Das Gerolsteiner Filigranwichtlein

Wilma Herzog, Gerolstein

In unseren Eifelwäldern, aber nur dort, wo keine kerzengrade Nadelbäume sich aneinander reihen, sondern da, wo noch die, wie von Riesenhand herumgeworfenen moosbewachsenen Felsbrocken seit Urzeiten liegen, wildzerklüftet mit oft riesigen Spalten, wo sich gar plötzlich Höhlen zeigen, in weichen Moospolstern, verdeckt von Farnwedeln und den Blattrosetten des farbenprächtigen Fingerhutes, wie beschwörend, auf einmal ein silbriges Quellchen unterm Fuße gluckert, ein Salamander über eine bizarre Baumwurzel ins Sauerklee huscht, ein Waldvogel zur Melodie anhebt und plötzlich verstummt, weil der Wind durchs Geäst eines hohen Baumveteranen geht, dass es knarrt und knirscht:

Da kommt sie wieder auf, die rechte Stimmung, die geheimnisvolle, in die sich der Waldgast versetzen kann, wo er empfänglich wird für die Vorstellung von Waldfeen, Elfen, Wichtein und Kräutermännchen.

Früher kannten die Menschen den Wald noch besser als wir, weil sie sich öfter darin aufhielten, sei es zum Holzschlagen, zur Beeren- und Pilzsuche, zum Viehhüten oder Reisig- und Tannenzapfensammeln. Der Wald mit seinen unterschiedlichen Stimmungen, Farben und Lauten im Tages- und Jahreswechsel galt als idealer Schauplatz unterschiedlichter Mythen, Sagen und Märchen. Sie entstanden, wurden variiert und weitergegeben. An kalten Winterabenden geschah das, wenn Menschen zusammenkamen am glühenden Schmiedefeuer, in der Schusterwerkstatt oder in einer heimeligen Spinnstube. Eine dieser Waldgeschichten war die vom Gerolsteiner Filigranwichtlein. In einem recht bescheidenen Häuschen im Kylltal lebte ein Tagelöhner mit seiner Tochter; darbte, hätte es besser heißen sollen. Denn obwohl er rechtschaffen und fleißig war, fand der Mann, der bei einem Unfall im Steinbruch einen Arm verloren hatte, selten geeignete Arbeit. Trotz aller Armut war Mathilde zu einem wunderschönen Mädchen erblüht. Als sie eines Tages das letzte Brot auf den Tisch legte, sagte ihr Vater betrübt: »Weil ich keine Arbeit finde, haben wir kein Brot, hast Du keine Aussteuer und wärst doch jetzt im rechten Alter, an einen Bräutigam zu denken«.

Mathilde dachte aber im Geheimen schon lange an einen ganz bestimmten jungen Mann. Doch sie wusste nur zu gut, weil sie arm war, blieben solche Gedanken unnütz und sie versuchte sie zu verscheuchen. Um ihren Vater zu trösten lächelte sie und sagte, er soll sich nicht weiter grämen. Jetzt seien gewiss die Waldbeeren reif, sie würde in den Wald gehen und einen Korb voll pflücken, den zum Markt bringen und verkaufen; dann ginge es wieder ein Stück weiter.

Mathilde schnitt sich eine Scheibe Brot ab, legte sie in den Korb und ging in den Wald, zur tiefsten Stelle, wo die vielen Quellen sprudelten, dort, wo sie mit ihrer verstorbenen Mutter immer die schönsten Waldfrüchte gefunden hatte. Sie fand Beeren im Überfluss, pflückte und vergaß dabei die Zeit. Fast war ihr Korb gefüllt, da verspürte sie Hunger. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf, um ihr Brot zu essen, als ein Eichhörnchen vorbeihuschte und hinter dem nächsten Baum verschwand. Mathilde schenkte dem weiter keine Beachtung. Sie brach sich ein weiteres Stückchen Brot ab und aß es, hatte jedoch plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und als sie aufmerksam zum Baum sah, lugte dahinter kein Eichhörnchen, sondern ein Wichtlein hervor, das sie scheu beobachtete. »Wenn du ein Stückchen Brotmitessen willst, dann musst du schon herkommen«, sagte Mathilde zum fußhohen Waldbewohner, der sich daraufhin zögerlich näherte und das angebotene Stück Brot in Empfang nahm und flugs damit verschwand. Mathilde kam am nächsten Tag zur gleichen Stelle und pflückte wieder einen Korb voll Beeren. Aber das Wichtlein ließ sich nicht sehen. Da brach sie von ihrem Brot ein Stückchen ab, legte es auf ein Buchenblatt als Teller und ließ es auf dem Baumstumpf zurück. Neugierig kam sie zu dieser Stelle am darauffolgenden Tag, um nachzuschauen, ob das Wichtlein das Brot genommen habe. Es war fort. An seiner Stelle lag ein glitzernder Haarreif aus goldenen Filigranfäden gewoben. Voller Staunen besah Mathilde dieses Kunstwerk von allen Seiten, ohne es zu berühren. Sie hörte eine feine Stimme: »Das ist dein, weil du mit mir dein kostbares letztes Brot geteilt hast. Komme morgen wieder, dann zeige ich dir, wie man Gold flechtet.«

Mathilde wurde vom Waldgeschöpf, das sie »Filigranwichtlein« nannte, in die Goldflechtkunst nicht nur eingewiesen, das Wichtlein schenkte ihr eine ganze Spule dieser Goldfäden. Damit stellte sie Armreife, Halsketten und Ringe her. Sie verkaufte nun anstatt der Waldbeeren wunderschöne Geschmeide auf dem Markt. Nicht nur Brot hatten jetzt Mathilde und ihr Vater reichlich, sie zogen bald in ein schönes, geräumiges Haus. Das war auch notwendig geworden, denn sie zogen nicht allein ein. Mathilde hatte den jungen Förster geheiratet, den sie insgeheim schon lange liebte. Und dort lebten die drei glücklich bis an ihr seliges Ende. Früher kannten Gerolsteiner Kinder zu dieser Geschichte noch den Reim. »Das Mägdlein folgt, denn es war schlau,

behielt des Wichtleins Kunst genau

und ward des schönsten Burschen Frau.

Es wies viel anderen im Land die gleiche Kunst von Zwerges Hand,

noch heut'floriert derartiger Tand.«