Christinentag

Monika Engelhaupt, G e r o l s t e i n - M ü 11 e n b o r n

Ich hatte eine aufregende Nacht hinter mir. Meine Freundinnen und ich waren auf Kneiptour und den letzten Absacker nahmen wir bei mir um vier Uhr früh. So ziemlich jeder Kneipe in unserer kleinen Stadt hatten wir unseren Besuch abgestattet. Mir war gar nicht bewusst, dass es so viele hier gibt, denn ich bin eine Zugezogene und erst seit kurzem in der Provinz. Meine kleine Stadt besitzt so viel Charme und wider Erwarten so viele nette, aufgeschlossene Menschen, dass mir mein Stadtleben heute nicht mehr fehlt und wenn ich von zu Hause spreche, dann meine ich nicht mehr meinen Geburtsort. Als es so früh am Morgen an der Tür klingelte, war ich noch ziemlich zerknittert. Nach vier Stunden Schlaf zeigten sich meine Lebensgeister sehr schwach und mussten erst mit einem Kaffee geweckt werden. Mühsam kletterte ich aus meinem warmen Bett, wankte im Zeitlupentempo zur Tür, während ich versuchte, in die Ärmel meines Kimonos zu schlüpfen. Bevor ich auf den Summer drückte, schaute ich auf den Monitor, um zu sehen, wer es morgens um acht Uhr wagte, mich aus meinen schönsten Träumen zu reißen. Mein »ja bitte« klang aus diesem Grund mit Sicherheit nicht sehr einladend, erst recht nicht, weil mir zu dieser pummeligen, rothaarigen Frau, die wie ein Überbleibsel aus der Hippiezeit aussah, nichts einfiel. Eine etwas schrille Stimme, verzerrt noch durch den Lautsprecher rief »Hallo Monika, ich bin's, Christine, deine Cousine, hallo, hallo Monika, hörst du mich?« Ich hörte zwar, aber ich verstand nicht, was diese Frau von mir wollte. Das lag allerdings nicht nur am Restalkohol in meinem Blut. Schon vor vielen Jahren hatte ich den Kontakt zur »lieben« Familie verloren. Mein Vater vertrat die Lebensphilosophie, lieber mit Freunden zusammen sein, die man sich aussuchen kann, als mit der Sippschaft, in die man hineingeboren wurde. Vielleicht waren es auch schlicht nur schlechte Erfahrungen. Sehr schnell musste ich lernen, dass Familie kein Garant für Geborgenheit und Hilfe war. Aus den Geschichten, die ich von meinen Eltern hörte, war Familie eher mit Neid und Habsucht gleichzusetzen, nicht unbedingt ein Boden, auf dem herzliche Gefühle für Tanten und Onkel und Cousinen entstehen. Als ich mir dann später selber Gedanken über meine Wurzeln, meine Ahnen machte, waren die meisten Verwandten in alle Winde zerstreut und die Großeltern tot. Die Rothaarige an der Tür war wohl eine von meinen vielen, vielen Cousinen. Das wilde Klingeln an der Tür riss mich aus den Gedanken und endlich drückte ich auf den Summer.

