Die Zähne meiner Mutter

Eine Hommage an das ganz alte Daun

Ingrid Schumacher, München

Meine Mutter war Daunerin. Nicht einfach so, der Geburtsurkunde oder dem Taufschein nach. Nein, sie war es bekennend und praktizierend während und bis zum Ende ihres Lebens. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass nur in Daun und zwar »damals«, das heißt »als mer oose Kaiser noch hatten« eine gottgewollte Ordnung herrschte. Wie alle, die ihren Glauben nicht antasten lassen, schon gar nicht von solchen, die keine Ahnung davon haben, was gut und richtig ist, versuchte auch sie, die einzig wahren Werte an die folgende Generation weiterzugeben. Dies war keine leichte Aufgabe, da ja die Jugend, selbst wenn diese bereits die Fünfzig überschritten hat, stets unbelehrbar ist. Grundlage ihrer Handlungen war vor allem die soziale Schichtung im damaligen Daun. Es gab Leute, »die waren doch noch Leut'« und solche, die im eigentlichen Sinne keine Leute waren; eine Sache der Abstammung, nicht des Berufes, des Vermögens oder der Ausbildung. So etwas hatten die, die den »alten Familien« angehörten nicht nötig, und den anderen half es sowieso nichts. Der Stammbaum eines jeden war bekannt und wurde bei Erwähnung seines Namens stets mitgeliefert, so dass man sogleich wusste, mit wem man es zu tun hatte. Das ist auch heute noch üblich. Dann, wenn sich die Namen der Vorfahren im Dunkel der Geschichte verloren, folgte bei denen, die »Leute« waren, die stets auf hochdeutsch geflüsterte Andeutung: »Es heißt, sie hätten noch was mit der Burg zu tun.« Bei den anderen war es die Bestätigung dafür, dass »kein Mensch wusste, wo sie eigentlich herkamen«.

Wagte man es, an der Rechtmäßigkeit dieser Weltordnung zu zweifeln, wurde man sofort verdächtigt, »Kommunist« oder »Städter« zu sein, also unfähig, überhaupt irgendetwas zu begreifen. Eine ganz besondere Stellung hatten damals die Ärzte inne, von denen es meines Wissens nur zwei oder drei gab. Da war »der ahle Doktor Schramm« und die Frau Doktor Schramm, »dat Bo(h)lens Luisjen«. (Die Bo(h)lens hatten tatsächlich mit der Burg zu tun. 1749 ist Johannes Albert Bolen als Amts- und Hochgerichtsschreiber, später als Amtsverwalter auf der Burg bestätigt und die Familie lässt sich noch weiter zurückverfolgen.) Ja, das waren noch Leute! Der alte Doktor Schramm fuhr bei Wind und Wetter, sogar bei Schnee, mit seinem »Chaischen« über die Dörfer, half die Bauernkinder zur Welt zu bringen und versorgte die Wöchnerinnen - umsonst, wenn sie kein Geld hatten. Und die Frau Doktor Schramm, dat Bohlens Luisjen, soll mitgefahren sein und den Frauen die Suppe gebracht haben. Natürlich behandelte er auch die »Leute« in Daun, ob sie nun welche waren oder nicht. Im Gegensatz zu allen anderen Ärzten konnte er wirklich 'was! Den anderen, zumal den Städtern, denen sich meine Mutter später ausgeliefert sah, war ja überhaupt nichts zuzutrauen.

Und so nahm meine Mutter, als es ihn, den alten Doktor Schramm, nicht mehr gab, ihre medizinische Versorgung selbst in die Hand: Sie besann sich auf seine Hausmittel, aß und trank in jedem Fall, was er bei einer bestimmten Krankheit geraten hatte -und wurde ohne ernstere Zwischenfälle fast 90 Jahre alt. Ja, der Doktor Schramm muss wirklich ein guter Arzt gewesen sein! Obwohl er keine Zähne zog, verweigerte meine Mutter auch diese ärztliche Dienstleistung, und das wurde im Laufe der Jahre zum Problem - nicht für sie, aber für das Umfeld. Ja, die Zähne meiner Mutter waren über Jahrzehnte der Anlass, immer wieder auf das hingewiesen zu werden, was »damals« nicht nur üblich, sondern auch angebracht war. Man fuhr von Daun nach Mayen zum Zahnarzt. Ihre Schwester war ein einziges Mal dort gewesen. Was die erzählt hatte, muss über die Maßen schrecklich gewesen sein. Trotzdem hatte meine Mutter wohl irgendwann eine Behandlung über sich ergehen lassen. Zwei Zähne waren mit Gold überkront und hielten eine Brücke. Bald fasste Mutter einen folgenreichen und unwiderruflichen Entschluss; sie würde ihren Mund selbst entkernen! Das war ein langer Vorgang. Erst wenn die Zähne wackelten, konnte sie tätig werden. Dann schloss sie die Augen, hielt die linke Hand vor den Mund als ob sie gähnen oder husten müsse und fuhr mit der rechten in den »Innenraum«. Ein kurzer Ruck und triumphierend ließ sie ihre Ausbeute sehen: »Ech honn wer' eenen!«

