Abwehr von »Zigeunerbanden« im Erzstift Trier 1728-29

Hubert Pitzen , Stadtkyll

Vorbemerkung:

In meiner Jugendzeit hatte der Ausspruch »Die Zigeuner sind im Dorf« etwas Bedrohendes und Beängstigendes an sich. Noch mehr schreckte uns Kinder die Drohung: »Wenn du dich nicht schickst, dann nehmen dich die Zigeuner mit!« Oftmals blieben im Dorf die Haustüren den ganzen Tag offen und die Nachbarn gingen ein und aus. Rückte aber das »fahrende Volk« an, dann wurden die Türen besser verriegelt. Meist »Zigeunerkinder und -frauen« zogen von Haustür zur Haustür, um ihre selbst gefertigten Messinggeräte und Teppiche anzubieten.

Männer führten häufig Tanzbären an der Leine mit, die uns Kindern einen mächtigen Schrecken einjagten, vor allem dann, wenn das Tier nicht so parierte, wie es der Führer wollte. An den Haustüren verlangte man einen Obulus für die Tanzbärennummer. Nur selten besuchten die »Zigeunerkinder« die örtliche Dorfschule. War dies einmal der Fall, wirkten die fremden Kinder einerseits unnahbar und andererseits irgendwie geheimnisvoll. Ihr dunkler Teint, die schwarzen Haare und die etwas fremdartige Sprache war für uns Dorfkinder ungewohnt. Auf der anderen Seite imponierten uns Jungen die großen Autoschlitten, mit denen die Wohnwagen der »Zigeuner« gezogen wurden. Vielleicht war die Angst vor Diebstahl nicht ganz unbegründet; aber war die Furcht, die man uns vor den »Zigeunern« einflößte nicht übertrieben? Die Angst vor den Fremden war in meiner Jugendzeit immer wieder spürbar. Auch um die sog. »Handwerksburschen« hatte man besser einen Bogen zu machen. Als »Handwerksburschen« bezeichnete man Obdachlose, die ab und zu im Dorf auftauchten, um an den Haustüren zu betteln. Erst später lernte ich die eigentliche Bedeutung des Begriffes »Handwerksburschen«, die ja ursprünglich »auf der Walz« als Handwerksgesellen umherzogen und sich bei Handwerksmeistern verdingten.

Wer waren aber die Fremden, die man heute als Sinti und Roma bezeichnet?

Geschichte und Kultur: Die meisten Angehörigen dieser Minderheit möchten nicht als »Zigeuner« bezeichnet werden, da dieser Begriff mit »ziehendem Gauner« assoziiert wird. Der Begriff »Zigeuner« leitet sich entweder vom persischen Wort »Ciganch« (= Musiker, Tänzer) oder dem byzanzinischen Wort »Atciganoi« (= Unberührbare) ab. Die Sprache, das Romanes, entwickelte sich aus dem indischen Sanskrit. Das Ursprungsland der Sinti und Roma ist Indien, von wo sie in verschiedenen Einwanderungswellen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert über den Iran, die Türkei und den Balkan nach Europa einwanderten.

1392 sind sie als Einwanderer erstmals in Deutschland (Hildesheim) erwähnt. Schon im 15. Jahrhundert waren die Sinti und Roma als Kupferschmiede und Kunsthandwerker tätig. Als Scherenschleifer, Korbflechter und Pferdehändler zogen sie von Dorf zu Dorf. Sie machten Musik und betrieben Wahrsagerei. Durch ihre legendäre »Zigeunermusik« sind die Sinti und Roma zu einem kulturellen Teil des jeweiligen Gastlandes geworden. In Andalusien wird die reinste Form des Flamencos in »Zigeunerkneipen« getanzt.

Geschichte der Verfolgung: Seit dem 16. Jahrhundert wurden in ganz Europa »Zigeuner-feindliche Gesetze erlassen. Bis zum 18. Jahrhundert waren »Zigeuner« in Deutschland vogelfrei, d.h. man konnte mit ihnen machen, was man wollte; sogar Morde an ihnen wurden nicht geahndet. In früheren Jahrhunderten war es mit der friedlichen Duldung von Fremden nicht weit her. Vertreibungen waren an der Tagesordnung.

Kaiser Karl V. und Heinrich VIII. von England erließen strenge Gesetze gegen die Sinti und Roma. 1557 wurden sie als Tatarenspione aus Deutschland und Polen ausgewiesen. In der Pfalz veranstaltete man regelrechte Treibjagden.

Im Staatsarchiv Wertheim fiel mir eine Akte mit dem Titel »Abwehr von Zigeunerbanden in der Grafschaft Virneburg 1728/29« in die Hände. Sie schlägt sehr dunkle Seiten auf, die nur noch mit dem Völkermord der Nationalsozialisten vergleichbar ist. In einem Schreiben der Grafschaft Virneburg vom 4. Februar 1729 an die Kur-Mainzer und kurtrierische Regierung erhebt man Klage, dass »hießige arme Unterthanen bey tag und nacht zum öffteren bestohlen worden« seien. Die Angst gehe um. Man fühle sich sogar im Amtshause nicht mehr sicher. Der Landmann sei nicht im Stande gegen die Gewalt vorzugehen. Voller Sorge verlange man nun eine Verordnung, die bestimme, was man zu tun habe.

