Die gute alte Zeit

Eine Aufforderung zum Dialog

Alois Mayer, Daun

Im Gespräch mit vielen Menschen vernehme ich regelmäßig die Behauptung: »Früher war alles schöner und besser!«

Beim gemeinsamen Betrachten älterer Fotos höre ich nicht selten: »War das nicht schön früher?« Viele Aufsätze und Gedichte in Heimatkalendern und Jahrbüchern - klammern wir die Kriegsjahre mal aus - künden von der guten alten Zeit. Teilweise schwingen zwischen den Zeilen aufdringliche Nostalgie und Sehnsucht über die vergangenen Jahre. Teilweise sind deutlich Trauer und Wehmut eine dem Ende entgegen gehenden Lebens des Schreibers zu erkennen. Kinder, Jugendliche, selbst reifere Erwachsene lesen und hören all dieses oft so pathetisch Verkündete von der guten alten Zeit. Sicherlich werden viele davon diese «so ganz locker vom Hocker« ausgesprochene Phrase - für mich enorme Unwahrheit - auch wirklich glauben. Möglicherweise erlaubt die heutige reizüberflutete Zeit nur geringes kritisches Nachdenken, weil doch dieses Zitat von der »guten alten Zeit« bereits so oft gehört wurde, dass es wahr sein muss. So ist es durchaus verständlich, jene Behauptung einfach so stehen zu lassen, sie schlichtweg als den Tatsachen entsprechend anzusehen und infolgedessen auch häufig kritik- und gedankenlos weiterzugeben. »Ja, das war früher alles besser als heute, da hatten die Leute Zeit für einander, das war nicht so ein Stress wie heute. Da traf man sich noch auf der Kreuzstraße, hat abends gesungen und erzählt, da hat man doch und noch... und überhaupt die Jugend von heute ist auch nicht mehr das, was sie mal war...« Die gute alte Zeit. Was ist bloß damit gemeint? Zeit? Sie wird doch vom Menschen erfahren als das Nacheinander veränderlicher Wesen, in der unumkehrbaren Richtung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung. Das Vorher und Nachher wird ermittelt durch das Gedächtnis. Zeit ist nicht durchschaubar, aber sie kann durch Vergleichen gemessen werden. Zeit wird verschieden bewertet. Was für den einen eine gute Zeit war und ist, bedeutet für den anderen etwas Schlimmes, welches er am liebsten aus dem Gedächtnis und der Erinnerung streichen möchte und umgekehrt. Zeit ist ein relativer Begriff. Eine Stunde Liebe mag kurz sein, eine Stunde Mathematik fürchterlich lang. Die gute alte Zeit! Ist damit die Zeit vor tausend Jahren gemeint? Die Zeit der Burgen und Klöster, in deren Schatten sich der freie Eifelbauer immer mehr in ein jahrhundertlang andauerndes unglaubliches Abhängigkeitsdasein hinein entwickelte? Unfrei, mit dem Leib irgend einem geistlichen oder weltlichen