Als erstes musste das Gold dran glauben. Das legte sie noch in ein mit Watte ausgekleidetes Kästchen. Mit den anderen ging sie weniger zimperlich um. Weder Heiligkeit noch Belebtheit eines Ortes konnten sie davon abhalten, das zu tun, wozu die Zeit gekommen war. So standen wir nach Ostergottesdienst und päpstlichem Segen Urbi et Orbi in Rom auf der Engelsbrücke, als sie »wieder einen hatte«. Er versank in den Fluten des Tiber. Auch andere Gewässer und Plätze sind so zu Gedenkstätten geworden für die Zähne meiner Mutter - Dauner Zähne! Aber mehr als 32 gab es auch in ihrem Mund nicht. Eines Tages war er leer, leer bis auf die Wurzeln und es stellte sich die Frage, wie es nun weitergehen sollte. Irgendwann - ganz vorsichtig - brachte ich einmal die Rede auf eine Prothese und erwähnte so nebenbei, dass ich einen sehr guten Zahnarzt hätte.

Aber das war nicht das Problem. »Was? Falsch Zänn!« Meine Mutter verstand die Welt nicht mehr. Sie nannte die Namen einer Reihe von Leuten, wirklichen Leuten, die es sich leisten konnten, die etwas auf sich hielten und keiner sei »damals« auf die Idee gekommen, sich falsche Zähne machen zu lassen. Ein Tourist, der im Hotel Hommes logierte, hatte ein Gebiss gehabt. Es war in den Tiefen eines Plumsklos versunken. Nein, so etwas musste nicht sein! Außerdem sei es gewöhnlich, ausgesprochen ordinär für eine Frau, den Mund so weit aufzumachen, dass man die Zähne sah. Ebenso wie man in »Gesellschaft« die Beine nicht übereinanderschlug oder den Rock über die Knie rutschen ließ. Als ich handelte, geschah dies unter Gruppenzwang. Niemand verstand, dass ich es nicht schaffte und schließlich hatte ich auch einen Ruf zu verlieren.

Alles war mit meinem Zahnarzt abgesprochen. Ich ließ einen völlig gesunden Zahn bearbeiten und meine Mutter durfte zusehen. Nach einigem Zureden setzte sie sich auf den Behandlungsstuhl und ließ sich in den Mund schauen. Der Zahnarzt machte gutes Theater und wie auch immer - die Sache nahm ihren Lauf. Während der gesamten Behandlung verließ meine Mutter das Bett nur, um mit dem Taxi zum Zahnarzt zu fahren. Als wir das Gebiss abholten, zahlte meine Mutter bar, in großen Scheinen. Der Zahnarzt zuckte nicht einmal zusammen. Später erklärte sie mir, dass »man« das so mache. Wer war denn früher in einer Krankenkasse? Zu den Leuten gehörten sie nun wirklich nicht! »Leute wie wir zahlten ihr Rechnungen selbst - bar.« Dann wurden die Zähne zum Albtraum.

Meine Mutter trug sie wie die anderen Asseccoires, Hut, Handschuhe, »Ridicule« (ein Abendtäschchen) also zum Kirchgang, ins Theater oder bei ähnlichen Veranstaltungen. In der übrigen Zeit lagen sie irgendwo und wurden ständig gesucht; im Kühlschrank, in der Besteckschublade und vor allem natürlich in der Toilettenschüssel. Dann hätten sie - natürlich in Daun - beinahe ein unrühmliches Ende gefunden. Wir aßen in einer Gaststätte in Oberdaun zu Mittag und Mutter zermalmte aufgrund der langjährigen Übung ohne Schwierigkeiten mit bloßen Kiefern ihr Schnitzel. Anschließend waren wir verabredet und dazu brauchte sie die Zähne.

Erst vor der Türe fiel ihr das ein. »Wo sein mein Zänn!« Sie

 

waren nicht da, in keiner Tasche hatten sie sich versteckt - fort also. »All dat Jeld!« Nur eine winzige Hoffnung blieb uns. Wir gingen zurück an unseren Tisch. Er war abgeräumt. Die Reste hatten

»de Schwein kriecht«. Abends, als meine Mutter sich auszog, fiel etwas zu Boden. »Hei sein se jo!« Sauber in ein Taschentuch gewickelt fielen sie aus dem Ärmel ihrer Bluse. Irgendwann verschwan-

den sie dann für immer; Mutter ertrug den Verlust mit erstaunlicher Leichtigkeit. Mit oder ohne Zähne - sie würde in Daun immer zu den Leuten gehören, die Leute waren. Und das tat sie auch.