Das Märchen

Die Vulkaneifel ist berühmt für die Maare.

Nahe bei dem Eifeldorf Strohn gibt es ein kleines Trockenmaar.

Ulrike Mevius, Bonn

Anna und Peter hatten, obwohl sie noch Kinder waren, kein leichtes Leben. Das Leben in dem kleinen Eifeldorf, in dem sie lebten, war karg. Ihre Eltern besaßen nur einen kleinen Hof, sie erwirtschafteten gerade genug für sich und ihre Kinder, für Notzeiten konnten sie nichts zurücklegen.

Anna war sieben Jahre alt und versorgte das Haus, schälte die Kartoffeln, heizte den Ofen in der Küche, damit die Mutter, wenn sie vom Feld heimkam, gleich das Essen zubereiten konnte. Peter war erst fünf, er versuchte, seiner Schwester zu helfen, wo er nur konnte, aber die Axt war zu schwer für ihn, er konnte kein Holz spalten, seine Finger waren ungeschickt, wenn er die Kartoffeln schälte, und die Mutter schimpfte abends, weil die Schalen nicht dünn genug waren, und als er versuchte, den Stubenboden zu scheuern, kippte er in seinem Eifer den Putzeimer um und Anna musste neues Wasser vom Brunnen holen. So sammelte er kleine Stöckchen im Wald, als Anmachholz, holte die Kartoffeln aus dem Keller und spielte mit seinem Stoffball, während Anna die Küche sauber machte. Dieses Jahr war die Ernte nach einem kalten und feuchten Frühjahr, das in einen außerordentlich heißen und trockenen Sommer überging, besonders gering ausgefallen. Schon früh waren die Vorräte aufgebraucht, die Familie ernährte sich von Wassersuppe und Bohnen. Zu Weihnachten konnte die Mutter nichts auf den Tisch bringen als für jeden zwei Saatkartoffeln. Anna wusste, was das bedeutete. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, als die Eltern den Nachbarn einen Besuch abstatteten, nahm sie ihr Brüderchen an der Hand und sagte, sie müssten jetzt fortgehen. Es war bitterkalt, sie zogen alle ihre Sachen an, das Hemd, den dünnen Pullover, den aus kratziger Wolle, ihre Mäntelchen, genäht aus Vaters altem Militärrock, die Mützchen und Handschuhe. Anna hatte für beide je einen Kanten Brot, einen Weihnachtsapfel und eine Handvoll Nüsse aus der Speisekammer geholt, diese Wegzehrung steckten sie in die Tasche und sie wanderten so weit, wie ihre kleinen Füße sie tragen konnten. Weit war das nicht. Als die Sonne hoch stand, trafen sie auf eine Quelle im Wald, dort machten sie Rast. Sie aßen die Hälfte ihres Brots, teilten sich einen Apfel und aßen jeder eine Nuss. Mit ihren Händen schöpften sie dazu Wasser, es sprudelte trotz des Frosts aus einem Sumpfloch, es roch leicht nach Schwefel und schmeckte nach Eisen. Die Kinder fühlten sich nach dem Essen und dem frischen Trunk gestärkt und getröstet. Sie gingen weiter, aber bald schon sank die Sonne und es wurde womöglich noch kälter. Sie sahen sich nach einem Platz zum Schlafen um. Vor ihnen senkte sich der Boden leicht, und in einer ovalen, flachen Senke, von vereinzelten Büschen gesäumt, entdeckten sie blühendes Heidekraut. Sie wunderten sich sehr und kamen neugierig näher. Sobald sie die runde Fläche betreten hatten, fühlten sie keine Kälte mehr. In der Mitte sahen sie eine Art Gebüsch. Als sie es beiseite schoben, entdeckten sie dort eine weich gepolsterte Kuhle, trockenes Moos bedeckte den Boden und es reichte sogar, sich damit zuzudecken. Sie aßen noch ein Stückchen Brot, eine Nuss und teilten ihren Apfel. Es war längst ganz finster geworden. Sie sprachen ein Gebet, kuschelten sich an einander und schliefen in Gottes Obhut ein.