Herren eigen, der mit mir, meiner Familie und meinem Dorfe machen konnte, was ihm beliebte. Wo meine Vorfahren fronen und als Knechte, fast ohne Rechte, in primitivsten Verhältnissen dahin vegetieren mussten? Ist damit die Zeit des ausgehenden Mittelalters und der Neuzeit gemeint? Die Zeit, in der unser Eifelraum beliebtes Aufmarschgebiet für alle möglichen Nationen war, die selten etwas anderes taten, als in unsere Heimat einzufallen, zu rauben und zu morden, zu plündern und zu brandschatzen? Wo meine Vorfahren schreiend und weinend vor den verbrannten Wenigkeiten ihres Besitztums standen? Väter und Söhne verzweifelt ihre geschändeten Frauen und Schwestern betrachteten, nicht wissend, wie sie weiterleben, die Pest- und Notzeiten überleben und den hohen steuerlichen Abgaben nachkommen konnten? Ist damit die Zeit des vorletzten Jahrhunderts gemeint? Wo sich bäuerlicher Besitz durch Erbteilungen immer mehr zersplitterte, dass letztlich Parzellen übrig blieben, kleiner als manches heutige Wohnzimmer? Wo die Ackerkrume die kinderreichen Familien nicht mehr ernähren konnte, wo meine Vorfahren auswandern mussten, weil Steuern, Abgaben, Missernten, Hungersnöte sie in ihrer Existenz bedrohten? Ist mit der guten alten Zeit unser letztes Jahrhundert gemeint, das zwei Weltkriege, Tod und Zerstörung erlebte? Wo ich meine Vorfahren, blutjunge Menschen, denen es nicht vergönnt war, zu heiraten, dörfliches Brauchtum oder das Heranwachsen ihrer Familie zu erleben, auf einem der vielen Soldatenfriedhöfe besuchen muss? Ist mit der guten alten Zeit die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gemeint, wo Reparationen und Hunger das Tagesgeschehen beeinflussten? Wo mein Vorfahre, der Schuster Nikla, ein ganzes Jahr fleißigst arbeitete und dann an dessen Ende feststellen musste, das die Inflation seinen gesamten Verdienst vernichtete? Wo meine Oma sich trotz ihrer großen Kinderschar und ihres kleinbäuerlichen Anwesens mit all seiner Arbeit noch als Magd verdingen musste, weil sonst die Familie hätte betteln gehen müssen? War die Zeit, in der Kinder ihre Eltern mit »Ihr« und »Sie« angeredet haben, die erhaltenswerte Zeit, oder ist der heute angeblich vermisste »Respekt vor dem Alter« damals in Wirklichkeit nur angstvoller Kadavergehorsam gewesen, fernab von partnerschaftlicher Beziehung? Ist mit der guten alten Zeit das Dritte Reich gemeint, der Zweite Weltkrieg? Nie hat unser Land lichterloher gebrannt! Nie ist es mehr zerstört worden als damals! Nie erlebten meine Vorfahren größere Schrecken als bei Flucht und Vertreibung, Evakuierung und Krüppelschäden.

