Das Heimweh blieb

Emigrantenschicksal des Leo Baum

Erwin Schöning, Gerolstein

In einem Vorwort zu Christoph Stehrs Arbeit »Die jüdische Bevölkerung in Gerolstein bis 1945« schreibt Sebaldo Levy, ein in Gerolstein geborener ehemaliger jüdischer Mitbürger, der 1936 nach Paraguay auswanderte: »Im Jahre 1965, fast drei Jahrzehnte nach meiner Auswanderung, entschloss ich mich zu einer Reise in die alte Heimat. Mein erster Gang führte mich zum alten jüdischen Friedhof, den ich in tadellosem Zustand vorfand. Am Grabmal meiner Großeltern konnte ich beten und

Leo Baum hoch zu ross als Landarbeiter auf der Colonia Independencia.

meinem Herzen Luft machen. Die Aufnahme bei alten Freunden, die Aussprache mit vielen guten Bekannten und Angehörigen der jüngeren Generation, die Herzlichkeit und Teilnahme am Geschick meiner Angehörigen und der übrigen jüdischen Mitbürger, die Berichte über Hilfeleistungen, bewegten mich aufs äußerste. Mit großem Vorbehalt und Hemmungen war ich gekommen. Mit dem Wunsche auf ein weiteres Emporblühen meiner Heimatstadt und Wohlergehen seiner Bürgerschaft kehrte ich als alter >Gerolsteiner< zurück nach Südamerika.« Bereits vor 1933 wohnten in Gerolstein 52 Mitbürger jüdischen Glaubens. Die jüdischen Bürger hatten ihren festen Platz in der Gerolsteiner Gesellschaft. In jedem Verein waren sie vertreten, in der Feuerwehr und im Kriegerverein, im Verein für Handel und Gewerbe, im Verschönerungsverein und im Kegelclub. So war zum Beispiel Julius Levy, der im SV 1919 Gerolstein Fußball spielte, über Jahre schnellster Sprinter im Kreis Daun. Fritz Mansbach regierte 1929 als GeroIsteiner Karnevalsprinz. Ein Zeichen dafür, dass Juden, Katholiken und Protestanten in Gerolstein harmonisierten, ist, dass alle drei Konfessionen dem Pastor Hubert Rader für seine religiöse Mittlerrolle dankten, indem sie ihm zu seinem silbernen Priesterjubiläum 1928 gemeinsam ein Esszimmer einrichteten. Dokumentiert ist aber auch, dass nach der Machtübernahme SS- und SA-Angehörige in Gerolstein erheblichen Druck auf die jüdischen Mitmenschen ausübten. Und während sich die Mehrheit der Gerolsteiner Bevölkerung passiv verhielt, gab es auch Bürger - das ist belegt -, die im Geheimen halfen und einigen jüdischen Mitbürgern Lebensmittelkarten schenkten. Staatsminister Dr. Alois Mertes schreibt im Vorwort zu Christoph Stehrs Arbeit »Gerolstein und seine jüdischen Mitbürger bis 1945«: »Als auf dem Totenzettel von Pfarrer Hubert Rader 1935 stand: >Er ging umher, Betrübte tröstend, Verfolgte schützend<, wusste jeder, dass er sich bewusst vor das Volk des Alten Bundes stellte, von dem er in seinen Bibelstunden mit Ehrfurcht sprach.« Von den Gerolsteiner Juden, die die Verfolgung überlebt haben, kehrten einige auf Besuch nach Gerolstein zurück. So auch Leo Baum, der als 21-jähriger im Dezember 1936 seine Heimat verließ, um sich vor dem für die Juden in Deutschland abzeichneten Unheil in Sicherheit zu bringen. Die Ausreise erfolgte damals legal, wenngleich auch unter schikanösen Begleitumständen. Zunächst begab sich Leo Baum nach Brüssel, um von dort in Antwerpen mit noch weiteren 355 Passagieren via Lissabon, Le Havre zum marokkanischen Hafen Casablanca zu gelangen. Von hier aus erreichte er nach 15 Tagen Überfahrt den brasilianischen Hafen Rio de Janeiro, von wo die Reise dann weiter entlang der