Am nächsten Morgen sahen sie mit Erstaunen, dass dort, wo die Apfelkerne hingefallen waren, ein winziger Apfelbaum gewachsen war, mit roten, köstlich schmeckenden Früchten, und dort, wo sie die Nüsse gelagert hatten, stand ein weiterer kleiner Baum, übervoll mit reifen Nüssen. Auch schien ihnen, als sei ihr Kanten Brot wieder so groß wie in dem Augenblick, als sie ihn aus der Speisekammer geholt hatten. Nachdem sie von allem gekostet hatten, wollten sie zu der Quelle zurücklaufen, um dort ihr Frühstück einzunehmen. Sobald sie aber die mit Heidekraut bewachsene Fläche verlassen hatten, überfiel die Kälte sie wieder mit unverminderter Gewalt. So schöpften sie nur ein wenig Wasser und kehrten schnell an ihren zauberhaften Ort zurück. Das Wunder des Apfel- und des Nussbaums erneuerte sich jede Nacht, das Brot nahm nie ab und das Wasser erquickte sie jeden Tag von Neuem. Sie spielten fröhlich zwischen den Heidekrautbüscheln. An einer Stelle fanden sie sogar Heidelbeeren. Natürlich waren sie längst eingetrocknet, aber Peter hatte eine gute Idee. Gemeinsam höhlten sie mit Hilfe von Schiefersplittern, die sie auf dem Weg zur Quelle gefunden hatten, ein Stück Holz aus, so dass sie ein kleines Gefäß hatten. Darin holten sie Wasser, legten die Beeren hinein, und am Abend waren sie durch die Kraft des sprudelnden Wassers frisch und wohlschmeckend geworden. Es war wie im Märchen. An einer anderen Stelle war die Vegetationsschicht aufgebrochen, darunter fanden sie Erdbrocken, die sich leicht auseinanderbrechen ließen. Während ihres Spiels fanden sie in einem Brocken an der Bruchstelle eine Zeichnung, ganz wie ein kleines Ulmenblatt, etwa so lang wie Peters kleiner Finger. Das Blatt zeigte eine dunkle Mittelader und zarte Seitenadern und war am Rand fein gezackt. Das kleine Bild gefiel ihnen so gut, dass sie damit ihre Schlafstelle schmückten. In den nächsten Tagen brachen sie weitere Brocken mit Hilfe von Schiefersplittern auf. Tatsächlich fanden sie noch eine Zeichnung, etwas größer als das Blatt, ein Moospflänzchen, wie ein verkleinerter Busch, mit winzigen Ästchen, das so aussah, als wäre es der Schatten eines grünen, lebendigen Gewächses. Auch diesen Fund trugen sie zu ihrer Schlafstelle.

Sie waren so glücklich in ihrem Schutzraum, dass es ihnen kaum auffiel, wie die Tage verflogen. Kälte und Schneestürme und Regenschauern konnten ihnen nichts anhaben. Sie verließen ihr Refugium nur, um Wasser an der Quelle zu holen. Ihre Spielfreude hielt an. Sie brauchten nichts als eine Heideblume, ein Stöckchen, einen Stein und ihr Lachen. Sie erzählten sich jeden Abend eine Geschichte, beteten gemeinsam und fielen in einen tiefen, erholsamen Schlaf, und morgens wachten sie fröhlich auf.

Sie bemerkten kaum, wie die Zeit verging, aber ein Tag reihte sich an den anderen, und außerhalb des Kreises verging nach und nach der Winter. Die Sonne ging früher auf und später unter, das Wetter wurde langsam milder, und eines Tages, als sie zur Quelle gingen, schien die Sonne so warm, dass sie sich dort auf einen Stein setzten. Am nächsten Morgen ging die Sonne strahlend auf. Die Luft war noch kühl unter einem makellos blauen Himmel. Innerhalb und außerhalb ihres Kreises zeigten sich an den Büschen die ersten Knospen, die Luft war durchsichtig und klar, und von überall her hörten sie Vogelstimmen. Es war Ostern.

An diesem Tag suchten sie wieder nach Zeichnungen. Und Anna fand in einem unscheinbaren Erdklumpen, als sie ihn auseinanderbrach, eine Blüte zartester Schönheit. Im Stein zeichnete sich ein im Erblühen begriffener Kelch ab, gebildet aus fünf nach oben spitz zulaufenden Blättern, gehalten von einem kurzen Stil mit einem schmalen Vorblatt. Das Bild wirkte zerbrechlich und doch wie für die Ewigkeit in den Stein gebrannt. Anna brachte es am Kopfende ihrer Schlafstatt an und fand es so schön, dass sie es immer wieder anschauen musste.

