Vermächtnisse

Gisela Bender, Deudesfeld

Es gab schon immer Ereignisse, deren Bedeutung erst viele Jahre später in vollem Umfang erkannt wurden. Dies gilt für Ereignisse die allgemein die Menschen betreffen genauso, wie den privaten, familiären Bereich. An zwei Beispielen möchte ich aufzeigen, dass Ereignisse oft noch auf nachfolgende Generationen Einfluss haben. Auf den ersten Blick mag man denken, das eine habe hier mit dem anderen nichts zu tun. Weit gefehlt, beides sind Vermächtnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten von nachfolgenden Menschen weiterentwickelt wurden. Der britische Bakteriologe Sir Alexander Flemming entdeckt im Jahre 1928 das Penizillin. Damit beginnt die Ära der Antibiotika und die bekämpft eine Reihe von Infektionen und Krankheiten, die zuvor in der Regel tödlich verliefen.

Am 23. April des gleichen Jahres erscheinen im Notariat des Dr. Hermann von Roesgen in Daun Josef Bender, Ackerer und dessen Ehefrau Elisabeth geborene Kreuder, sowie deren Kinder Nikolaus, Schreiner; Rosina, Ehefrau des Kaufmanns Bernhard Bill; Peter, Ackerer und Mathias; Ackerer.

Josef Bender, im Dorf besser bekannt als »Frouhnen Jousep« ist 64 Jahre alt und seine Frau Lies 57 Jahre, als er zu Gunsten seiner Kinder auf Haus und Grund verzichtet. Den Eltern wird, so ist in der Urkunde Nr. 721 Jahrgang 1928 des Notariats zu lesen, ein lebenslänglicher Nießbrauch an den mit »Aushalt« bezeichneten Grundstücken eingeräumt. Desweiteren erhalten Jousep und seine Frau ein unentgeltliches und unübertragbares Mitbewohnungsrecht an zwei Zimmern seiner Wahl, und das in beiden Häuser, dem alten im »Frouhnenecken« Nr. 54 und auch in dem neuen, von ihm gebauten Haus Nr. 60. Im »Frouhnenhaus« Nr. 54 wohnen, nachdem die beiden ältesten Kinder verheiratet sind, noch die beiden Söhne Pitter und Mattes. Außerdem noch der Junggeselle Nikolaus (Kläs), ein Bruder von Jousep. Kläs ist der Bauer, Jousep hingegen hat im Haus das hintere Zimmer als Schreinerwerkstatt eingerichtet. Hier in der »Bud«,wie die Werkstatt genannt wird, fertigte Jousep auf Bestellung Gebrauchsmöbel wie Stühle, Tische, Schränke und Betten an. Mit dieser Tätigkeit hat Jousep einen stets tropfenden Nebenerwerbszweig erschlossen, ohne die Hofstelle weit verlassen zu müssen. Wenn er in der Landwirtschaft gebraucht wurde, war er verfügbar. Seine Familie war damit nicht nur von der Landwirtschaft abhängig, wie fast alle anderen im Dorf. Trotzdem soll Frouhnen Jousep, nach »Kierchen Hannes«, damals der größte bäuerliche Betrieb im Dorf gewesen sein.

Allgemein galt Jousep als ein gutgestellter Mann. Kein Wunder, dass die zukünftige Frau, die Sohn Pitter sich gesucht hatte, mit einergewissen Beklemmung 1931 ins »Frouhnenhaus« einzog. Sie kam aus dem Fünf-Mädelhaus von »Tubacks Wilhelm«, dem Schmied, deren wirtschaftlichen Verhältnisse nach ihrer Meinung wesentlich magerer waren. Tubacks Käthchen, wie sie im Dorf genannt wurde, fasste jedoch schnell Fuß im Frouhnenhaus. Sogar mit dem Junggesellen Kläs kam sie gut zurecht.

