»JOSEPH SCHNEIDER, THE OLD FARMER FOUND DEAD«

Ingrid Schumacher, München

Er war sicher einer der Auswanderer aus dem Kreis Daun, um die sich bis heute Gerüchte und Legenden ranken: Joseph Schneider aus Rengen, der bei den Dorfbewohnern als der »ahle Jusep« bekannt ist.

Er war der Bruder meiner Urgroßmutter, am 17. September 1844 als jüngstes Kind des Matthias Xaverius Schneider geboren, in dem alten Kroh-Haus, das später einem Brand zum Opfer fiel. Sein 1826 geborener ältester Bruder Philipp war mit vielen anderen aus dem Kreis Daun in den Jahren 1846/1847 nach Amerika ausgewandert. Er war nicht in New York geblieben, sondern wie viele Eifler nach Chicago weiter gereist, aber nicht über den Michigan See nach Wisconsin, wohin sich auch manche wandten, die vorher in Illinois gewohnt hatten. Er war nach Indiana gegangen, vielleicht aus Angst vor einer Fieberkrankheit, die damals viele zur Flucht dorthin veranlasste.

In Indiana war es ihm gelungen, Land zu kaufen und in Lake Station, später East Gary, eine Farm zu gründen. Seine Tochter Lena starb dort am 23. November 1960. Das Totenamt wurde in St. Francis Xaverius in Portage, Indiana, gelesen, einer Kirche, die den Namen ihres Großvaters trug. Joseph Schneider, der ahle Jusep, war bekannt dafür, dass er immer wieder kam, meistens wie der Verlorene Sohn und oft zu spät. Er ging schon als junger Mann in die Niederlande »auf Arbeit«. Was genau er dort tat, wusste niemand so recht. In Rengen warb er Mädchen an, und besorgte ihnen Stellen in Opladen, Schlebusch und auf den bergischen Höfen.

Am 20. November 1870 starb seine Mutter. Er kam erst einen Tag nach der Beerdigung zu Hause an. Als sein Vater 1877 starb, kam er wieder zu spät. Da er wie so oft nicht auffindbar gewesen war, wurden seine Anteile an Haus und Hof mit verkauft. Er bekam zwar das Geld, hatte aber kein Heim mehr. Einige Jahre lebte er bei seiner Schwester Anna Maria, meiner Urgroßmutter, verrichtete Gelegenheitsarbeiten im Dorf und in der Umgebung. Von Zeit zu Zeit war er auch ohne Arbeit und begann zu trinken. Um das Jahr 1883 ging ein Herr Ernst aus Daun nach Nordamerika. Joseph schloss sich ihm an. Er fand Aufnahme bei seinem Bruder Philipp und dessen Familie. Es gibt noch Briefe Philipps, in denen er sich darüber beklagt, dass Joseph kein guter Arbeiter sei, weder auf der Farm noch bei der Eisenbahn, eine der häufigsten Arbeitsstellen im damaligen Amerika. Einmal wurden Philipp durch Josephs Unachtsamkeit mehrere Tiere überfahren.

So kam er also zurück nach Europa - nach Rengen zu seiner Schwester. Drei Jahre hielt er es aus, dann machte er sich erneut auf die Reise.

Das war erstaunlich, denn die Reiseberichte aus dieser Zeit klingen nicht verlockend. Wie die meisten ging auch Joseph in Antwerpen an Bord. Bei schlechtem Wetter konnte schon die Fahrt durch den Kanal 14 Tage dauern. Die Schiffe waren häufig überladen. Es gab nicht nur Seekrankheit, sondern auch Schlägereien und Diebstahl. Die Reise über den Atlantik konnte bis zu sieben Wochen dauern.