brasilianischen Küste nach Santos ging und vorerst in Montevideo/Uruguay endete. Per Flussdampfer begann dann eine abenteuerliche Reise nach Paraguay, dem eigentlichen Ziel. Dort angekommen folgten weitere beschwerliche elf Tage, bis er in Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay, endlich seinen dort seit einem Jahr zuvor angekommenen Onkel Berni Baum begrüßen konnte; ebenfalls ein Gerolsteiner. Zuerst wohnte er bei Sebald Levi, dessen Vater der Eigentümer des früheren »Kölner Kaufhauses« in der Bahnhofstraße in Gerolstein war. Als dann endlich die Genehmigung für einen Daueraufenthalt als Landwirt kam, ging er zur »Colonia Independencia«, eine von deutschen Kolonisten bewohnte Urwaldkolonie. Die nächsten fünf Jahre verbringt Leo Baum bei seinem Onkel Berni und betätigt sich als Wald- und Landarbeiter. Die ungewohnte Arbeit im ungewohnten Klima macht ihm sehr zu schaffen. 1938 gelingt es ihm, seine Eltern nach Paraguay nachzuholen. Ein weiterer Versuch, auch der Familie seines Bruders die Überfahrt zu ermöglichen, scheiterte; sie fiel dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer. Den Eltern von Leo Baum ist nur ein kurzer Aufenthalt in Paraguay beschieden. Der Vater stirbt im Februar 1941, die Mutter im Dezember 1942. Nach den Jahren der Akklimatisierung ist Leo Baum als Eishersteller in Villaricca tätig, wechselt später aber in ein Delikatessengeschäft in Asuncion über, um sich mit Zwischenpausen als Bäcker zu betätigen. Als er 1945 heiratet, führt er bis 1959 das Geschäft seines Schwiegervaters. Dann verkauft er, um selbständiger Taxifahrer zu werden. Die Familie hatte sich inzwischen um vier Töchter auf sechs Personen vergrößert; sie bleibt bis zum Tode der Mutter im Jahre 1979 zusammen. Das Taxigeschäft betreibt Leo Baum mit einem VW-Transporter, den er sich zu einem Kleinbus umgebaut hat. Ein 18-Stunden-Tag bei einer täglichen Fahrstrecke von 260 Kilometern im zum Teil unwegsamen Gelände gestalteten das Unternehmen zu einem harten Job. Schwierigkeiten gab es immer wieder bei der Beschaffung von Ersatzteilen. Als schließlich unerwartet Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland eintrafen, konnte die Familie sich ein bescheidenes Eigenheim bauen. Leo Baum erinnert sich an die Zeit, in der das Heimweh kam. Übermächtig wurde dieses Gefühl, als er anlässlich einer Fernsehübertragung deutscher Fußballspiele nach Übersee die Bandenwerbung des »Gerolsteiner Sprudel« in einem Fußballstadion sah. Hocherfreut erzählt er es seinem Onkel Sebald Levy. Dieselbe Werbung sieht er wenig später auch in verschiedenen Zeitschriften, die in der deutschen Botschaft in Paraguay ausliegen. Nun steht für ihn fest, er muss die alte Heimat wiedersehen. Inzwischen stand er mit Elisabeth Faber aus Gerolstein in brieflichem Kontakt. 1988 wurde Leo Baum von Elisabeth Faber und seinem Geburtsjahrgang 1915 eingeladen. Die Stadt- und Verbandsgemeinde ehrte ihren früheren Bürger durch einen Empfang im Gerolsteiner Rathaus. Der zweite Besuch fand im August 1991 statt. Auch dieses Mal wohnte Leo Baum wieder bei Elisabeth Faber in der Lindenstraße, die damals die Judenverfolgung in Gerolstein bewusst miterlebt hat und dieses Drama so machtlos mit ansehen musste. Damals habe sie sich gesagt, sollte von diesen Leuten jemand überleben, dann werde sie diese nach Gerolstein einladen.