Erinnerungen an eine schlimme Zeit

Peter Jakobs, Simmern

Der Saal des Landgasthauses Reifferscheid in Birgel hat im Laufe der Jahre viel gesehen und erlebt; angefangen von Tanzveranstaltungen zur jährlichen Kirmes über Theaterabende und Karnevalsdarbietungen. Im Jahre 1956 hatte sich das Landgericht Trier als Schwurgericht hier eingerichtet, mit Richtern und Schöffen, mit Staatsanwälten und Verteidigern, mit Sachverständigen und einem Angeklagten, der in Birgel wohnte. An neun Verhandlungstagen versuchte das Schwurgericht Licht in ein Dunkel zu bringen, welches bereits 12 Jahre zurück lag und von dem man in dem kleinen Eifelort nichts ahnte. Angeklagt wurde der Buchhalter Will M. aus Birgel wegen Beihilfe zum Totschlag. Dieser war in der Zeit von 1938-1951 bei einer Lissendorfer Lebensmittelgroßhandlung beschäftigt. Im Juli 1942 erhielt er die Einberufung zur Waffen-SS. Dort machte er eine Ausbildung und wurde im Herbst 1944 zum Kommandoführer des Nebenlagers Zwickau vom Konzentrationslager Flossenbürg bestellt. Sein Dienstgrad war damals S S -Unterscharführer. In diesem Konzentrationslager waren vor allem Häftlinge nicht deutscher Nationalität untergebracht, die als Arbeiter in den Horchwerken in Zwickau beschäftigt wurden. Das Lager konnte 1000 Häftlinge aufnehmen, war aber nur mit 700 Personen belegt. Als Wachmannschaft standen ihm 40 SS-Männer zur Verfügung.

Gearbeitet wurde in Tag- und Nachtschicht von je zehn Stunden.

Zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Lager war der Angeklagte befugt, gegen die Häftlinge Prügelstrafen zu verhängen.

Im Februar 1945 erhielt er eines Tages vom Lagerältesten Keller die Meldung, dass russische Häftlinge einen Ausbruch aus dem Lager planten und zu diesem Zweck einen Stollen aus dem Lager treiben wollten. Dieses Vorhaben war von einem Mithäftling verraten worden. Geplant war der Stollen von einer leerstehenden Baracke aus unter der Lagerumzäunung, der dann außerhalb des Lagers enden sollte. Die Ausbrecher hatten nach geglückter Vollendung des Ausbruchs die Überwältigung der Posten und der Lagerfuhrung und die Inbesitznahme der Kraftfahrzeuge der Lagerleitung geplant, um damit zu den jenseits der Oder stehenden russischen Truppen zu gelangen.

Durch den Verrat war der Angeklagte über dieses Vorhaben in allen Details informiert. Er konnte alle Vorbereitungen treffen. Als es dann soweit war, der Ausbruch sollte erfolgen, ging an die unter einer Baracke im Tunnel befindlichen Häftlinge die Aufforderung, herauszukommen.

Der Verräter, ein politischer Häftling, leistete als einziger Folge. Einer weiteren Aufforderung, herauszukommen, kam niemand mehr nach. Daraufhin legten sich auf Befehl des Kommandoführers zwei SS-Männer auf den Fußboden, leuchteten mit Taschenlampen durch das Loch unter der Baracke und gaben aus ihren Maschinenpistolen auf die dort ausfindig gemachten Häftlinge so lange Salven ab, bis alle an diesen Ausbrucharbeiten beteiligten erschossen waren. Von der Lagerleitung des KZ Flossenbürg wurde dem Angeklagten für die »Tat« am Folgetag das Kriegsverdienstkreuz verliehen. Im Prozess in Birgel und in Jünkerath traten mehrere Zeugen auf, die das Geschehen an Ort und Stelle erlebt hatten.

Drei Sachverständige standen dem Gericht während der gesamten Prozessdauer zur Verfügung und wachten auch darüber, dass der erkrankte Angeklagte nicht überfordert wurde und verhandlungsfähig blieb.

Es war schwierig, genaue Feststellungen über die Anzahl der erschossenen Häftlinge zu treffen. In früheren Vernehmungen hatte der Angeklagte von 13 gesprochen, mit Sicherheit konnten ihm »nur« sechs Fälle nachgewiesen werden. Am 20. März 1956 wurde das Urteil verkündet: Gefängnisstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und die Kosten des Verfahrens. Der Prozess und das Urteil fanden im Eifelraum und darüber hinaus große Beachtung; für Wochen hatte man Gesprächsstoff, denn niemand hatte geglaubt, dass ein scheinbar biederer Bürger solche Schuld auf sich lud.