Eine Kindheitsgeschichte

Therese Schneider, Brockscheid

Franz - meist Fränzchen genannt - war der älteste der drei Buben einer kleinbäuerlichen Familie in einem kleinen Eifelort. Als sein Bruder Jakob zur Welt kam, war er bereits drei Jahre alt. Von nun an musste er die elterliche Zuwendung mit dem kleinen Erdenbürger teilen, was für Fränzchen nicht ganz einfach war. Die Mutter musste sich doch sehr um den kleinen Jakob kümmern, und gerade dann, wenn Fränzchen gerne die Mutter für sich allein gehabt hätte. Da er aber schon so manches Mal mit dem Vater in Stall und Scheune gehen durfte, heftete er sich jetzt noch mehr dem Vater an. Der Vater setzte ihn auf einen Heuhaufen in die Ecke, während er das Vieh versorgte. Fränzchen war zufrieden und freute sich.

So vergingen die Monate, und bald war Fränzchen schon ein Jahr älter geworden. Er wurde zur Feldarbeit mitgenommen, während der kleine Jakob bei der Großmutter im Dorf in Obhut gegeben wurde. Das war Fränzchen sehr recht, so hatte er wenigstens auf den Ackern und Wiesen die Eltern für sich allein. Wenn der Vater pflügte, trippelte der kleine Mann nebenher und stellte schon Fragen, worüber der Vater sich wunderte. Wenn eine Pause eingelegt wurde und Vater und Sohn ein mitgebrachtes Brot verzehrten, war Fränzchen so glücklich - und der Vater erzählte ihm eine Geschichte. Auch lehrte er ihn schon, so weit es der kindliche Verstand begreifen konnte, was das bäuerliche Leben für einen Sinn hat. Fränzchen zeigte sich an Allem interessiert. Auch lernte er schon bald die ganze Gemarkung kennen und konnte die einzelnen Äcker und Wiesen mit ihrem Namen sagen. Zur Stallarbeit fühlte sich der Vierjährige ebenfalls sehr hingezogen; durfte er doch, wenn ein Kälbchen zur Welt kam, den Namen aussuchen. So gab es im Kuhstall eine Elsa, eine Bella und eine Frieda, die im Laufe der Jahre von Fränzchen ihre Namen bekommen hatten. Was er nicht verstand, war, wo die Kälbchen auf einmal herkamen, denn den Geburtsakt konnte der Kleine nicht miterleben. Der Vater erklärte ihm, dass das Kälbchen heimlich gebracht worden sei und die Mutterkuh dann am ersten Tag mit dem Kälbchen allein sein wollte. So war es dann gut. Es wurde auch mal ein Kälbchen verkauft, weil die Eltern Geld für notwendige Anschaffungen brauchten. Das war dann immer eine traurige Erfahrung für den Jungen. Er weinte und litt und wollte sich nicht beruhigen. Denn so oft hatte er bei den Kälbchen gesessen, sie gestreichelt und ihnen auch schon Futter gegeben. Die Eltern versuchten das Kind zu beruhigen, indem sie sagten, dass bald wieder ein neues Kälbchen käme. Fränzchen sagte: „Dat os ewwer net dat Kälvjen, wat dir verkooft hott." Erst als eines Tages wieder ein Kälbchen an dergleichen Stelle stand, war für Fränzchen die Welt wieder in Ordnung.

Inzwischen war der kleine Jakob zwei Jahre alt geworden, aber er durfte selten mit aufs Feld, sondern wurde meistens bei der Großmutter gelassen. Auch in den Stall durfte er nicht mit, da er noch zu unsicher auf den kleinen Beinen war. Fränzchen lebte sich immer mehr in den bäuerlichen Alltag ein; eine wahre Freude für die Eltern.

