffer in der Hand, durch eine der Straßen hastend. Doch die Straßen waren menschenleer, die farblosen Häuser standen wie Mauern zu beiden Seiten, und Herr Tonnkrug erkannte sich, wie er die Schatten der Straßenlaternen grüßte, als wären es lebendige Wesen.

Dann begann es zu schneien; das steinerne Grau der Gebäude verschwand hinter einem kühlen stobenden Weiß, das aus den grauen Wolken über der Stadt fiel. Herr Tonnkrug eilte scheinbar unaufhaltsam weiter, bis die Kälte schließlich seine Bewegungen einzufrieren begann. Und als er seinen Blick gegen den Himmel richtete, erkannte er plötzlich, daß ein Teppich von Tauben über die Stadt hinweg zog. »Unvollstellbar, die Zahl weißer Tauben...«, hatte er im Schlaf gemurmelt, auch hatten sich die Schneekristalle jetzt in sanfte weiße Federn verwandelt, die wie Watte vom Himmel schwebten und Herrn Tonnkrug schützend umwoben. Die harten Konturen der Häuser wurden weich, verschwammen ganz sanft. Selbst, schien er zu schweben, so sehr wollte er es den Tauben gleich machen und ein wenig schwereloser sein.

Und wirklich, einen Moment später sah er sich die Handfläche öffnen und beobachtete, wie eine Feder langsam auf seine Hand schwebte, und als ihm warm ums Herz wurde, brachte ihn ein Aufwind wohin er wollte... Dann verlor sich das Bild langsam und Herr Tonnkrug betrachtete die Feder in seiner Handfläche aufmerksam. Als er des morgens wieder die Stadt durchquerte, verlor er sich in Gedanken. Entgegen seiner gewohnten Art hob er nicht den Hut und grüßte die vorbeigleitenden Menschen nicht. Er nahm sie nicht wahr. Und da passierte es, dass er stolperte, zum wiederholten Male, jedoch anders als je zuvor.

Wie verwundert war die schon etwas ältere Dame, als Herr Tonnkrug ihr die Hand reichte um ihr aufzuhelfen und sie sodann die Taubenfeder in ihrer Hand spürte. Die Taubenfeder, die Herr Tonnkrug -jetzt noch ganz überrascht von diesem plötzlichen Zusammentreffen - aus seinen Träumen gebracht, vergessen hatte.

Beide sahen einander an und hielten einander, und die Taubenfeder verband sie - eine kleine Ewigkeit.