Ist mit der guten alten Zeit die Nachkriegszeit gemeint, die französische Besatzung, die Geldentwertung, als mein Vater mit Nichts außer 40,- DM pro Kopf seine Familie durchbringen musste, als meine Geschwister mit wenigen Wochen sterben mussten, weil die medizinische Versorgung und Entwicklung nicht den heutigen Stand erreicht hatten?

Was ist bloß die gute alte Zeit? Wann war sie denn? Man nennt mir Beispiele: »Ja, da hatten die Menschen noch füreinander Zeit. Man half sich gegenseitig und hatte trotz der vielen Arbeit noch genügend Raum, miteinander zu reden. Damals lernte man in der Schule noch Gedichte und Lieder, da spielte man viel glücklicher und kameradschaftlicher, da standen die Türen in den Häusern noch offen. Da schimpfte keiner, wenn man sich abends besuchte, da war man an Weihnachten noch froh mit einem Taschentuch und einer Apfelsine, da hatte die Jugend noch Respekt vor den Erwachsenen, dem Lehrer und dem Pastor. Da hielt die Familie zusammen und die Großfamilie war bergender Schutz, da kannten wir den Katechismus noch auswendig, beteten und befolgten die Gebote...«

Ich denke, in solchen Äußerungen, die sicherlich nicht alle falsch sind oder heute in verklärtem Licht gesehen werden, spiegelt sich existentielle Angst wider und die berechtigte Sorge in der Frage nach der Zukunft und dem Sinn des Lebens, besonders in der Entwicklung der Familie und des Dorfes, in der Frage nach Normen und Werten, nach Moral und Glauben. Grenzen der einst engen und teilweise beengenden Gemeinschaft sind gesprengt, andere, noch unbekannte Grenzen tun sich dagegen auf. Der Eindruck, etwas verloren zu haben, was einem persönlich wertvoll war, was Halt, Schutz und Geborgenheit, Geführtheit und Vertrautheit vermittelte, dieses Gefühl der Unsicherheit wächst und wird durch noch Unbekanntes ersetzt. Theoretisch musste man doch heute mehr Zeit füreinander haben. Maschinen leisten in Stunden die Arbeit, die früher tage- und wochenlang dauerte. Theoretisch mussten wir doch alle glücklicher sein, wenn wir bilder von heute betrachten: Gut gekleidete Menschen, satt und genährt, Urlaub in der ganzen Welt, mehr als ein Auto, die modernsten Maschinen, keine abgehärmten, kaputt gearbeiteten Knochen mehr, Fernsehen, Videos, Luxus ohnegleichen, Kinder, die lachend die Schule besuchen und bestens ausgebildet gut bezahlte Berufe ergreifen, deren Namen man früher nicht mal kannte. Frauen und Männer, die in der Mitte ihres Lebens auch noch jung und vital aussehen und nicht wie verfrühte Greise, eine hochspezialisierte Medizin, keine Angst mehr vor Lehrer, Pastor, Denunziation und Unterdrückung, keine Knechte und Mägde, keine Gesindemärkte mehr, eine Demokratie und eine Freiheit sondergleichen, eine soziale Absicherung, die bereits übertrieben scheint, eine hohe Lebenserwartung und einen Besitzstand, - alles Fakten, die sich sehen lassen können, die Stolz hervorrufen müssten.

Und trotzdem scheint man mit dem Heute nicht zufrieden zu sein, sehnt sich nach dem »Geheechnis« früherer Zeit. Vielleicht spürt man bewusst oder unbewusst, dass Geld und Technik, das Anbeten von Konsum nicht die Erfüllung und die Sinnhaftigkeit erbringen, die wir, nach Glück und Zufriedenheit strebend, erhoffen. Vielleicht spürt man anwachsende Angst und Verunsicherung vor dem sich immer schneller entwickelnden Trend zu einer hochtechnisierten und digitalisierten Welt, wünscht sich bewusst oder unbewusst, nicht mehr von Termin zu Termin zu hetzen, bedauert vielleicht den Einzug von Computer in Viehställe und genmanipuliertes Klonen, ahnt, dass auch die Fülle der Dorffeste und Vereinsfeiern, statt früher nur verschwindend wenige, ebenso zu stärkeren Isolationstendenzen führen, wie unkontrollierter Video- und Fernsehkonsum. Man registriert, dass Kinder früh flügge werden, der häuslichen und dörflichen Gemeinschaft entwachsen, und mit Walkmans an den Ohren vielleicht den Respekt vermissen lassen, den man sich doch erwartete, dass die heutige Kleinfamilie in der Tat nicht mehr das bieten kann und bieten will, wie das früher war, dass zahlreiche ältere Menschen alleine in einem riesigen Haus wohnen oder in ein Altersheim gegeben werden, weil das eben heute so ist.

Für mich ist deutlich erkennbar, dass sich die Kluft der Generation von Gestern auf Heute rapide entwickelt hat und sich noch weiter entwickeln wird hin zu einer internetisierten Welt, die verbale Kommunikation überflüssiger machen wird. Die Frage ist nur, wollen wir das ändern? Wollen wir wieder zurück in die Zeit der Petroleumlampen und Spinnräder? Wahrlich wohl nicht. Und die Behauptung, die Jugend in 100 Jahren aufstellen könnte: »Was war das doch für eine gute alte Zeit, jene Jahre um 2000!« werde ich nicht mehr erleben. Was also ist heute anders als jene angeblich so gute Zeit? Und wenn was geändert werden muss, wer ändert es? Der Staat, die Gesellschaft, die Eifel, das Dorf, die Anonymität? Ich allein muss es ändern, muss die Werte vorleben und weitergeben, damit ich sie auch wieder zurück erhalten oder einfordern kann. Liegt also die gute alte Zeit nur in mir? Dann müsste sie bei gutem Willen leicht zu finden und erfahrbar zu machen sein.