Nun wurde er bald sechs Jahre, und die Eltern sprachen darüber, dass er nun auch bald zur Schule gehen müsse. Aber davon wollte der Junge nichts hören und sagte: „Nee, Vatta, un die Schul brauch ech net zo john, dat kaan ech alles bei dir un da Motta lie-ren!" Die Eltern dachten, es wird schon werden, aber da hatten sie sich getäuscht. Als Fränzchen eingeschult werden sollte, gab es ein fürchterliches Geschrei, so dass die Eltern nicht wussten, wie sie ihn beruhigen könnten. Sie zeigten ihm die Schulsachen, die Tafel, das schöne Buch mit den vielen bildern, die Griffeldose und die Schultasche, die von der Mutter aus Jute-Sack-Stoff genäht war. Das alles interessierte Fränzchen gar nicht, vielmehr sagte er: „Ech jien net un die Schul un domot basta!" Dann kam der erste Schultag. Vater und Mutter begleiteten den Schulneuling zum Schulhof, wo sich die anderen Kinder bereits alle eingefunden hatten. Keines der Kinder zog eine solche Schau ab wie Fränzchen. Als der Lehrer kam, schlug er um sich, warf sich zu Boden und schrie fürchterlich. Die Eltern wussten keinen Rat. Doch der Lehrer erklärte ihnen, dass so etwas öfters vor käme, sie sollten nur ruhig nach Hause gehen und Fränzchen ihm überlassen. Aber die Eltern wollten den Jungen noch nicht alleine lassen und gingen mit ihm in den Schulsaal. Außer Fränzchen setzten sich alle Kinder in die Bank. Er lag auf dem Fußboden, strampelte und schrie. Dann nahm ihn der Lehrer auf den Arm und setzte auch ihn auf seinen Platz. Der Lehrer ging zum Schrank, brachte verschiedene kleine Tierfigürchen und stellte diese vor den Kindern auf. Da taute Fränzchen auf und griff sofort nach einem der Figür-chen; es war ein Schäfchen. Das Eis war gebrochen. Fränzchen freute sich und lachte sogar. Als der Lehrer die Kleinen entließ, lief Fränzchen eilig nach Hause und zeigte was er vom Lehrer bekommen hatte. Die Mutter sagte zu ihm: „Siehst du, das ist doch alles nicht so schlimm mit der Schule - und morgen gehst du alleine hin." Fränzchen erwiderte: „Nee, Motta, dat os weylen at esje-noch, mur jien ech net un die Schul. Ech forren mot eich Krumperen setzen." Die Mutter beließ es dabei, erlebte aber am nächsten Tag wieder das gleiche Drama. Es dauerte eine ganze Weile, bis Franzchen sich in der Schule einigermaßen eingelebt hatte. Die Hausaufgaben waren auch ein Kapitel für sich, denn nun galt es, den Buchstaben „i" zu lernen. Da hieß es: „Ropp, roaf, ropp, Pinkelchen owwen tropp." Oh, das machte dem kleinen Schüler Schwierigkeiten. Die Mutter führte ihm zunächst die Hand - und dann sollte Fränzchen alleine versuchen, damit fertig zu werden. Es gab immer wieder Geschrei.

So vergingen die ersten Wochen, und auch nach einem halben Jahr, konnte Fränzchen sich noch immer nicht für die Schule begeistern. Er war und blieb schwierig - und das sollte sich später noch öfters zeigen.