Auch diesmal scheint Joseph kein Glück in der Neuen Welt gehabt zu haben. In einem Brief wünschte Philipp, dass die Ländereien seines Bruders verkauft würden, da er ihm eine rechte Last sei. Das geschah auch und Joseph erhielt 100 Thaler von dem Geld, die er sofort benutzte, um wieder nach Europa zu fahren. Bald war er dann wieder da. Das restliche Geld gab er aus, um in Dockweiler mit seinen Freunden zu feiern und zu trinken, noch bevor er wieder zu seiner Schwester nach Rengen ging. Dort bekam er den Rest seines Geldes - und gab es innerhalb kürzester Zeit aus. Verdienen konnte er nichts, und so drängte die gesamte Gemeinde unaufhaltsam darauf, Joseph doch zu veranlassen, wieder nach Amerika zu gehen, da man nicht in der Lage sei, einen »Arbeitslosen« zu unterhalten. Inzwischen gab Josef sich alle Mühe, die Leute gegen sich einzunehmen. In einem Geschäft in Mayen, in dem meine Großmutter ihren Onkel wieder einmal »menschenwürdig« einkleiden wollte, gab er sich zu ihrem Entsetzen als ihren Bräutigam aus. Er habe auch - so erzählte sie - »immerzu Kwetsche jäß un de Karen in huhem Bojen op de Straß jespuckt«1. In Amerika mache man das so. Verständlicherweise blieb auch seine Werbung um die Tochter eines Bauern aus Dreis ohne Erfolg, obwohl er überall davon sprach, dass sie ihn demnächst heiraten und nach Amerika begleiten werde. Seine Nichte war die einzige Person, der er vertraute. Ihr sagte er auch, dass er immer ein Fläschchen bei sich trage, an einer Schnur auf der Brust. Wenn einmal »alles am Ende sei«, dann nähme er ein paar Tropfen.

1896 ist Joseph zum dritten Mal nach Amerika gereist - man hatte ihn auf irgendeine Weise »abgeschoben.« Sein Bruder Philipp nahm ihn auf. Auch dessen Kinder Lena und Margret gewährten ihm Heimatrecht, als ihr Vater 1900 starb. Mit Rengen blieb er noch längere Zeit in Verbindung. Einige seiner Briefe wurden lange aufbewahrt. Auch schickte er jede Woche eine amerikanische Zeitung. Inzwischen hatte sich seine Situation aber wohl verschlechtert. Er trank immer häufiger und immer mehr, wurde unfähig zu arbeiten. Er hat wohl die Aussichtslosigkeit seiner Lage selbst erkannt. Eines Morgens im Jahr 1907 verließ er die Farm und kam nicht wieder. Drei Wochen war er verschwunden. Dann fand man ihn tot im Wald. Die Leiche war schon von Tieren angefressen und der Kopf lag einige Meter vom Körper entfernt. Ein kirchliches Begräbnis wurde ihm verweigert. Zwei Menschen in Rengen glaubten, der ahle Jusep sei doch noch einmal nach Hause gekommen: seine jüngste Schwester Katharina und seine Nichte, das »Agnesmädchen« wie Josef sie genannt hatte. Katharina behauptete, sie habe ihn gesehen, als sie krank im Bett lag und angenommen, dass er wieder in Europa sei und sie besuchen wolle. Die Zeit stimmte mit dem mutmaßlichen Zeitpunkt seines Todes überein. Meine Großmutter war ihrer Sache sehr sicher. Als die Nachricht von dem tragischen Tod ihres Onkels sie schon erreicht hatte, glaubte sie, es stehe abends jemand hinter einem Schrank. Auch habe jemand so heftig am Stubenfenster gerüttelt, dass sie hinaus gegangen sei, um nachzusehen, wer so spät noch vorbeikomme. Was er ihr wohl mitteilen wollte, davon sagte sie nichts. Die amerikanische Zeitung, die Josef immer geschickt hatte, kam kurz nach dem Brief, der von seinem Tod berichtete.

»Joseph Schneider, the old farmer found dead«, eine Schlagzeile, hinter der sich das tragische Ende eines Eifeler Auswanderers verbirgt, der nirgendwo sein Glück oder auch nur Ruhe finden konnte.