Tränen der Eifel im Schwarzen Meer

Johann Baptist Hölzern, Heyroth

Oktober 1945; noch herrschte warmes, sonniges, fast sommerliches Wetter am Schwarzen Meer. Aber es gab nichts mehr, was uns Gefangene noch warm ums Herz werden ließ. Seit anderthalb Jahren hatte ich keine Nachricht mehr von zu Hause erhalten. Der Krieg war seit fünf Monaten zu Ende, und die Euphorie darüber, dass nun auch bald die Zeit hinter Stacheldraht vorbei sein würde, war längst verflogen. Kein Grund also, das Fluidum des goldenen Herbstes hier in Tuapse und an der Schwarzmeerküste zu genießen. Statt dessen marschierten wir mit immer weicher werdenden Knien zum Hafen, um die ankommenden Schiffe zu entladen. Diesmal war es kein Tabakschiff, dessen Bauch wir ausräumen mussten, diesmal war es ein Frachter, den man mit Kisten und allen möglichen Haushalts- und technischen Geräten aus Deutschland vollgepackt hatte. Und seltsamerweise bedeuteten mir all diese Gegenstände Grüße aus der Heimat, die die unbändige Sehnsucht nach einem baldigen Ende der Unfreiheit noch verstärkten. Beim Entladen des Frachters schlug eine Transportkiste so stark auf der Hafenrampe auf, dass die Kiste aufplatzte und samt Inhalt in das Hafenbecken fiel. Es waren gerahmte bilder darin enthalten, die jetzt durchnässt aus dem Wasser gefischt werden mussten. Ein etwa sechzig mal hundert Zentimeter großes Bild, welches aus der Vogelperspektive heraus gemalt war, erregte dabei meine Aufmerksamkeit besonders. Auf einem laubgrünen Hintergrund setzten sich drei tiefblaue, ovale Flächen ab, darunter der Schriftzug »Die Tränen der Eifel«. Das Ölgemälde zeigte - das erkannte ich sofort - drei Eifelmaare; das Gemündener Maar, das Schalkenmehrener Maar und das sagenumwobene Weinfelder Maar. Da schwammen sie nun, die Tränen der Eifel, im Wasser des Schwarzen Meeres. Gestikulierend hatte der rassische Naschallnik (Vorarbeiter) unsere Bergungsarbeit begleitet. Ein rassischer Offizier kam hinzu und ordnete an, ein Drahtseil längs der Lagerhalle zu spannen, an dem die bilder angelehnt in der Sonne trocknen könnten. Mir allerdings hatten »Die Tränen der Eifel« moralisch schwer zugesetzt. Und ohne etwas dagegen tun zu können, wurde ich in Gedanken - fast zu ein paar Tränen gerührt - in meine Eifelheimat zu meinen Eltern und Angehörigen zurückversetzt. Schließlich wusste man nicht einmal, ob ich überhaupt noch lebte. Und mich bedrückte auch die schmerzliche Ungewissheit, ob und wie sie die letzten Kriegsmonate überstanden hatten. Als wir am nächsten Morgen wieder zum Hafen kamen, war ein Teil von dem, was wir am Vortag aus dem Frachter herausgeschafft hatten, schon abtransportiert worden. Auch stand keines der bilder mehr da. Aber immer wieder erschien mir im Laufe des Tages vor meinem geistigen Auge das Gemälde von den Eifelmaaren und versetzte mich augenblicklich in eine melancholische Stimmung. Drei Wochen später hatte ich wiederum ein für mich unvergessliches Erlebnis. Nach der allmorgendlichen Arbeitseinteilung führte mich einer der Wachposten zu einer etwa einen Kilometer entfernten Offizierswohnung in einem typisch niedrigen Holzhaus, welches inmitten eines Gartengrandstückes stand. Zunächst begrüßte mich die Frau des Offiziers mit freundlichem Nicken und schickte den Wachposten wieder zurück zum Lager. Da ich bereits einige Brocken Russisch konnte, hatte ich auch wenig Mühe, die Arbeitsanweisung der freundlichen Frau zu verstehen und begann im Schuppen mit dem Brennholzhacken. Mittlerweile war es Mittag geworden. Ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen -wahrscheinlich die Tochter des Offizierspaares - kam zu mir in den Schuppen, sagte »Kuscheid, Kuschelt« (Essen, Essen) und führte mich ins Haus. In der Küche stand eine Schüssel Gemüsesuppe, eine Schale mit Graupen-Kasch (Püree), und daneben lag das übliche Brot zur Suppe. Ich hatte Mühe, meine Überraschung über die gute Bewirtung zu verbergen. Aber noch mehr erstaunt, ja fast bestürzt war ich, als ich von der Küche aus in das Wohnzimmer blickte und dort »Die Tränen der Eifel« an der Wand hängen sah. Ein unbeschreibliches Gefühl überwältigte mich und hielt mich den Nachmittag über, während ich den Garten umspatete, gefangen. Als es bereits nach 19 Uhr war und der Wachposten immer noch nicht erschien, um mich wieder in das Lager zurückzubringen, bedeutete die Offiziersfrau mir, alleine ins Lager zurückzugehen. Lächelnd reichte sie mir noch ein großes Stück Brot und einen Apfel.

So schlenderte ich dann mit einem wunderbar satten Gefühl im Magen die abschüssige Straße hinunter zum Lager. Ich konnte es fast nicht begreifen, dass ich es selbst war, der auf einmal ohne bewaffneten Posten frei über die Straße ging, an den Häusern entlang, an rassischen Frauen und Männern vorbei, die mich ein wenig neugierig anschauten, aber weitergehen ließen, obwohl sie mich als einen deutschen Kriegsgefangenen erkennen konnten, der sich ohne Bewachung frei in der Öffentlichkeit bewegen durfte. Ich ging absichtlich noch langsamer, um das herrliche Gefühl der augenblicklichen und kurzweiligen Freiheit hinauszuzögern und auszukosten. Als ich dann etwas später an dem verwundert dreinschauenden Posten am Stacheldrahtzaun vorbei in das Lager hineinging, wurde ich schlagartig aus meiner kurzen Freiheit in die trostlose Wirklichkeit zurückgeholt.

Aber die seltsame, zweimalige Konfrontation mit dem Ölbild, das aus meiner Heimat in Deutschland über das Schwarze Meer nach Tuapse transportiert worden war und jetzt das Wohnzimmer eines russischen Soldaten zierte, mobilisierte erneut meine Willenskraft und die Hoffnung, diese Gefangenschaft zu überleben und die Heimat wiederzusehen.