Einige Tage später überzogen Frühjahrsgewitter das Land. Wie durch ein Wunder geschützt sahen die Kinder die Blitze, hörten das Grollen des Donners, sahen den Regen niederfallen, aber sie selbst blieben trocken und unversehrt. Sie lächelten sich an und verbrachten die Tage wie gewohnt mit Spielen und Erzählungen.

Als die Gewitter nach einigen Tagen verstummten und sie wieder an der Quelle in der Sonne sitzen konnten, ließen sie sich viel Zeit. Die Natur war auch außerhalb freundlich geworden, Grashalme waren von frischem Grün, die Schlehen und Weißdornbüsche waren von einer Wolke aus Blüten eingehüllt, auf dem Waldboden breitete sich der Sternenteppich der Anemonen aus und blassblaue Veilchen duckten sich am Wegrand in dicke Moospolster.

Plötzlich zeigte Peter aufgeregt mit seinem Finger auf eine weit entfernte Gestalt, die eilig in die Richtung ging, aus der die Kinder vor langer Zeit gekommen waren. Beide wurden beim Anblick einer menschlichen Gestalt von einer heftigen Sehnsucht erfasst. Sie waren innerlich ganz aufgewühlt, und Peter wollte sofort aufbrechen, zurück ins Dorf, heim zu Mutter und Vater. Anna hielt ihn zurück. „Komm, Peter, eine letzte Nacht schlafen wir noch einmal hier. Für heute ist der Tag bereits zu weit fortgeschritten. Wir wollen alles in Ordnung bringen, unsere bilder und Wegzehrung mitnehmen, und morgen, gleich nach Sonnenaufgang, machen wir uns auf den Weg." Sie nahm ihren Bruder wieder bei der Hand, nur widerwillig ließ er sich dorthin zurückfuhren, wo er so lange zufrieden gelebt hatte. Aber Anna hielt ihn fest, erzählte ihm von einem Fuchskind, das in den Bau zurückkehrte und sich dort wohl und aufgehoben fühlte. In dieser Nacht konnten sie das erste Mal, seit sie an ihrem wunderbaren Ort waren, kaum schlafen. Am nächsten Morgen erwachten beide ganz früh, lange vor Sonnenaufgang. Sie waren so aufgeregt, dass sie nichts essen konnten. Anna pflückte die Früchte und Nüsse alle, die an ihren kleinen Bäumen hingen, steckte den Rest Brot ein und drückte Peter das Ulmenblatt und das Moospflänzchen in die Hand, sie selber steckte den kleinen Blütenkelch ein. Bis zur Quelle rannten sie förmlich, dort tranken sie in großen Schlucken und ruhten sich eine kleine Weile aus. Kaum hatten die sich etwas erholt, machten sie sich wieder auf den Weg. Er kam ihnen viel kürzer vor als im Winter. Bald sahen sie die ersten Häuser und rannten, so schnell sie konnten, auf das kleinste Haus des Ortes zu, wo ihre Eltern wohnten. Die Eltern saßen still und bleich in der Stube. Sie hatten sich den ganzen Winter über das merkwürdige Verschwinden ihrer Kinder gegrämt, aber dadurch, das zwei Esser weniger im Haus waren, hatten sie knapp die große Hungersnot überlebt. Zuerst konnten sie es gar nicht glauben, dass ihre Kinder gesund und munter in der Stube erschienen. Erst als die beiden ihnen um den Hals fielen, merkten die Eltern, das wirklich Wesen aus Fleisch und Blut und keine Gespenster zu ihnen gekommen waren. Vor Glück und Erleichterung weinte und lachte die Mutter, der Vater blieb stumm, aber es ging ein Leuchten über sein Gesicht, wie die Kinder es noch nicht gesehen hatten. Die Kinder erzählten alles, was sie erlebt hatten und teilten die mitgebrachten Äpfel und Nüsse mit ihren Eltern. Das Ulmenblatt hängten sie in die Stube, Peter behielt das Moosbild und Anna ihren Blütenkelch. Es war, als beschützten die Märchensteine die Familie, denn von diesem Tag an mussten sie nie mehr Hunger leiden.