75 Jahre Nürburgring

Kindheitserinnerungen an den Nürburgring der Nachkriegszeit

Tamara Retterath, Lirstal

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie mein Vater mich zum ersten Mal auf den Nürburgring mitnahm. Es war dort das erste Rennen nach dem Krieg, und ich war noch ein kleiner Bub. Heute bin ich selbst Vater und habe Kinder, die auch schon wieder zu Veranstaltungen wie „Rock am Ring", „Formel l" oder „Oldtimer-Grand Prix" auf den Nürburgring fahren. Geändert hat sich seit jener Zeit so viel, dass sich meine Kinder kaum vorstellen können, wie bestimmte Vorgänge eine Generation vor ihnen abliefen. Voller Erwartung war ich jedenfalls als Kind vor meinem ersten Nürburgringbesuch, da mir mein Vater schon viel davon erzählt hatte. Ich war froh, dass ich einmal nicht im landwirtschaftlichen Betrieb helfen musste und von zu Hause fort kam. Öffentliche Verkehrsmittel zwischen meinem Heimatort und dem Nürburgring gab es in den 1950er Jahren nicht, so dass wir den etwa sieben Kilometer weiten Weg zu Fuß auf Feldwegen marschierten. Der Nürburgring selbst war damals - nicht so wie heute - weder abgesperrt noch eingezäunt. Die Zuschauer liefen auch während eines Rennens einfach über die Rennstrecke, wenn sie eine andere Sichtposition einnehmen wollten. Für uns lag ein bestimmter Streckenabschnitt des Nürburgrings, der sogenannte „Schwalbenschwanz", am günstigsten. Von dort aus beobachteten wir meist das Renngeschehen. Bei späteren Rennen waren Lautsprecherdurchsagen, dass ein Rennfahrer durch ein vorbeilaufendes Reh von der Bahn abgekommen sei, keine Seltenheit. Das Wild war durch die Motorengeräusche aufgescheucht worden und lief einfach in Panik auf die Rennstrecke. Für mich als Kind war auch interessant, wie die weiß gekleideten Eisverkäufer mit einem Bauchladen Eis am Stil verkauften. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Es war schon faszinierend zu beobachten, wie sie das Eis aus dem Bauchladen auspackten und damit gleichzeitig auch immer weißer Qualm aus der kleinen Kühlbox aufstieg. Ein Eis war damals verhältnismäßig teuer, und weil ich aus ärmlichen Verhältnissen kam, war es einfach nicht drin, dass ich eins bekommen hätte. Auch sah ich am Nürburgring zum ersten Mal Bratwurstbuden. Interessant war auch das lebhafte Treiben der Menschen. Sie unterschieden sich in ihrer Kleidung und ihrem gesamten Auftreten. Frauen sonnten sich entlang der Rennstrecke im Bikini, was zu dieser Zeit sehr außergewöhnlich war. Doch das Größte waren für mich die Rennwagen selbst, die mit hoher Geschwindigkeit in die Kurven rasten. Mich beeindruckten diese Autos ohne Kotflügel, bei denen die Räder von außen im Ganzen sichtbar waren.