Die Tür ging auf und vor mir stand eine temperamentvolle junge Frau mit lachenden Augen, die mir keine Zeit zu einer Begrüßung ließ, sondern mich in die Arme nahm und herumwirbelte. Während sie krächzte, wie schön es sei, mich endlich wiederzusehen, wie es meinem Mann ginge und was die Mädchen so machen, bemühte ich mich vergebens aus dieser Umklammerung zu entflieh'n. Endlich ließ sie mich fahren, ich taumelte und landete auf dem Stuhl. Erwartungsvoll schaute sie mich mit ihren Kulleraugen an. Ich setzte schon an zu sprechen, doch sie kam mir zuvor: »Weißt du was Monika, ich fahre jetzt schnell los und hole uns frische Brötchen und du machst uns schon mal einen starken Kaffee, den scheinst du jedenfalls nötig zu haben.« Noch bevor ich etwas erwidern konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und nur der laute Knall, der noch in meinem Kopf nachhallte, sagte mir, dass das kein Traum war. Langsam schlich ich in die Küche, machte die Kaffeemaschine fertig, holte Saft, Butter, Käse und Marmelade aus dem Kühlschrank und ging dann ins Bad. Meine Zähne waren gerade geputzt und die Katzenwäsche beendet, da klingelte es schon wieder Sturm. Der Monitor zeigte meinen morgendlichen Quälgeist. So viel Energie zerrte ganz schön an meinen Nerven. Ich öffnete und der Wirbelwind schoss an mir vorbei in Richtung Küche. Bevor ich noch etwas sagen konnte, kamen schon ihre Befehle. »Geh du nur erst ins Bad und zieh dich an, ich decke schon mal den Tisch, denn in dem Aufzug wirst du ja wohl nicht frühstücken wollen. Ich hab auch die Tageszeitung mitgebracht, du brauchst dich also um mich nicht zu kümmern.« Resigniert, mein warmes Bett noch mit einem wehmütigen Blick streifend, ging ich wieder ins Bad. Angezogen und geschminkt, auch wenn sich die Spuren der letzten Nacht mit Make-up nicht völlig verdecken ließen, stürzte ich mich in mein Abenteuer Cousine. Mir wollte partout nicht einfallen, wessen Tantes Spross da in meiner Küche werkelte, doch war es mir erst einmal ziemlich egal, denn der Kaffeeduft zog mich magisch an, auch wenn ich dafür einen Schwall Wörter erdulden musste. Als ich die Tür öffnete, war ich angenehm überrascht. Der Tisch war liebevoll gedeckt. Es gab frisch gepressten Orangensaft in einem Krug, den ich schon seit Wochen gesucht hatte, eine Müslimischung mit Körnern und Trockenfrüchten, die mir völlig unbekannt waren, die aber gesund aussahen, Joghurt nackt und mit Frucht, allerhand Marmeladen, die auch nicht aus meinem Vorratsschrank stammten und viele andere Dinge, die sonst eher nicht zu meinem Frühstück gehörten. »Das Frühstück, meine Liebe«, meinte Christine, »ist die wichtigste Mahlzeit am Tag.« Auf meinen Einwand, dass ich nur eine Tasse Kaffee brauchte, wurde mir ein langer Vortrag über die Vorzüge der einzelnen Nahrungsmittel und deren Inhaltsstoffe gehalten. Ergeben löffelte ich mein Müsli und quälte mir dann auch noch ein halbes Brötchen hinein. Mein Gegenüber hatte keine Probleme zu essen, dabei zu reden und auch noch darauf zu achten, dass meine Tasse immer gefüllt war.

Das Klingeln an der Tür erlöste mich für einen Moment vom unerwarteten und ungebetenen Gast. Noch nie war ich so froh, unseren Postboten zu sehen. Leider fand ich keine Gelegenheit, gemütlich meine Briefe zu öffnen und zu lesen, denn kaum war ich wieder in der Küche, war der nächste Vortrag fällig. »Weißt du eigentlich, wie gefährlich es ist, einfach so die Türe zu öffnen, wer da alles davor stehen könnte.« Meinen Einwand, dass ich auf dem Monitor sehr wohl sehen konnte, wer Einlass in unser Haus begehrte, wischte sie nur mit einer Handbewegung fort und weiter wurde mir die Schlechtigkeit der Welt vor Augen geführt. Das Telefon unterbrach erst einmal ihren Redefluss. Es war eine meiner Freundinnen, die sich erkundigte, wie es mir nach dieser feucht-fröhlichen Nacht ginge und ob sie auf einen Sprung vorbeikommen könne? Mein Grunzen schien sie als Ja zu deuten und noch bevor ich auflegen konnte, klingelte es an der Tür. Den Hörer noch in der Hand ging ich öffnen. Die vier anderen Nachtfalter standen bepackt mit Brötchen und Champagner grinsend vor dem Haus. Nach so einem schönen Abend meinten sie, wäre ein gemeinsames Frühstück genau der richtige Abschluss. Sobald wir die Küche erreichten, machte sich Christine mit allen bekannt und benahm sich als perfekte Gastgeberin. Ulla, die sechste im Bunde, stieß eine Stunde später mit noch warmen Hefeteilchen und Champusnachschub zu uns. Wir gackerten um die Wette und sorgten dafür, dass unsere Gesichter noch mehr Lachfältchen bekamen. Erst am frühen Nachmittag machte sich unser Schlafdefizit bemerkbar und so nach und nach verabschiedete sich eine nach der anderen, um zu Hause noch etwas Augenpflege zu betreiben, bevor die Kinder vom Nachmittagsunterricht und die Männer von der Arbeit kämen. Zurück blieb bei mir ein Chaos in der Küche, Nebel im ganzen Haus von den vielen Zigaretten und eine etwas blasse, pummelige, rothaarige Cousine. Heute war ich erstmals froh, dass mein Mann drei Tage verreist war und die Kinder in ihrer Studentenbude wohnten. Ich riss die Fenster auf und die frische Luft sorgte dafür, dass mein Kopf wieder klar wurde. Schnell war das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine verstaut und mit dem Staubsauger die letzte Spur von unserer Orgie getilgt. Währenddessen saß mein Gast schweigend auf dem Küchenstuhl. »Keine Bange meine Liebe, so geht es nicht immer bei mir zu«, eröffnete ich unser Gespräch. »So ab und zu treffen wir uns alle und machen die Nacht zum Tag. Das Ende wird dann immer in einer sturmfreien Bude begangen und heute war es halt bei mir. Die Kinder sind unter der Woche an der Uni und mein Mann ist verreist, aber jetzt erst mal zu dir. Sei mir nicht böse,« begann ich vorsichtig, »wessen Tante Tochter bist du eigentlich und wann haben wir uns denn das letzte Mal gesehen und welcher Grund verschafft mir diesen plötzlichen, unangemeldeten Besuch?« Ich hätte so noch weiterfragen können, doch das Klingeln des Telefons unterbrach mich. Nachdem ich aufgelegt hatte, begann sie stockend zu erzählen. »Meine Mutter ist deine Tante Irma, die Schwester deines Vaters und ich, ich bin der kleine Nachkömmling, den ihr Großen immer mitnehmen musstet, und der euch bei allen Unternehmungen gestört hat. Kugelköpfchen hast du mich immer genannt und wenn ich mir die Knie aufgeschlagen hatte, dann warst du die einzige, die mich in die Arme nahm und getröstet hat. Das alles ist nun schon mehr als dreißig Jahre her. Nach der Schule ging ich mit einem Freund nach England und von da an hatte ich jeden Kontakt zur Familie verloren. Niemand fragte nach mir und ich war meistens mit mir und meinem Studium beschäftigt.«