Ich sehe eine große Chance im Vergleich des Lebens meiner Vorfahren mit dem unsrigen. Das Rad der Geschichte und damit das des Lebens lässt sich nicht zurückdrehen. Aber die Geschichte, das Leben und Erleben unserer Vorfahren ist für alle Heutigen Verpflichtung und Vermächtnis, an die nachkommenden Generationen weitergegeben zu werden. Es ist unsere Pflicht, unseren Kindern und Jugendlichen all das zu zeigen und zu erzählen, was uns als wichtig und wert erscheint, erhalten zu bleiben. Nicht das unpersönliche »man« hat mich in eine Isolation gedrängt, sondern ich mich ganz persönlich. Und im Bewusstsein dieser Erkenntnis liegt dann der Schlüssel zur guten Zeit. Entfernen wir uns also von der häufig selbst gewählten Isolation, treffen wir uns doch im Kreis der Familie und zeigen unseren Kindern in Wort und Bild das Leben unserer Vorfahren, flechten wir Erlebnisse, Gefühle und Gedanken bei und berichten von unserem Dorf, schildern die Arbeit und den Verdienst, die Kirmes und die religiösen Feste, Traurigkeiten und Fröhlichkeiten, Besonderheiten und Kuriositäten; lassen wir unsere Ahnen auf vergilbten bildern wieder lebendig werden, sie in ihrer Sprache, in ihren Anekdoten erzählen, weisen wir hin auf Werte, die eine intakte Familie, eine religiöse und dörfliche Gemeinschaft bieten können, lassen wir deutlich werden, wie das Verhältnis unserer Vorfahren untereinander, zueinander, miteinander war, wie sich Eltern zu Kinder und Kinder zu Eltern verhielten. Berichten wir es. Erzählen wir es. Nicht theatralisch, bedauernd und melancholisch. Nicht so, als ob unsere Vorfahren alle Helden oder alle Opfer gewesen wären, nicht so, dass Eindrücke entstehen: »Verdammt noch mal, Kind, sei dankbar, so lebten unsere Vorfahren, das habe ich geleistet und du... ?«

Lassen wir mit Ruhe und Optimismus die von uns erlebte Geschichte in uns wirken und unsere Seele zum Klingen bringen. Das Ergebnis lohnt, wiederum ruhig und mit Objektivität - und ohne erhobenen Zeigefinger - unseren Nachfahren mitgeteilt zu werden. Mit Sicherheit erwecken wir so bei allen Zuhörern Respekt vor der vergangenen Zeit. Es wird nicht zu Äußerungen kommen: »Lass uns mit dem Quatsch von Gestern in Ruhe. Heute ist heute und nach mir die Sintflut!« Das Gegenteil wird der Fall sein, es kommt zum Begreifen und zum Verstehen und dadurch zum Verständnis einer zwangsläufig notwendigen Entwicklung der menschlichen Kette und des geschichtlichen Soseins von uns und unserer Heimat. Es kommt mit Sicherheit zu Ehrfurcht und Anerkennung der Leistungen vergangener Generationen und zur Erkenntnis, dass nicht alles überholt und ablehnenswert ist, was es früher gab, aber auch weiß Gott nicht alles nur gut und erhaltenswert. Die gute alte Zeit! Es hat meiner Meinung nach in der gesamten Geschichte der Eifel noch nie einen Zeitraum gegeben, der so frei und reich, so gut und wertvoll ist wie der heutige. Noch nie ist eine Generation so glücklich, angst- und sorgenfrei aufgewachsen wie die Nachkriegsgeneration. Dass sie dies aber konnte, verdankt sie der nie messbaren Leistung und Arbeit, dem Blut, Schweiß, den Tränen, dem Sterben und den sinnlosen Opfern, der Angst und der Verzweiflung, dem unbeugsamen Willen nach Weiterleben, Überleben all unserer Vorfahren. Ich bin stolz auf sie, auf deren Leistungen und entschuldbare Fehler. Selbst wenn mir nichts anderes mehr von ihnen bleibt als Erinnerung und vergilbte Fotos oder Geschichten, so freue ich mich darüber, denn durch diese gesammelten Dokumente kann ich mich mit ihnen identifizieren, reiße sie aus der Vergessenheit heraus, lasse sie in mir lebendig werden, kann in etwa nachvollziehen, wie unsere, Ihre, meine Vorfahren, wie Sie und ich lebten, dachten und fühlten. Das ist die gute alte Zeit. Ich bin die gute alte Zeit, da ich meine Wurzel gefunden habe.