Bei nachfolgenden Rennen kann ich mich erinnern, dass ich nur für ein Papierfähnchen oder Sonnenschirmchen aus Pappe zu Fuß bis auf den Nürburgring gegangen bin. Zu Werbezwecken wurden solche Sachen von den Zufahrtsstraßen aus vorbeifahrenden Autos herausgeworfen. Es gab auch nach dem Krieg schon wieder Leute, die sich Pralinen leisten konnten und die für uns Kinder so begehrten Schachteln achtlos wegwarfen. Wenn ich solch eine fand, war das für mich kleinen Bub schon ein Vermögen. Jahre später hörte man von meinem Heimatort aus schon einige Tage vor Rennbeginn die Motorengeräusche vom Training und merkte dadurch, dass auf dem Ring etwas los war. Die Vorfreude war groß, da man wusste, dass man sonntags nach der heiligen Messe zum Autorennen ging. Zu essen nahm man sich Butterbrote in einer Tasche mit. Ich kann mich noch an ein Rennen erinnern, wo ich fünf Pfennige gefunden habe. Da war ich stolz, denn ich erhielt für dieses Geld im Nachbarort im Kolonialwarengeschäft fünf Bonbons. Um aber dorthin zu kommen, musste ich wieder drei km weit laufen. Als ich älter war und den Fußweg zum Nürburgring recht gut kannte, marschierte ich mit gleichaltrigen Jungen zusammen zum Ring. Zu diesem Zeitpunkt war der Ring schon mit Maschendrahtzaun abgesichert und es wurde Eintritt an einer Sperre erhoben. Da wir nur wenig Taschengeld erhielten und das nicht ausgereicht hätte, sind wir unter dem Stacheldraht hindurch gekrochen. Das Problem war jetzt, wenn man auch schon im Nürburgringgelände drin war, kamen trotzdem immer wieder Kontrolleure. Wer schon bezahlt hatte und wer nicht, war für diese genau zu erkennen, da diejenigen, die Eintritt gezahlt hatten, ein Fähnchen auf der Brust angesteckt hatten. Diese Herren machten auch vor uns Kindern nicht halt und verwiesen uns vom Zuschauergelände, wenn sie uns entdeckten. Deshalb waren wir immer auf der Lauer. Einer musste ständig nach den Kontrolleuren Ausschau halten, während der Rest sich auf das Rennen konzentrieren konnte. Für uns Buben war so ein Rennen daher im doppelten Sinn aufregend. Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, als wir Kinder auf dem Weg vom „Schwalbenschwanz" in Richtung „Start und Ziel" waren und auf der Zufahrtsstraße reger Betrieb herrschte. Ein Polizeifahrzeug hielt neben uns an und uns allen fiel das Herz in die Hose. Wir dachten, wir würden jetzt verhaftet, weil wir keine Eintrittskarten hatten. Jeder von uns guckte den anderen an. Ein Polizist stieg aus und fragte, wo wir herkämen. Da wir aus einem kleinen Dorf kamen, waren wir den starken Autoverkehr auf der Zufahrtsstraße nicht gewohnt und mussten scheu und ängstlich auf den Polizisten gewirkt haben. Er sagte uns, wir sollten gut aufpassen. Dann fuhr er weiter und ließ glückliche Jungen zurück. Der Weg zum Start und Ziel hat uns deshalb so gereizt, weil dort die Siegerehrung mitverfolgt werden konnte. Das war der Höhepunkt eines jeden Rennens. Wenn ein deutscher Fahrer Sieger wurde und unsere National-Hymne gespielt wurde, bekam ich stets eine Gänsehaut. Ich habe auch schon beobachtet, dass Leute geweint hatten.