Von Anfang an entwickelte sie ein harmonisches Verhältnis zur Nachbarschaft, das von gegenseitigem Geben und Nehmen getragen wurde. Es ging dabei nicht nur um das Ausleihen einer Tasse Zucker oder Mehl; das werden die nachfolgenden Jahre beweisen.

Ein Problem gab es jedoch; man hatte nun zwei Frouhnen Käths. So wurde dann gesagt, die »ewisch Frouhnen« (die obere), daraus wurde mit der Zeit »Hewisch«, so wurden Pitter und Käth zu »Hewisch«. Frouhnen Käth konnte so Frouhnen Käth bleiben. Beide Frauen harmonierten genau wie die beiden Männer gut miteinander, das zeigte sich schon sehr bald. Ihrem Nachbarn gegenüber, »Fritzen Nikla«, starb, kaum dass er aus dem Krieg zurück war, seine Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern. In dieser Situation waren es nicht zuletzt die beiden Nachbarfrauen, die sich der zwei kleinen Mädchen annahmen. Entsprechend ihren Möglichkeiten versuchten sie, die ärgste Not zu lindern. Im Jahre 1931 stirbt Jousep, seine Frau folgte ihm!932. Der ledige Onkel kann seine gewohnte Arbeit auch nicht mehr machen. Ganz, als wäre es immer so gewesen, liegt die Verantwortung für Haus und Hof bei den jungen Leuten. Ihr Dasein ist geprägt von der bäuerlichen Lebenswelt. Im Vordergrund stehen Glaube und Kirche. Im Rhythmus der Jahreszeiten werden die Arbeiten verrichtet, die Felder bestellt, sie säen mit Hoffnung und ernten mit Dank. Jede Woche hat ihren festen Bestandteil, die Wäsche wird gewaschen, das Brot gebacken, die Butter gedreht; alles von Hand versteht sich. Einmal im Jahr wird geschlachtet, das Fleisch gepökelt und getrocknet oder in Gläsern eingekocht. Wohin sie auch schauen, alle anderen rings herum kämpfen genau wie sie mit den gleichen Unwegsamkeiten. Im ganzen Dorf geht das Leben seinen Gang, es wird gestorben und es werden Kinder geboren. Pitter und Käth haben 1934 ein kleines Mädchen bekommen, sie nennen es Theresia, Pitters Schwester Rosina wird Patin.

1937 dann kommt der Stammhalter, er wird nach dem Großvater väterlicherseits Josef genannt. Die schrecklichen Jahre des Krieges bringen auch den Hewischs viele Beschränkungen. Großes Glück ist ihnen jedoch beschieden, Pitter wird nicht als Soldat eingezogen. Städter, Frauen und Kinder werden in den dörflichen Familien während des Krieges untergebracht. Frau Oevermann aus Dortmund mit ihren beiden Kindern kommt ins »Hewisch« Haus. Das Wenige, was sie haben, wird mit den armen Städtern geteilt. Tubacks Fini (Schwester von Käth) kommt mit den Kurig-Kindern aus der Stadt ins Dorf zurück. Da nicht alle in Tubacks unterkommen können, kommen sie zu Hewisch. Renate Kurig blieb einige Jahre hier, ging in Deudesfeld zur Schule und kam auch hier zur heiligen Kommunion. Jahrzehnte später wird sie diese Zeit als schönste ihres Lebens bezeichnen.

Pitter verdiente fortan als Waldarbeiter ein sicherer Zubrot. Damit bekommt die Familie ihre soziale Absicherung. Bis dahin hatte keine Familie eine Krankenversicherung und sie entrichteten auch keine Rentenbeiträge. Es gab neues Geld, langsam gings bergauf, obwohl die Mängel der Kriegsjahre überall noch offene Wunden zeigten. Viele Frauen standen ohne ihre Männer da, mussten die Kinder alleine großziehen.

Den arm gewordenen Städtern folgten nun die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Auch hier halfen Hewisch, wo es angebracht erschien. Bis Mitte der 50er Jahre kamen die Kurigkinder jeden Sommer in den Ferien. Dann Lenchen aus Oberhausen mit Mann und Kindern, später mit den Enkeln. Alle Jahre wieder; fast gehören sie zum Dorf.