Eines Tages kam Fränzchen nach der Pause nicht mehr in die Schule zurück. Der Lehrer schickte ein Kind zu den Eltern und ließ fragen, wo Fränzchen wäre. Die Mutter erschrak und suchte überall nach dem Jungen, konnte ihn aber nicht finden. Dann beteiligten sich die Schulkinder und Leute aus dem Dorf an der Suche nach dem Jungen. Alle Möglichkeiten eines Verstecks wurden in Erwägung gezogen. Das ganze Dorf wurde durchkämmt - nichts war von Fränzchen zu sehen. Ob er vielleicht zum Vater aufs Feld gelaufen war? -Dort war er auch nicht. Das ganze Dorf war in Aufregung. Dann sagte eine Frau, ob er vielleicht in den Brunnen gestürzt ist Der Brunnen wurde abgesucht, Fränzchen war nicht drin, zum Glück! Die Eltern waren sehr aufgeregt und voller Sorge um den Jungen. Wo soll er nur sein? Ob er vielleicht in ein anderes Dorf gelaufen war? Die Suche wurde abgebrochen, denn es war schon Mittag geworden. An Mittagessen dachten die Eltern nicht. Die Mutter holte den kleinen Jakob bei der Großmutter ab und brachte ihn zum Schlafen nach oben. Da durchzuckte sie ein Gedanke und instinktiv schaute sie unter Jakobs Bett. Da lag der Vermisste und schlief. Der Mutter verschlug es die Sprache, stumm zog sie ihren Jungen unter dem Bett hervor und weinte Freudentränen -ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie sagte: „Oh Fränzchen, was hast du uns angetan, wie konntest du uns solchen Schrecken einjagen?" Fränzchen antwortete: „Jo, Motta, dau hos et joot, dau brauchs och net un die Schul zo joon." Nicht lange nach dieser Begebenheit kam der zweite Bruder zur Welt, und das war für Fränzchen wieder eine Herausforderung. Nichts wollte er mit dem kleinen „Pitterchen" zu tun haben. Nichts lief mehr wie gewohnt. Die Mutter lag mit dem kleinen Bruder im Bett, der Vater saß oft bei ihr und in der Küche schaltete die Tante Christin, die Frau von Onkel Peter, die in Duisburg wohnten. Diese beiden kamen sonst jedes Jahr zur Heuernte, aber jetzt war das Heu längst in der Scheune. Übrigens wurde Onkel Peter Pate von dem kleinen Peterchen. Das gefiel Fränzchen, und es war das Einzige, womit er zufrieden war. Was die Tante kochte, schmeckte nicht so wie von der Mutter gekocht. Einmal ging er zur Mutter und sagte: „ Oh, Motta, wofler bleivst dau daan nur um Bat leyen. Dau brauchs doch net lauter op dat Pitterchen op zopassen, dän schläft doch immer. Stieh op, daan bäst dau es richtig Waafeln un kochs Krumpere-Zopp, die kret die Tant Christin net reet, dat hott da Vatta och jesoot. Un iwwerhopt kann die net richtig schwätzen; ech kann se net verstoon." Nun, auch dieser Schmerz ging vorüber, und nach ein paar Wochen war wieder alles beim Alten. Tante und Onkel waren wieder nach Duisburg abgereist.. Die Mutter hatte immer noch viel mit dem kleinen Bruder zu tun. Öfters war Fränzchen dabei, wenn die Mutter den kleinen Peter stillte und konnte sich nicht genug wundern, wie das ablief. Einmal sagte er zur Mutter: „0, Motta, wat os dat fer en komisch Taas, wo da Kleenen draus trinkt, brauch die dan kees jespeelt zujen?" Das war Kindermund! Und wie ging es in der Schule? Nicht gut, dass sagte auch der Lehrer. Fränzchen war nur ein aufmerksamer Schüler, wenn Tiergeschichten vorgelesen wurden, davon war er begeistert. Wie sollte es mit dem Jungen weitergehen? Das fragten sich die Eltern immer wieder. Früher waren in den Dörfern an fast allen Häusern kleine Schuppen angebracht, die nicht besonders stabil waren. Sie dienten den verschiedensten Zwecken. So wurden dort Kleingeräte abgestellt, Brennholz aufgestapelt oder auch auf einem alten Ofen Schweinefutter gekocht. Die Funktion des Ofenrohrs wurde einfach durch eine Bretterlücke nach draußen abgeleitet. Dass dieses schon mal einen Brand verursachte, bedarf keiner Frage. So geschah es, dass eines Tages die kleine Feuerglocke bimmelte, die alle Dorfbewohner in Schrecken versetzte. Sofort waren alle Leute auf der Straße, um zu schauen, was los war. Schon hörte man den Ruf: „Et brennt." Schnell wurden Eimer zur Löschaktion herbeigeholt. Nach kurzer Zeit war das Feuer gelöscht, ohne sich auf das Wohnhaus ausgedehnt zu haben. Der Schuppen war zerstört. Fränzchen war nun zehn Jahre alt und hatte den Brand aus der Feme miterlebt. Er sah die aufgeregten Leute und machte sich schon seine eigenen Gedanken darüber. Einige Wochen danach sagte er zu seinem Vater: „ Jell Vatta, wenn die Schul oofbrennen dät, daan braucht ech net mie drun zo jon." Der Vater erschrak über den Ausspruch seines Jungen; damit war wieder mal die große Abneigung gegen die Schule unter Beweis gestellt. Für Fränzchen zählten nur Haus, Hof und der Ackerbau. Das war seine Welt. Einmal sagte sein Vater zu ihm, er solle nach der Schule den Wagen zum Beladen auf das Rübenfeld bringen. Fränzchen war hell begeistert. Er hatte ja beim Einspannen der Kühe schon oft dem Vater mitgeholfen, deshalb traute er sich das auch zu. Mit Eifer führte er die Kühe nacheinander aus dem Stall und spannte sie vor den Wagen. Und dann ging es los. Er fuhr mit dem Gefährt vom Hof in Richtung Rübenacker, aber irgendetwas stimmte nicht. Soviel er der Bella „Hotz" zurief, umso mehr drückte sie nach „Hah" zur Elsa hin. Was war nur los? Immer wieder rief Fränzchen: „Oh Bella komm doch Hotz, Hotz" Aber die sonst so aufmerksame Bella hatte auf Stur gestellt. Fränzchen wusste sich nicht mehr zu helfen und weinte. Schließlich landete das Gefährt neben dem Weg im Graben und es war für Fränzchen unmöglich, mit dieser Situation fertig zu werden. Auf dem Acker schaute der Vater schon unruhig Richtung Dorf und er ahnte, dass irgendetwas schief gelaufen war, deshalb ging er dem Fuhrwerk entgegen. Der Vater sah sofort, was passiert war. Fränzchen hatte die Kühe falsch herum eingespannt. Bella war es gewohnt, an der anderen Seite zu gehen. Das hatte der kleine Fuhrmann nicht bedacht. Auch im Stall kennen die Kühe ihren Platz genau. Der Ausspruch „dummes Rindvieh" ist wohl nicht angebracht. Fränzchen hatte schon wieder etwas dazugelernt. Würde er doch auch in der Schule so schnell begreifen, dachte der Vater. Da gab es immer noch keine großen Fortschritte; die Schulpflicht blieb für den Jungen ein notwendiges Übel. Und als eines Tages der alte Schuppen, der windschief und morsch an der Schule klebte, auch abbrannte, fiel dem Vater der Ausspruch ein, worüber er damals erschrak - sollte Fränzchen, nein, das doch nicht. Zum Glück brannte das Schulgebäude nicht ab. Aus Fränzchen wurde in den nächsten Jahren langsam ein „Franz" und aus dem Problemschüler entwickelte sich später ein recht brauchbarer Mann.