Verluste

Monika Engelhaupt, Gerolstein-Müllenborn

Wenn man einen Knopf verliert, kann man einen neuen annähen. Wenn man einen Freund verliert, bleibt eine Lücke. Mittlerweile entstehen immer mehr Lücken. Nicht nur, dass uns das Alter straft mit dem Verlust der Haarpracht, der Reduzierung der Manneskraft und dem mitleidigen Lächeln der jungen Damen, denen man sehnsüchtig hinterher schaut. Der Verlust der Freunde, der Leidensgenossen ist es, der am meisten schmerzt. Früher gingen wir zu acht auf den Golfplatz, doch seit einigen das Laufen zu schwer fällt, hat sich unsere Golfrunde halbiert. Das Segeln mussten wir schon vor zwei Jahren einstellen, weil die körperliche Arbeit für die meisten zuviel wurde. Seit gestern sind wir nur noch sieben und mir fällt der Spruch von den ,Zehn kleinen Negerlein' ein: »da war es nur noch eins«. Wer wird wohl das letzte Negerlein sein? Wehmütig denke ich an die ausgedehnten Pokerrunden zurück. Nächtelang gezockt, vor keinem Drink zurückgeschreckt und morgens, etwas zerknittert, aber voller Tatendrang. Wo war nur die Zeit geblieben? Mühsam rappelte ich mich auf, um an meinen Schreibtisch zu gehen und ein paar tröstende Worte an die Witwe meines Freundes zu schreiben. Von meinem Fenster aus konnte ich auf den herbstlich gefärbten Garten schauen. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein unwirkliches Licht und meine Gedanken wanderten zurück zu unserer gemeinsamen Schulzeit, in der wir uns das erste Mal begegneten: Die Sommerferien waren vorbei, und voller Elan harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Als unser Klassenlehrer, Panik-Udo, den Raum betrat, hatte er einen kleinen Jungen im Schlepptau. Schlagartig wurde es still. Wir sprangen von den Stühlen auf und riefen wie auf Kommando: »Guten Morgen, Herr Meier!« und wie gewohnt antwortete er: »Guten Morgen Kinder, setzen!« Der kleine Wicht war hinter ihm in Deckung gegangen. Herr Meier zog ihn hervor und sagte: »Das ist euer neuer Mitschüler er heißt Sebastian, Sebastian Hoffmann, na, wo setzen wir ihn denn nun hin?« Alle schauten verlegen auf ihre Tischplatte, nur Elli Schmidt rief laut: »Bei mir ist noch ein Platz frei.« Sebastian bekam sofort rote Ohren. Ein Mädchen, um Himmels Willen, doch nicht zu einem Mädchen dachte ich. Unser Lehrer hatte aber schon anderes im Sinn. »Dort bei Rudolf ist noch ein Platz frei.« Ich entgegnete: »Aber Harald...« Doch Herr Meier unterbrach mich: »Harald kommt nicht mehr« und damit hatte ich einen neuen Banknachbarn. Mit gesenktem Kopf schlich sich Sebastian zu mir und klemmte sich hinter die Schulbank. Bei Panik-Udo war der Alltag eingekehrt. Nachdem er sich informiert hatte, dass keiner fehlte, zückte er das Lesebuch und auch wir schlugen die Bücher auf und begannen einer nach dem anderen vorzulesen. Sebastian schien gut vorbereitet. Sein Ranzen quoll fast über vor Büchern. In der Pause war er verschwunden und zu den nächsten Stunden saß er, wie von Geisterhand hingezaubert, wieder auf seinem Platz, neben mir. Nach dem Unterricht standen wir noch eine Weile auf dem Schulhof. Die anderen waren schon auf dem Weg zur Bushaltestelle. Während wir Beide auf unsere Mütter warteten fragte ich ihn: »Wo warst du eigentlich in den Pausen?« Verlegen senkte er den Kopf: »Ich war im Lehrerzimmer« sagte er. »Und warum? Hast du was ausgefressen?« »Nein, ich muss mich immer spritzen, und das soll ich nicht in der Klasse machen.« Ich machte große Augen. »Spritzen!? Um Himmels Willen, warum denn das?« »Ich habe Diabetes, Zucker, und um halb zehn muss ich mich spritzen, damit ich nicht umkippe.« Ich schwieg, der kleine Kerl an meiner Seite tat mir leid, aber sagen konnte ich nichts, mir fehlten einfach die Worte. Noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt. Sebastian meinte: »Es ist gar nicht so schlimm, viel schlimmer ist, dass ich keine Süßigkeiten essen darf.« Wir lächelten uns an und ich fragte ihn: »Willst du mein Freund sein?« Er strahlte über das ganze Gesicht und meinte: »Klar, das war' prima! Und das mit dem Spritzen ist unser Geheimnis.« Unsere Freundschaft hielt die ganze Schulzeit über. Nach dem Abitur, Sebastian war mittlerweile einen ganzen Kopf größer als ich, verloren wir uns für ein paar Jahre aus den Augen. Ich ging zur Bundeswehr und er ins Studium. Wie es der Zufall wollte, ließ sich Sebastian als Anwalt in unserer Stadt nieder und ich hatte das Baugeschäft meines Vaters übernommen. Unsere Freundschaft begann wieder aufzuleben und erweiterte sich später sogar auf unsere Familien. Trotz Höhen und Tiefen waren wir immer füreinander da, wenn einer Hilfe brauchte oder einfach nur einen Zuhörer; und nun, nun war ich allein. Sicher, Freunde hatte ich viele, doch keiner war mir so vertraut und keiner verdiente diesen Namen mehr als er. Wie sollte ich tröstende Worte finden, wenn ich mich selbst nicht einmal trösten konnte. Von hinten umschlangen mich die weichen Arme meiner Frau. »Du bist nicht allein. Basti wird immer bei uns sein«. Lange saßen wir umschlungen im Dämmerlicht und erzählten Geschichten von Früher. Unsere traute Zweisamkeit wurde abrupt unterbrochen. Das Licht ging an und unser Enkel kam mit Indianergeheul auf uns zu: »Oma, Opa, stellt euch vor, ich hab nen Zahn gezogen bekommen und gar nicht geweint, aber ihr müsst nicht traurig sein, der wächst nach.« Lachend schlössen wir unseren kleinen Wirbelwind in die Arme. Das Leben ging weiter, bei ihm wird ein neuer Zahn die Lücke wieder füllen und auch bei mir wird, irgendwann, die Wunde geheilt sein, bis auf eine Narbe in meiner Seele.