Die Winterhalbjahre 1954/55 und 1955/56 besuchte der Sohn die Landwirtschaftsschule in Daun; Vater und Mutter versorgten das Vieh. Eines Morgens kamen sie in den Stall und konnten es nicht fassen; alle drei Kühe lagen tot in ihren Ketten. Was war hier geschehen? Trotz aller Untersuchungen des Veterinäramtes blieb die Ursache ungeklärt. Lediglich eine Vergiftung soll es gewesen sein. Nun war guter Rat teuer, keine Versicherung, keine Seuchenkasse, die halfen. Den Hewischs blieb nichts weiter übrig, als wieder bei Null anzufangen, nach dem Motto: »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«. Nicht nur dass fortan keine Milch, keine Butter mehr im Hause waren, es fehlten auch die paar Mark Milchgeld von der Molkerei. Das Allerschlimmste jedoch war, es fehlte fortan das Gespann zum Fuhrwerken. Unverhofft tat sich da eine Möglichkeit auf. Josef übernahm die Fuhrarbeiten bei »Schmetten« und erledigte mit dem schweren Einspänner, mit Namen Flock, die eigenen Fuhrarbeiten gleich mit. 1956 kaufte Onkel Mattes dann ein Norweger Pferdegespann. Damit hatten Hewisch für Jahre ein spritziges Gespann. Im selben Jahr beschloss die Familie, den Stall umzubauen und die Scheune höher zu ziehen. Die entstandenen Kosten drückten und so musste der Sohn eine Arbeit annehmen. Bei einer Dauner Baustoffhandlung fuhr er Ware aus. Doch reizte ihn alsbald das viele Geld, das draußen auf den Baustellen verdient wurde. Einige Jahre wird er zum Pendler, fährt montags zur Arbeit und kommt freitags wieder heim, schläft und haust multikulturell mit Arbeitern aus halb Europa in einem Bauwagen; auf Dauer erschien ihm dies als ein Zigeunerleben. Zu Hause hatte sein Vater gesundheitliche Probleme und konnte die Versorgung des Viehs nicht mehr übernehmen.

Die Frage wurde gestellt, die Arbeit auf dem Bau aufzugeben und damit die Landwirtschaft weiterzuführen. Am 9. April 1965 übergaben Peter Bender und seine Frau Katharina, geborene Weber, im Notariat des Friedrich Ellerhorst in Daun ihrem Sohn Josef Haus und Grund. Beurkundet unter der Nr. 744 im Jahr 1965. Inzwischen hatte der Sohn eine eigene Familie, Frau und Tochter; sie wohnten bei den Schwiegereltern. Nach reiflicher Überlegung und in Absprache mit seiner Frau entschied er sich, in der Landwirtschaft zu bleiben. Viele Hindernisse galt es zu überwinden, bis man endlich alle Genehmigungen für eine Aussiedlung zusammen hatte. Im zeitigen Frühjahr (März) 1967 wurde der nachfolgende Bauer geboren, im Herbst in den neuen Hof eingezogen. Ohne Wenn und Aber gehen Pitter und Käth mit auf die Siedlung. Die alten Nachbarn im Dorf zurücklassen zu müssen, war für die alten Leute sehr schwer. Pitter ist nun genau drei Jahre älter als sein Vater damals war, als er sich aus dem aktiven Leben zurückzog. Seine Frau ist 64 Jahre, beide vertrauen auf Sohn und Schwiegertochter. Ein Risiko? Wer vermochte das damals zu hinterfragen. Heute wissen wir, es war eine mutige Entscheidung. Sie hat sich für alle Beteiligten ausgezahlt. Den größten Gewinn zogen die drei Enkelkinder. Ihnen war es vergönnt, von wunderbaren Großeltern umsorgt aufwachsen zu können.