Mir fiel es jetzt wie Schuppen von den Augen. Im Geiste sah ich uns alle wieder auf die Bäume klettern, im Bach Kaulquappen herausfischen, Schellenmännchen spielen und immer den Zwerg im Schlepptau. Kugelköpfchen, das mich immer mit den braunen Kulleraugen erwartungsvoll ansah, wenn wir Großen wieder einen Streich ausheckten, und deren kleines Händchen mich fest umklammerte, wenn es schon dunkelte und sie Angst vor der Nachteule bekam, die angeblich die kleinen Kinder holte; so unsere Großmutter. Lange schwelgten wir so in den Erinnerungen unserer Kindheit. Draußen gingen schon die Straßenlaternen an und wir saßen noch immer im schummerigen Licht der Abenddämmerung. »Es ist schon spät geworden«, meinte Christine. Ich machte das Licht an und zog die Vorhänge zu. Sie stand auf und raffte, etwas plötzlich, ihre Sachen zusammen. »Ich muss nun los, sonst verpass ich meinen Flieger«. Schon auf dem Weg zur Tür fragte ich sie »wann kommst du denn wieder?« »Mal sehen«, antwortete sie, während sie mich kurz drückte, in ihr kleines Auto stieg und davonbrauste. Etwas verdattert blieb ich noch eine Weile an der Haustür stehen, obwohl sie schon lange meinen Blicken entschwunden war. Alles kam mir wie ein Traum vor. Nachdenklich ging ich zurück ins Haus. Auf dem Küchentisch fand ich einen Brief. Sie musste ihn geschrieben haben, als ich das Chaos aufräumte, das meine Freundinnen hinterlassen hatten...

Liebe Monika, ich danke dir, dass du für mich Zeit hattest, alle anderen Verwandten konnten keine Stunde für mich erübrigen, das ist auch der Grund, warum ich mich nicht vorher angemeldet habe. Nach so vielen Jahren wollte ich dich gerne noch einmal wiedersehen, am Montag muss ich ins Krankenhaus, die Ärzte haben Leberkrebs diagnostiziert und geben mir noch drei Monate. Ich versuche jetzt alles nachzuholen, was mir wichtig war und ist. Ich wünsche dir alles Liebe und viele Grüße auch an deine Familie. Christine Die letzten Worte konnte ich kaum noch lesen, weil Tränen meinen Blick verschleierten. Am liebsten hätte ich laut geschrieen: Bleib doch hier, lass uns reden. Aber statt dessen nahm ich mein Glas Rotwein und verkroch mich in meinem Lieblingssessel. Wie lange ich so vor mich hingebrütet hatte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann ging ich ins Bett und weinte mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen stand es für mich fest: Familie ist wichtig, egal welche Kotzbrocken dazwischen sind. Man muss sich ja nicht das Haus einrennen, aber einmal im Jahr sollte es doch möglich sein, dass sich der ganze Clan trifft. Lange telefonierte ich in der Weltgeschichte herum, Wochen vergingen, bis unser erstes Familientreffen stattfand. Der Anlass war alles andere als fröhlich. Meine Tante konnte es erst gar nicht fassen. Die ganze Verwandtschaft war zu Christines Beerdigung erschienen und heute, fünf Jahre später, steht der Christinentag wieder an. Meine Mädchen sind schon gespannt, welche Neuigkeiten es zu erfahren gibt; mein Mann freut sich auf die Skatrunde, die sich alle Jahre wieder findet und ich, ich denke an Kugelköpfchen.