Natur und Landschaft

Haus BIELEN

Gretel Körner/te Reh, Ahlen

Gewarnt hatte man mich verschiedentlich: »Geh' da nicht hin!« - »Du wirst enttäuscht sein!« - »Du kennst es nicht wieder!« - »Behalte es so in Erinnerung, wie Du es zum letzten Mal gesehen hast!« Und dann war es noch viel schlimmer, als alle Befürchtungen es erwarten ließen. Da stand es, mein Geburtshaus in Salm, das ich drei Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte: bröckelnder Fassadenputz, schiefe, aus den Angeln hängende Fensterläden, die wohl nie mehr seit damals einen Topf Farbe gesehen hatten. Wo war der bunte Blumenschmuck, wo das kleine Paradiesgärtchen, in dem das feuerrote Tränende Herz geblüht hatte? Das Fensterchen zum »Haaren Pasch« mit seiner tiefen Mauernische, das je nach Jahreszeit mit Blumen, dem Maialtärchen oder der Weihnachtskrippe geschmückt war, hatte man zugemauert. Im Hof vor den Stallungen türmten sich Schutt- und Steinberge, Kisten und Kartons stapelten sich neben allerlei Gerätschaften. Alles war grau und trist und unsäglich trostlos. Das einzig Lebendige waren die Karnickel in ihren Käfigen, sechs oder acht, vielleicht auch mehr. Und auf der verfallenen Türschwelle entdeckte ich einen Halbwüchsigen, der vor sich hin bastelte. Immerhin war das ein Hoffnungsschimmer, das Leben geht weiter, anders als ich es dort kennen gelernt hatte. Hier also war ich vor 56 Jahren geboren worden, hier lebte meine Mutter fast 20 Jahre lang, ebenso meine Großmutter ein Vierteljahrhundert. Im Jahre 1859, 85 Jahre vor mir, wurde hier mein Urahn Matthias Meiers geboren, und auch meine Ururgroßeltern Johann und Margarethe Meiers, geb. Goergen, wohnten bereits im Haus BIELEN. Dieses alte Haus hat viele Generationen kommen und gehen gesehen, es spiegelt viel menschliches Leben wider. Seine Fassade ähnelt einem Gesicht, das seine Spuren zeigt; in jungen Jahren war es glatt und strahlend, dann gereifter und pflegebedürftiger, schließlich benötigte es eine aufwendigere Behandlung und Verjüngungskuren, auch von innen heraus. An eine derartige Neuerung kann ich mich noch gut erinnern. Meine Großmutter hatte in dieses Haus das erste »richtige Badezimmer« einbauen lassen.

Das war im Jahre 1950 eine solche Sensation, dass viele Dorfbewohner diese Errungenschaft bestaunen kamen. Hier floss warmes Badewasser, beheizt durch einen großen Kessel direkt in eine festinstallierte Badewanne. Man musste nicht mehr die schwere Zinkbütt aus dem Pferdestall heranschleppen, um hinter der Haustüre alle zwei Wochen ein Bad zu nehmen. Und war diese Zeremonie beendet, - das warme Wasser wurde natürlich noch zum Waschen von Socken verwendet und auch zum Putzen - schüttete man das restliche Wasser in den Hof, ein kurzer Weg vom Platz hinter der Haustüre, denn die Butt war unendlich schwer und konnte auch nur von zwei Personen getragen werden. Im Winter gefror das Wasser naturgemäß, und ich hatte meine eigene Rutschbahn. Ein Haus ist wesentlich mehr als Wände aus Stein, Beton oder Holz mit einem Dach darüber. Schließlich birgt es eine Fülle von Erinnerungen an schöne wie auch an schwere Ereignisse. Bewohner prägen ein Haus durch ihre Lebensgewohnheiten und - bedürfnisse, verleihen ihm eine Seele.

 

Als meine Familie Haus BIELEN räumte, es Anfang der sechziger Jahre an den Staat verkaufte, da flog die Seele aus, der Geist meiner Urahnen entschwand. Ich meine, ein altes Haus verdient Ehrfurcht; seine Mauern beherbergen die Lebensgeheimnisse jedes vorangegangenen Bewohners. Ein Haus hat auch seinen ureigenen Geruch. Als ich meine ersten Kinderjahre dort verlebte, kannte ich genau diesen Duft von Blumen, das feine Kaffee-Aroma, den Geruch von Bratkartoffeln mit Speck, den Hauch von frischem Fichtennadelaustrieb am Badetag. Heute riecht dieses Haus für mich fremd. Haus BIELEN ist für immer in andere Hände gegeben und hat sich seinen neuen Bewohnern angepasst; für mich fast ein Beweis für Untreue.