Das Schwierige war, auf den Vorplatz des Sporthotels am „Start und Ziel" zu kommen. Als wir kleine Jungs waren, krochen wir am Kontrollhäuschen auf allen Vieren unter der Kontrollluke vorbei, da wir ja kein Geld für den Eintritt hatten. Wir waren dabei ängstlich und aufgeregt, aber der Reiz des Nürburgrings war einfach größer. Einmal auf diesem Platz angekommen, musste man keine Kontrolleure mehr fürchten. Hier wurde man nicht mehr auf Eintrittskarten überprüft. Bei einem anderen Rennen ereignete sich folgender Vorfall: Wieder war ich mit anderen Jungen am Nürburgring und es war später Nachmittag als wir am Start und Ziel ankamen. Das Rennen war schon fast gelaufen, so dass die Kassen nicht mehr besetzt waren. So konnten wir ohne Eintritt hereinkommen. Durch Zufall fand ich auf dem Vorplatz eine Eintrittskarte für einen Tribünenplatz im Sporthotel. Ich überredete meine Kumpels, einmal im Leben auf der Tribüne Platz zu nehmen, was uns ohne Komplikationen gelang. Wir genossen die gute Sicht auf den Ring. Als das Rennen vorbei war und die Zuschauer die Tribünen verließen und wir die Treppe hinuntergingen, hörten wir von unten Schreien und Schimpfen. Unten angekommen, sah ich, wie ein Herr anderen Jugendlichen die Taschen entriss. Auch ich hatte eine Tasche dabei, worin ich meine Butterbrote mitgenommen hatte. Das Brot hatte ich schon gegessen und jetzt war die Tasche so dick vollgepackt mit allen Sachen, die ich an diesem Tag auf dem Nürburgringgelände gefunden hatte: ein Rennprogramm, Rennzeitschriften, Sonnenschirmchen aus Papier, Papierfähnchen, usw. Als der Herr mich sah, kam er auf mich zu und entriss auch mir die Tasche. Ich bat ihn, mir die Tasche zurückzugeben, während mir die Tränen kamen, aber er störte sich überhaupt nicht daran und gab mir keine Antwort. Ohne die Ledertasche durfte ich überhaupt nicht nach Hause kommen. Es war die einzige Ledertasche meines Vaters, die er mir ausnahmsweise geliehen hatte. Daheim erzählte ich weinend, was geschehen war. Daraufhin sagte meine Mutter: „Wir fahren morgen mit dem Fahrrad dahin und erkundigen uns, um was es da geht." Auf dem Hinweg zum Nürburgring am nächsten Tag, musste meine Mutter mich noch beim Lehrer abmelden, da ich normalerweise Schule gehabt hätte. Endlich am Sporthotel angekommen, erzählten wir unsere Geschichte: Einer der Bediensteten sagte, er kenne den Vorfall. Der Mann sei sein Chef gewesen. Der habe festgestellt, dass Jugendliche Tassen und Teller von den Tribünen haben mitgehen lassen. Ich war mir keiner Schuld bewusst, und wir baten um ein Gespräch mit dem Chef. Wir mussten lange warten bis er kam und wir ihm unser Anliegen vortragen konnten. Er erinnerte sich natürlich an den Vorfall und gab an, er habe die Aktentasche bei der Polizei im Nürburgringbereich abgeliefert. Ohne ein einziges Wort der Entschuldigung teilte er uns mit, wo wir die Tasche abholen konnten. Eine Entschuldigung hielt er wohl nicht für erforderlich. Bei der Polizeidienststelle angekommen, mussten wir die Tasche und den Inhalt beschreiben.

Die Tasche selbst war bereits an das Fundbüro weitergeleitet worden. Einige Wochen später wurde sie mir endlich über den Bürgermeister unseres Heimatortes ausgehändigt. Die Einlasskontrolle und Absicherung des Geländes mit Zäunen wurde wegen des Eintritts mit den Jahren immer strenger. Als die Eltern meines Freundes auf dem Nürburgringgelände eine Trink- und Essbude unterhielten, hatten diese selbstverständlich eine Eintrittskarte, um auf das Gelände zu kommen. Jetzt wandten wir folgenden Trick an: Wenn die Eltern drin waren, reichten sie uns ihre Karte durch den Maschendrahtzaun. Damit gingen wir durch die Einlasskontrolle. So schleusten wir mehrere Jugendliche auf den Zuschauerplatz. Aber selbst hier kamen noch Kontrolleure. Es war schon ein unruhiges Rennen, denn wir mussten auf das Rennen und die Kontrolleure gleichzeitig achten. Wenn wir leere Flaschen irgendwo liegen sahen und sie sammelten, bekamen wir von den Eltern meines Kameraden an der Imbissbude das Flaschenpfand.

Heutzutage ist dies alles undenkbar. Eintrittskarten kosten weit über hundert Euro, und ein Eintritt ohne Karte ist absolut nicht mehr möglich. Aber ich hoffe, dass auch meine Kinder schöne Stunden am Nürburgring verbringen werden, damit sie auch später ihren Kindern von interessanten Erlebnissen an und von dieser Rennstrecke erzählen können.