Prompt folgte eine Anweisung, die, wenn wir heutige Maßstäbe anlegten, nicht mit den Gesetzen eines heutigen Rechtsstaates in Einklang zu bringen wären. Kurtrier war es sehr wohl bekannt „inwaß für grausamkeith von Raub-, Brand und Mordthaten das herrenlose Zigeuner-Volck mit großen Rotten - vielle hundert Bewaffnete starck - sich vor einigen Monathen hero gegen die Landsunterthanen auch große Dorffschafften vermessen hätten. Die Strafen, die man verhängte, waren Stäupen und Brandmarken. Bei der Stäupenstrafe band man den Verurteilten an einen Pfahl (Staupsäule) und verpasste ihm eine Tracht Prügel. Doch diese Strafen hatten die »Zigeuner unerschrocken außgehalten« und sie bewirkte anscheinend nichts. Daher schrieb man: »Nachdem man aber von der Landesobrigkeit wegen verbunden, dem getrewen Landmann und Unterthan Schutz und Leib und Leben zu verschaffen und wir anhero auch dem Exempell von denen Österreich und schwäbischen Grafen keine andere Mittel gefunden von solchen Mord- und Raubgesindel, welches sich kürtzlich zu 140 starck -wohl bewaffnet - ahn der Saar sehen lassen und durch Brand und Raub sich Unterthanen zur Armuth gebracht haben, zu reinigen und zu schützen.«

Demnach wurde die Strafe verrstärkt Ab jetzt dufte kein »Zigeuner« und auch die sich zu ihnen gesellten herrenlose Kerle das Erzbistum Trier betreten. Bei geringster Widersetzlichkeit hatte der Landschultheiß die Eindringlinge sofort nieder zu schießen. Diejenigen, die man ergriff, sollten an den nächsten Ortsbeamten zu alsbaldiger Hinrichtung durch den Strang »ahm erst besten Baum oder Galgen überliefert« werden. Die minderjährigen Mädchen und Jungen sollten der Execution zusehen. Das Landschultheißenamt, in dem sie ergriffen wurden, hatte dann für die Waisen aufzukommen »biß sie das brod gewinnen können«. Am Schluss der Verordnung hoffte man, dass die benachbarten Herrschaften ähnlich verfahren würden. Soweit die Verordnung. Doch handelte es sich wirklich um »Zigeunerbanden«, die dem Landmann das Leben erschwerten? Im 18. Jahrhundert rotteten sich häufig Räuberbanden zusammen, sodass man vom Jahrhundert der Gauner und Räuber sprechen kann. Keine Seltenheit waren Raubüberfälle von 40 Mann auf einsame und abseits gelegene Mühlen und Dörfer. Die Raub gesellen rekrutierten sich aus dem Vagantentum der nicht- oder teilintegrierten Menschen. In der Eifel lag die Zahl der vagierenden Armen in »normalen« Zeiten im 18. Jahrhundert bei 3°/o bis 4%. Unter den Vaganten entwickelte sich eine Art verschworener Gemeinschaft. Zu diesen Vaganten zählten auch Sinti und Roma, die in Familienverbänden reisten und Hausier- und Bettelwesen betrieben.

Spätestens jetzt stellt sich die Frage: Rotteten sich überhaupt 40 und mehr »Zigeuner« zusammen, um mörderische Gewalttaten zu begehen. Hier sind jedoch Zweifel angebracht. Die vorgenannten Räuberbanden, die sich an der Peripherie der Eifel etablierten, nutzten die Eifel als Rückzugsgebiet und sporadisch als Operationsgebiet. Diese Banden hatten allerdings nichts mit den »Zigeunerbanden« zu tun. Die Administration der Obrigkeit benutzte den Begriff »Zigeunerbanden« als Synonym für Räuberbanden, die sich aus den Vagantenfamilien rekrutierten.

Die Frage nach der Teilnahme von Kindern ist dadurch zu erklären, dass auch Frauen Aufnahme in die Bandenstruktur fanden. Ihr Aufgabenbereich war das Ausbaldowern von Überfallorten und -Objekten. So mag es durchaus sein, dass Kinder in den Räuberbanden integriert waren.

Erst im Zeitalter der Aufklärung strebten die Regierenden die Assimilation der »Zigeuner« an. Sprachverbot, Zwangsehen mit Nicht-» Zigeunern« und Wegnahme der Kinder sollten dazu beitragen. Die Romantik entwarf wiederum ein idealisierendes »Zigeunerbild«. Im Nationalsozialismus begann im Zusammenhang mit dem Holocaust eine blutige Verfolgung. Mit dem Runderlass von 1938 zur »Bekämpfung der Zigeunerplage« (Himmler-Erlass) und dem Auschwitz-Erlass von 1942 (Deportation aller »zigeunerischen Personen«) in die Vernichtungslager wurde der Völkermord an fast 500.000 europäischer Sinti und Roma begonnen. Sie teilten das Schicksal der Juden und wurden in den Konzentrationslagern vergast, zu Tode gequält, zwangssterilisiert oder von Ärzten bei Versuchen missbraucht und getötet.

Sinti und Roma heute: Heute leben noch insgesamt 12 Millionen Sinti und Roma weltweit, hauptsächlich in osteuropäischen Ländern. In der Bundesrepublik existieren noch 60.000 bis 70.000 Sinti und 40.000 Roma, die noch bis in die 90er Jahre hinein um Wiedergutmachung kämpfen mussten. 1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg gegründet. Büros in den Bundesländern setzen sich heute für die Interessen der überwiegend sesshaften deutschen Sinti und Roma ein. So können Diskriminierung und Vorurteile bekämpft und abgebaut werden. Dazu gehört auch die Erinnerung an den Völkermord. Auf Initiative des Zentralrates entstanden in einigen Städten Mahnmale zur Erinnerung an den Holocaust.

Quellen:

Staatsarchiv Wertheim, F. 103 Nr. 682 Ritzen H., Der Fluch der bösen Tat. Aachen 1997