»Mater dolorosa« oder »De Meen mat der Dreps«

Gretel Körner, Ahlen

Kunst als Augenweide ist für manche ein Luxus, für andere ein Grundbedürfnis. Als Eifel-Kind hatte ich meine Begegnung mit Kunst im Alter von etwa 5 Jahren, das war 1949. Da waren zum einen die Heiligenbilder und die bunten Fenster in der Kirche, andererseits »Der röhrende Hirsch« über dem Kanapee der Großmutter in der »Stuff«. An einige Stillleben erinnere ich mich, aber ganz besonders an das Gemälde der »Büßenden Magdalena« im Schlafzimmer einer Schwerkranken in Salm. Weil Schlafzimmer-Einblicke im Dorf praktisch tabu waren, wirkte dieser eindrucksvolle »Schinken« doppelt auf mich. Wie reich mussten diese Dorfbewohner, wie gebildet mussten sie sein! Wie aufgeschlossen der Modernität! Etwas Nacktheit zeigte dieses Bild, das war ja unkeusch, das war etwas Verbotenes. Unter so einem Gemälde zu liegen, musste einfach Krankheit und Tod bringen. Der liebe Gott musste diese Frivolität bestrafen. Nichtsdestotrotz, die Todgeweihte erholte sich wieder dank ärztlicher Kunst, dank Zuspruch und aufopfernder Zuwendung der gesamten Familie. Vielleicht war dieses Gemälde doch nicht so unheilbringend!? Oder aber es wirkte ein »Gegenbild« in der Kirche, zu dem die Verwandten täglich pilgerten. Das war das Gnadenbild der Schmerzhaften Muttergottes, in deren Auge eine Träne schillert. In Salm nannte eine Frau dies: »De Meen mat der Dreps« (wörtlich: die Mohn mit der Träne, wobei das Wort Mohn eine Achtungsperson und Autorität, hier die Muttergottes, ausdrückte und nicht etwa eine alte Frau!).

Ich war jedenfalls sensibilisiert für die »Kunst«. Voller Bewunderung betrachtete ich immer wieder die Papier-Bildchen von der »Muttergottes in der Rosenlaube« von Stephan Lochner oder »Das Abendmahl« von Leonardo da Vinci; wunderschön fand ich Raffaels »Sixtinische Madonna« oder Martin Schongauers »Madonna im Rosenhag«. Etwas besonders Aufregendes war dann für mich, als sich Mitte der 50er Jahre ein »leibhaftiger Maler« in Salm niederließ. Nun lernte ich persönlich einen Künstler kennen, der mit den schönsten Farben eindrucksvolle bilder zauberte. Dieser Maler war Hermann Schnitzler, er kam aus Stolberg bei Aachen und hatte eine Salmerin geheiratet. Er wurde im Dorf als »flotter Monsieur« gehandelt. Für mich war ein Monsieur eine hochgeachtete Persönlichkeit, nichtsahnend, dass dieses Genie ein Frauenverehrer war. Er malte mit Freude und Begeisterung vorzugsweise Aquarelle von Feldblumen, wie roten Mohn, blaue Kornblumen, dekoriert mit zarten, grünen Gräsern. In Steinkrügen erblühte diese Farbenpracht besonders ansprechend. Ich kenne auch Ölbilder von ihm mit Sonnenblumen, Tier-Sujets und Landschaften, die aber teilweise auch schwermütige Eindrücke der Eifel wiedergeben. Wer aber hatte in Salm, und überhaupt in der Eifel, zu damaliger Zeit das Geld, um Gemälde zu kaufen? So war Schnitzlers Frau findig genug, die Kunstwerke, in Packpapier verpackt, im angrenzenden Umland, bis Luxemburg und Belgien, zu verkaufen. Sie bevorzugte das kostenlose Reisen per Anhalter; ihre besondere Liebe galt Motorrädern, auf deren Sozius sie von dannen brauste mit wertvoller Fracht unterm Arm. Sie bot die Werke feil in Cafes, in Gaststätten, in Krankenhäusern. Erlebte sie einen rabenschwarzen Tag, an dem niemand ihre bilder kaufen wollte, der Hunger sie aber übermannte, kehrte sie ein im Restaurant, bestellte sich ein Menü und regelte die Bezahlung nach dem Verzehr per Bild. Man lebte in Künstlerkreisen oft förmlich von der Hand in den Mund, deshalb erwartete der Gatte daheim die Rückkehr seiner Gemahlin voller Ungeduld. Wenn Geld ins Haus kam, war beim nächsten Einkauf auch etwas für ein Fläschchen Malaga oder Wermut übrig. Künstlerische Eingebungen stellten sich nach dem Genuss eines Gläschens hiervon wahrscheinlich leichter ein. War das Geld knapp, offerierte er manchmal auch halbfertige bilder, bilder ohne die letzte Schicht und ohne Signatur. Er brachte sie ins Lebensmittelgeschäft als Pfand, um sie später wieder auszulösen. Dies geschah nach meiner Kenntnis nie. Es existieren heute noch Werke von Sonnenblumen und einer Madonna mit Kind, die äußerst ansprechend auf den Betrachter wirken, aber eben ohne Signatur und ohne Firnis sind.

Hermann Schnitzler lebt als Gentleman, als echter Künstler im Gedenken der Salmer fort. Sein Habitus war ansprechend, er war ein dunkelhaariger Typ, er war charmant und gefühlvoll. Ich habe seine Grabstätte im Sommer 2001 in Salm besucht. Es ist eine gepflegte, schlichte, letzte Ruhestätte. Dieser Artikel ist ein Gruß an den Künstler meiner Kinderzeit.